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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

Das erstemal im Beginn unserer Zeitrechnung ging der große Kampf gegen
das römische Reich um die politische Freiheit der Nation, um das Bestehen
von Völkerindividuen überhaupt. Das zweitemal ging es um die Freiheit der
religiösen Überzeugung für die Einzelseele. Wenigstens dem Endziele nach ging
der Kampf darauf ans: dieser zweite Kampf ist freilich noch lange nicht zu
Ende gekämpft.

Es ist eine Wurzel, aus der diese beiden Bewegungen entspringen, die
man wohl die wichtigsten Ereignisse der nordeuropäischen Geschichte nennen
kann. "Deutschlands Geschichte ist, wie ich glaube, die Grundwurzel der
Geschichte Europas," schreibt Charles Kingsley, seinerzeit Professor der Geschichte
in Cambridge.

Die geistige Bewegung der Aufklärungszeit gehet auf die Anstöße der
Reformation zurück und wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Noch Voltaire
war sich dessen gelegentlich bewußt, daß, wie Victor Hugo in Notre Dame de
Paris es ausdrückt daß das achtzehnte Jahrhundert "das alte Schwert Luthers
als Waffe Voltaires" ergriffen habe.

Die europäische Kulturwelt hat zwei große Kulturepochen erlebt, die sich
zeitlich und örtlich und nach der anthropologischen Unterlage deutlich trennen
lassen; die antike, um das Mittelmeer gruppierte hellenistisch-römische Kultur
und die moderne, nachantike Kultur der nordeuropäischen, vorwiegend von
Nationen germanischer Sprache und Abstammung bewohnten Länder. Die
romanischen Völker können natürlich schon wegen der Sprache einen besonderen
Zusammenhang mit der Antike von sich behaupten. Aber das bedeutet keinen
Vorrang in der Kultur, denn die moderne Kultur, der auch diese romanischen
Völker angehören, ist nicht etwa nur eine Weiterbildung der antiken Kultur,
sondern etwas anderes, eine andere Kulturindividualität, nach ihrer Entstehung
wie nach ihrem heute erkennbaren Wesen.

Das Dogma vom klassischen Altertum lastet noch schwer auf uns. Daß
überhaupt, ohne an seiner Lächerlichkeit zu ersticken, das Wort von den deutschen
Barbaren fallen konnte, ist nur möglich gewesen durch dieses Dogma, das die
romanischen Nationen freilich zu pflegen Ursache haben, denn es ist die Grund¬
lage ihrer unbegründeten Überhebung.

Wenn die romanischen Völker um deswillen, weil sie eine Tochtersprache
der damals -- vor zweitausend Jahren -- höchstzivilisierten Nation sprechen,
sich für die eigentlichen Kulturnationen halten wollen, so ist wirklich nicht ein¬
zusehen, warum man nicht noch ein paar Jahrtausende weiter zurückgehen soll;
auf die älteren Mittelmeerkulturen, von denen wieder der Kern der Antike, die
griechische Kultur ihrerseits abstammt. Dann sind die Fellachen, als die Nach¬
kommen der alten Ägypter -- die sich übrigens tatsächlich den Römern gegen¬
über in ganz entsprechender Weise ihrer älteren Kultur rühmten -- und die
Bewohner der mesopotamisehen Ebene die eigentlichen Kulturträger; denn die
griechisch-römische Kultur hat von den älteren Mittelmeerkulturen, der mykenisch-


von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

Das erstemal im Beginn unserer Zeitrechnung ging der große Kampf gegen
das römische Reich um die politische Freiheit der Nation, um das Bestehen
von Völkerindividuen überhaupt. Das zweitemal ging es um die Freiheit der
religiösen Überzeugung für die Einzelseele. Wenigstens dem Endziele nach ging
der Kampf darauf ans: dieser zweite Kampf ist freilich noch lange nicht zu
Ende gekämpft.

Es ist eine Wurzel, aus der diese beiden Bewegungen entspringen, die
man wohl die wichtigsten Ereignisse der nordeuropäischen Geschichte nennen
kann. „Deutschlands Geschichte ist, wie ich glaube, die Grundwurzel der
Geschichte Europas," schreibt Charles Kingsley, seinerzeit Professor der Geschichte
in Cambridge.

Die geistige Bewegung der Aufklärungszeit gehet auf die Anstöße der
Reformation zurück und wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Noch Voltaire
war sich dessen gelegentlich bewußt, daß, wie Victor Hugo in Notre Dame de
Paris es ausdrückt daß das achtzehnte Jahrhundert „das alte Schwert Luthers
als Waffe Voltaires" ergriffen habe.

Die europäische Kulturwelt hat zwei große Kulturepochen erlebt, die sich
zeitlich und örtlich und nach der anthropologischen Unterlage deutlich trennen
lassen; die antike, um das Mittelmeer gruppierte hellenistisch-römische Kultur
und die moderne, nachantike Kultur der nordeuropäischen, vorwiegend von
Nationen germanischer Sprache und Abstammung bewohnten Länder. Die
romanischen Völker können natürlich schon wegen der Sprache einen besonderen
Zusammenhang mit der Antike von sich behaupten. Aber das bedeutet keinen
Vorrang in der Kultur, denn die moderne Kultur, der auch diese romanischen
Völker angehören, ist nicht etwa nur eine Weiterbildung der antiken Kultur,
sondern etwas anderes, eine andere Kulturindividualität, nach ihrer Entstehung
wie nach ihrem heute erkennbaren Wesen.

Das Dogma vom klassischen Altertum lastet noch schwer auf uns. Daß
überhaupt, ohne an seiner Lächerlichkeit zu ersticken, das Wort von den deutschen
Barbaren fallen konnte, ist nur möglich gewesen durch dieses Dogma, das die
romanischen Nationen freilich zu pflegen Ursache haben, denn es ist die Grund¬
lage ihrer unbegründeten Überhebung.

Wenn die romanischen Völker um deswillen, weil sie eine Tochtersprache
der damals — vor zweitausend Jahren — höchstzivilisierten Nation sprechen,
sich für die eigentlichen Kulturnationen halten wollen, so ist wirklich nicht ein¬
zusehen, warum man nicht noch ein paar Jahrtausende weiter zurückgehen soll;
auf die älteren Mittelmeerkulturen, von denen wieder der Kern der Antike, die
griechische Kultur ihrerseits abstammt. Dann sind die Fellachen, als die Nach¬
kommen der alten Ägypter — die sich übrigens tatsächlich den Römern gegen¬
über in ganz entsprechender Weise ihrer älteren Kultur rühmten — und die
Bewohner der mesopotamisehen Ebene die eigentlichen Kulturträger; denn die
griechisch-römische Kultur hat von den älteren Mittelmeerkulturen, der mykenisch-


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[0282] von deutscher Kultur und deutscher Freiheit Das erstemal im Beginn unserer Zeitrechnung ging der große Kampf gegen das römische Reich um die politische Freiheit der Nation, um das Bestehen von Völkerindividuen überhaupt. Das zweitemal ging es um die Freiheit der religiösen Überzeugung für die Einzelseele. Wenigstens dem Endziele nach ging der Kampf darauf ans: dieser zweite Kampf ist freilich noch lange nicht zu Ende gekämpft. Es ist eine Wurzel, aus der diese beiden Bewegungen entspringen, die man wohl die wichtigsten Ereignisse der nordeuropäischen Geschichte nennen kann. „Deutschlands Geschichte ist, wie ich glaube, die Grundwurzel der Geschichte Europas," schreibt Charles Kingsley, seinerzeit Professor der Geschichte in Cambridge. Die geistige Bewegung der Aufklärungszeit gehet auf die Anstöße der Reformation zurück und wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Noch Voltaire war sich dessen gelegentlich bewußt, daß, wie Victor Hugo in Notre Dame de Paris es ausdrückt daß das achtzehnte Jahrhundert „das alte Schwert Luthers als Waffe Voltaires" ergriffen habe. Die europäische Kulturwelt hat zwei große Kulturepochen erlebt, die sich zeitlich und örtlich und nach der anthropologischen Unterlage deutlich trennen lassen; die antike, um das Mittelmeer gruppierte hellenistisch-römische Kultur und die moderne, nachantike Kultur der nordeuropäischen, vorwiegend von Nationen germanischer Sprache und Abstammung bewohnten Länder. Die romanischen Völker können natürlich schon wegen der Sprache einen besonderen Zusammenhang mit der Antike von sich behaupten. Aber das bedeutet keinen Vorrang in der Kultur, denn die moderne Kultur, der auch diese romanischen Völker angehören, ist nicht etwa nur eine Weiterbildung der antiken Kultur, sondern etwas anderes, eine andere Kulturindividualität, nach ihrer Entstehung wie nach ihrem heute erkennbaren Wesen. Das Dogma vom klassischen Altertum lastet noch schwer auf uns. Daß überhaupt, ohne an seiner Lächerlichkeit zu ersticken, das Wort von den deutschen Barbaren fallen konnte, ist nur möglich gewesen durch dieses Dogma, das die romanischen Nationen freilich zu pflegen Ursache haben, denn es ist die Grund¬ lage ihrer unbegründeten Überhebung. Wenn die romanischen Völker um deswillen, weil sie eine Tochtersprache der damals — vor zweitausend Jahren — höchstzivilisierten Nation sprechen, sich für die eigentlichen Kulturnationen halten wollen, so ist wirklich nicht ein¬ zusehen, warum man nicht noch ein paar Jahrtausende weiter zurückgehen soll; auf die älteren Mittelmeerkulturen, von denen wieder der Kern der Antike, die griechische Kultur ihrerseits abstammt. Dann sind die Fellachen, als die Nach¬ kommen der alten Ägypter — die sich übrigens tatsächlich den Römern gegen¬ über in ganz entsprechender Weise ihrer älteren Kultur rühmten — und die Bewohner der mesopotamisehen Ebene die eigentlichen Kulturträger; denn die griechisch-römische Kultur hat von den älteren Mittelmeerkulturen, der mykenisch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/282>, abgerufen am 22.07.2024.