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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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vom unbekannten Geibel

Er gelangte zur Ruhe; aber nicht bloß zur Ruhe. Er kam nach München
nicht als Privatmann, sondern berufen als offizieller Vertreter großer deutscher
Kunst, als Lehrer an der Universität, als Freund des Königs. Er gehörte sich
nicht restlos selbst an, er sollte und mußte repräsentieren, ein Leben der
Form führen. Was ihm Ideal gewesen war, die Form, hier wuchs er hinein
und wurde so zum Repräsentanten der Form in jedem Sinne. Und so war
die Form auf einmal kein bloßes Ideal mehr, sie wurde Erlebnis, das Erlebnis,
das den späten Geibel ausmacht.

Doch die Form will Inhalt, wenn sie nicht leer werden soll. Woher aber
sollte Geibel, der jetzt weniger denn je die Gegenwart sinnlich ergreifen konnte
-- die Schönheit der süddeutschen Natur blieb ihm verschlossen -- den Inhalt
nehmen? Da waren es, wie einst in Griechenland die Erinnerung an die
Heimat Gestalt in ihm gewann, jetzt jene Erlebnisse, die in ihrer Gesamt¬
stimmung dem sorglosen glänzenden Leben, das er in München führte, am
meisten ähnelten: die seines griechischen Aufenthaltes. Aus ihnen erwuchsen die
"Erinnerungen an Griechenland". Es sind lyrisch gefärbte Landschaftsbilder;
aber sie sind weder mit Reflexion durchwachsen oder durch historische Reminiszenzen
gefärbt wie bei Platen, noch aus lebendig aber einzeln erfaßten Detail zu¬
sammengesetzt wie bei der Droste, noch liegt über ihnen der feine nordische
Seeluftton der Stormschen Lyrik. Es sind durchweg Fernbilder, wie die deutschen
Italien-Landschaften der Jahrhundertmitte, mit wenigem schlagendem Detail
von typischer Beleuchtung in scharfem Sonnenlicht unter einem weithin sich
dehnenden Himmel und vor einem weitgestreckten Horizont. Es ist weniger
Traum in ihnen, weniger Empfindung als ein "wortlos Schauen, tief und klar";
das tiefe sorglose Glücksgefühl, wie es den Nordländer erfaßt, der sich zum
erstenmal dem Eindruck der klaren, sonnigen Weite südlicher Landschaft hingibt.

Das ist keine Epigonenpoesie mehr, das ist eigenes Gewächs. Und daß es das
war, beweist Geibels unbestrittene Autorität im Münchener Dichterkreis.
Niemals hätten die größtenteils Neues erstrebenden Jüngeren einem bloßen
Epigonen eine solche Stellung zugestanden.

Es kann nicht die Rede davon sein, hier, auf beschränktem Raum das
gesamte spätere Schaffen des Dichters einer eingehenden Analyse zu unter¬
ziehen. Die angeführten "Erinnerungen" mögen als typisches und mahnendes
Beispiel genügen. Nur von einer gleichfalls viel zu wenig gekannten Gruppe
muß noch die Rede sein: von den Vaterlandsliedern. Wir Deutschen sind uns,
nach unserer Weise, unser Bestes allzu gering einzuschätzen, kaum bewußt, was
wir an diesen krafterfüllten Liedern für einen wertvollen Schatz besitzen. Hätten
Franzosen oder Engländer desgleichen, wir würden Proben davon in jedem


vom unbekannten Geibel

Er gelangte zur Ruhe; aber nicht bloß zur Ruhe. Er kam nach München
nicht als Privatmann, sondern berufen als offizieller Vertreter großer deutscher
Kunst, als Lehrer an der Universität, als Freund des Königs. Er gehörte sich
nicht restlos selbst an, er sollte und mußte repräsentieren, ein Leben der
Form führen. Was ihm Ideal gewesen war, die Form, hier wuchs er hinein
und wurde so zum Repräsentanten der Form in jedem Sinne. Und so war
die Form auf einmal kein bloßes Ideal mehr, sie wurde Erlebnis, das Erlebnis,
das den späten Geibel ausmacht.

Doch die Form will Inhalt, wenn sie nicht leer werden soll. Woher aber
sollte Geibel, der jetzt weniger denn je die Gegenwart sinnlich ergreifen konnte
— die Schönheit der süddeutschen Natur blieb ihm verschlossen — den Inhalt
nehmen? Da waren es, wie einst in Griechenland die Erinnerung an die
Heimat Gestalt in ihm gewann, jetzt jene Erlebnisse, die in ihrer Gesamt¬
stimmung dem sorglosen glänzenden Leben, das er in München führte, am
meisten ähnelten: die seines griechischen Aufenthaltes. Aus ihnen erwuchsen die
„Erinnerungen an Griechenland". Es sind lyrisch gefärbte Landschaftsbilder;
aber sie sind weder mit Reflexion durchwachsen oder durch historische Reminiszenzen
gefärbt wie bei Platen, noch aus lebendig aber einzeln erfaßten Detail zu¬
sammengesetzt wie bei der Droste, noch liegt über ihnen der feine nordische
Seeluftton der Stormschen Lyrik. Es sind durchweg Fernbilder, wie die deutschen
Italien-Landschaften der Jahrhundertmitte, mit wenigem schlagendem Detail
von typischer Beleuchtung in scharfem Sonnenlicht unter einem weithin sich
dehnenden Himmel und vor einem weitgestreckten Horizont. Es ist weniger
Traum in ihnen, weniger Empfindung als ein „wortlos Schauen, tief und klar";
das tiefe sorglose Glücksgefühl, wie es den Nordländer erfaßt, der sich zum
erstenmal dem Eindruck der klaren, sonnigen Weite südlicher Landschaft hingibt.

Das ist keine Epigonenpoesie mehr, das ist eigenes Gewächs. Und daß es das
war, beweist Geibels unbestrittene Autorität im Münchener Dichterkreis.
Niemals hätten die größtenteils Neues erstrebenden Jüngeren einem bloßen
Epigonen eine solche Stellung zugestanden.

Es kann nicht die Rede davon sein, hier, auf beschränktem Raum das
gesamte spätere Schaffen des Dichters einer eingehenden Analyse zu unter¬
ziehen. Die angeführten „Erinnerungen" mögen als typisches und mahnendes
Beispiel genügen. Nur von einer gleichfalls viel zu wenig gekannten Gruppe
muß noch die Rede sein: von den Vaterlandsliedern. Wir Deutschen sind uns,
nach unserer Weise, unser Bestes allzu gering einzuschätzen, kaum bewußt, was
wir an diesen krafterfüllten Liedern für einen wertvollen Schatz besitzen. Hätten
Franzosen oder Engländer desgleichen, wir würden Proben davon in jedem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/264>, abgerufen am 22.07.2024.