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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Der preis für Italiens Neutralität

bestanden darauf, daß Italiens Einheit nicht eher vollständig wäre, als bis alle
Italiener unter der Herrschaft des Hauses Savoyen vereinigt seien.

Die Sprache wurde zum schiedsrichterlichen Prüfstein gemacht, aber selbst
dieser Prüfstein, der natürlich falsch ist, wurde nicht streng und logisch angewandt.
Die Jrredentisten verlangten die Einverleibung von Südtirol einschließlich
Trsntino und des ganzen Gebietes südlich des Gipfels des Brenner Passes mit
stark deutscher Bevölkerung; ferner das ganze österreichische Küstenland mit
Fiume mit großenteils deutscher und slawischer Bevölkerung; den Schweizer
Kanton Ticino, sowie Nizza, Corsika und Malta. Eine Verwirklichung der
irredentistischen Bestrebungen hätte natürlich Krieg bedeutet, und zwar nicht nur
mit Osterreich, sondern auch mit der Schweiz, mit Frankreich und England.

Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt, als Menotti Garibaldi, einer
von Giuseppe Garibaldis unruhestiftenden Söhnen, in einer Massenversammlung
den Vorsitz führte, die den Zweck hatte, Freiwillige für den Einmarsch in
Trentino auszuheben. Der Premierminister Cairoli konnte ohne Mühe die
beabsichtigte Freibeuterexpedition unterdrücken, und als die Bewegung in
republikanische, sozialistische und anarchistische Hände geriet, gelang es Depretis
ohne Schwierigkeit, sie in ihre Grenzen zu weisen. Als 1881 Frankreich Tunis
in Besitz nahm, auf das Italien seine begehrlichen Augen geworfen hatte, und
als dann infolgedessen Italien sich dem Dreibund anschloß, da erschlaffte die
Jrredentistenbewegung und starb bei der Entdeckung der Verschwörung des
Jrredentisten Oberdank gegen den Kaiser von Österreich (1882) fast ganz aus.
Der neue Ausbruch des Jrredentismus hat in den letzten Jahren stattgefunden.
Die Italiener, die immer von einer Großmacht geträumt hatten, glaubten, daß
1912 ihr Traum durch die Eroberung von Tripolis ganz verwirklicht worden
wäre. Indem sie übersahen, daß wirtschaftliche Festigkeit die einzige Grundlage
ist, auf der eine Großmacht bestehen kann, vergaßen sie die Tatsache, daß
Italien erst kürzlich zahlungsfähig geworden war und zogen den Schluß, daß
sie die politisch Gleichberechtigten aller Großmächte seien.

Dieses Gefühl der nationalen Selbstüberhebung führte zu dem allgemeinen
Wunsch nach staatlicher Vergrößerung und rief die sogenannte "Nationalisten¬
bewegung" ins Dasein. Die Nationalisten waren, zu Anfang wenigstens, in
ihrem Programm sehr gründlich. Sie erörterten allen Ernstes die Frage, den
italienischen Königstitel zu verwandeln in den Titel "Römischer Kaiser" und
sahen mit bestimmter Erwartung der Zeit entgegen, da alle Küsten des
Mittelmeeres italienisch und das Mittelmeer selbst ein italienischer Binnensee sein
würden. Der Dreibund hatte "an dem Ringe festgehalten", als Italien die
Türkei bekämpfte, und daher waren die Nationalisten für den Augenblick
wenigstens bereit, das irredentische Italien in Ruhe zu lassen. Außerdem
hätte dieses das herrliche Gebäude ihrer Hoffnungen nicht befriedigen können.

Der Ausbruch des Krieges im letzten Sommer veränderte vollkommen den
nationalistischen Standpunkt von Italiens zukünftiger Weltgröße und machte sie


Der preis für Italiens Neutralität

bestanden darauf, daß Italiens Einheit nicht eher vollständig wäre, als bis alle
Italiener unter der Herrschaft des Hauses Savoyen vereinigt seien.

Die Sprache wurde zum schiedsrichterlichen Prüfstein gemacht, aber selbst
dieser Prüfstein, der natürlich falsch ist, wurde nicht streng und logisch angewandt.
Die Jrredentisten verlangten die Einverleibung von Südtirol einschließlich
Trsntino und des ganzen Gebietes südlich des Gipfels des Brenner Passes mit
stark deutscher Bevölkerung; ferner das ganze österreichische Küstenland mit
Fiume mit großenteils deutscher und slawischer Bevölkerung; den Schweizer
Kanton Ticino, sowie Nizza, Corsika und Malta. Eine Verwirklichung der
irredentistischen Bestrebungen hätte natürlich Krieg bedeutet, und zwar nicht nur
mit Osterreich, sondern auch mit der Schweiz, mit Frankreich und England.

Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt, als Menotti Garibaldi, einer
von Giuseppe Garibaldis unruhestiftenden Söhnen, in einer Massenversammlung
den Vorsitz führte, die den Zweck hatte, Freiwillige für den Einmarsch in
Trentino auszuheben. Der Premierminister Cairoli konnte ohne Mühe die
beabsichtigte Freibeuterexpedition unterdrücken, und als die Bewegung in
republikanische, sozialistische und anarchistische Hände geriet, gelang es Depretis
ohne Schwierigkeit, sie in ihre Grenzen zu weisen. Als 1881 Frankreich Tunis
in Besitz nahm, auf das Italien seine begehrlichen Augen geworfen hatte, und
als dann infolgedessen Italien sich dem Dreibund anschloß, da erschlaffte die
Jrredentistenbewegung und starb bei der Entdeckung der Verschwörung des
Jrredentisten Oberdank gegen den Kaiser von Österreich (1882) fast ganz aus.
Der neue Ausbruch des Jrredentismus hat in den letzten Jahren stattgefunden.
Die Italiener, die immer von einer Großmacht geträumt hatten, glaubten, daß
1912 ihr Traum durch die Eroberung von Tripolis ganz verwirklicht worden
wäre. Indem sie übersahen, daß wirtschaftliche Festigkeit die einzige Grundlage
ist, auf der eine Großmacht bestehen kann, vergaßen sie die Tatsache, daß
Italien erst kürzlich zahlungsfähig geworden war und zogen den Schluß, daß
sie die politisch Gleichberechtigten aller Großmächte seien.

Dieses Gefühl der nationalen Selbstüberhebung führte zu dem allgemeinen
Wunsch nach staatlicher Vergrößerung und rief die sogenannte „Nationalisten¬
bewegung" ins Dasein. Die Nationalisten waren, zu Anfang wenigstens, in
ihrem Programm sehr gründlich. Sie erörterten allen Ernstes die Frage, den
italienischen Königstitel zu verwandeln in den Titel „Römischer Kaiser" und
sahen mit bestimmter Erwartung der Zeit entgegen, da alle Küsten des
Mittelmeeres italienisch und das Mittelmeer selbst ein italienischer Binnensee sein
würden. Der Dreibund hatte „an dem Ringe festgehalten", als Italien die
Türkei bekämpfte, und daher waren die Nationalisten für den Augenblick
wenigstens bereit, das irredentische Italien in Ruhe zu lassen. Außerdem
hätte dieses das herrliche Gebäude ihrer Hoffnungen nicht befriedigen können.

Der Ausbruch des Krieges im letzten Sommer veränderte vollkommen den
nationalistischen Standpunkt von Italiens zukünftiger Weltgröße und machte sie


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[0270] Der preis für Italiens Neutralität bestanden darauf, daß Italiens Einheit nicht eher vollständig wäre, als bis alle Italiener unter der Herrschaft des Hauses Savoyen vereinigt seien. Die Sprache wurde zum schiedsrichterlichen Prüfstein gemacht, aber selbst dieser Prüfstein, der natürlich falsch ist, wurde nicht streng und logisch angewandt. Die Jrredentisten verlangten die Einverleibung von Südtirol einschließlich Trsntino und des ganzen Gebietes südlich des Gipfels des Brenner Passes mit stark deutscher Bevölkerung; ferner das ganze österreichische Küstenland mit Fiume mit großenteils deutscher und slawischer Bevölkerung; den Schweizer Kanton Ticino, sowie Nizza, Corsika und Malta. Eine Verwirklichung der irredentistischen Bestrebungen hätte natürlich Krieg bedeutet, und zwar nicht nur mit Osterreich, sondern auch mit der Schweiz, mit Frankreich und England. Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt, als Menotti Garibaldi, einer von Giuseppe Garibaldis unruhestiftenden Söhnen, in einer Massenversammlung den Vorsitz führte, die den Zweck hatte, Freiwillige für den Einmarsch in Trentino auszuheben. Der Premierminister Cairoli konnte ohne Mühe die beabsichtigte Freibeuterexpedition unterdrücken, und als die Bewegung in republikanische, sozialistische und anarchistische Hände geriet, gelang es Depretis ohne Schwierigkeit, sie in ihre Grenzen zu weisen. Als 1881 Frankreich Tunis in Besitz nahm, auf das Italien seine begehrlichen Augen geworfen hatte, und als dann infolgedessen Italien sich dem Dreibund anschloß, da erschlaffte die Jrredentistenbewegung und starb bei der Entdeckung der Verschwörung des Jrredentisten Oberdank gegen den Kaiser von Österreich (1882) fast ganz aus. Der neue Ausbruch des Jrredentismus hat in den letzten Jahren stattgefunden. Die Italiener, die immer von einer Großmacht geträumt hatten, glaubten, daß 1912 ihr Traum durch die Eroberung von Tripolis ganz verwirklicht worden wäre. Indem sie übersahen, daß wirtschaftliche Festigkeit die einzige Grundlage ist, auf der eine Großmacht bestehen kann, vergaßen sie die Tatsache, daß Italien erst kürzlich zahlungsfähig geworden war und zogen den Schluß, daß sie die politisch Gleichberechtigten aller Großmächte seien. Dieses Gefühl der nationalen Selbstüberhebung führte zu dem allgemeinen Wunsch nach staatlicher Vergrößerung und rief die sogenannte „Nationalisten¬ bewegung" ins Dasein. Die Nationalisten waren, zu Anfang wenigstens, in ihrem Programm sehr gründlich. Sie erörterten allen Ernstes die Frage, den italienischen Königstitel zu verwandeln in den Titel „Römischer Kaiser" und sahen mit bestimmter Erwartung der Zeit entgegen, da alle Küsten des Mittelmeeres italienisch und das Mittelmeer selbst ein italienischer Binnensee sein würden. Der Dreibund hatte „an dem Ringe festgehalten", als Italien die Türkei bekämpfte, und daher waren die Nationalisten für den Augenblick wenigstens bereit, das irredentische Italien in Ruhe zu lassen. Außerdem hätte dieses das herrliche Gebäude ihrer Hoffnungen nicht befriedigen können. Der Ausbruch des Krieges im letzten Sommer veränderte vollkommen den nationalistischen Standpunkt von Italiens zukünftiger Weltgröße und machte sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/270>, abgerufen am 22.07.2024.