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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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vom unbekannten Geibel

einen neuen "fülligen" Band durch Beigabe von älteren oder mehr oder weniger
gelungenen Überarbeitungen von älteren Gedichten auf den nötigen Umfang zu
bringen. So hat er selbst, das Publikum, wie die Kritik täuschend, die Resultate
seines ernsten, stetigen Strebens verwischt.

Und was die Enthusiasten nicht zu würdigen verstanden, wie hätte es die
-seit Ende der achtziger Jahre gegen den Gefeierten einsetzende Opposition kennen
sollen? War es doch gerade der auf Kosten von Mörike und Storm, Hebbel
und der Droste übermäßig geschätzte Verfasser der "Gedichte" und "Juniuslieder",
den es anzugreifen galt, die übrigen Bände, die in weitere Kreise kaum gewirkt
hatten, ließ man unzcrzaust, zum mindesten ließ man sich, begreiflicherweise
durch die Lektüre der früheren Bände ermüdet und enttäuscht, durch Geisels
Verwischungsverfahren irreführen. Und so ist es gekommen, daß man noch
heute von einem unbekannten Geibel sprechen kann.

Das ist keine ausgedachte Konstruktion. Jeder Leser kann die Probe gleich
an sich selbst machen. Wir alle haben Vätern und Tanten mit Recht opponiert,
wenn man, wie es selbst Goedeke tat, das aus lauter blasser Reflexion zu¬
sammengesetzte "Minnelied" lobte, aber wie wenige kennen auch jenes feine kleine
Porträtgedicht "Die Braut" (aus den "Neuen Gedichten"), vor dem freilich
Mörikes "Verlassenes Mägdlein" die anschauliche Situation voraus hat, das
aber sonst an Zartheit der Psychologie und überzeugender Einfachheit in deutscher
Lyrik unübertroffen dasteht. Wir alle kennen jenen öldruckhaften "Zigeunerbuben
im Norden", aber wie selten hört man ein Wort über das dritte und fünfte
Stück der "Erinnerungen aus Griechenland". Und so ließen sich noch eine
große Reihe von Gedichten Geibels anführen, die sämtlich zu wertvoll find,
um vergessen zu werden"). Von diesen und ihrem Dichter soll hier die Rede sein.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst dessen Werdegang. Oft genug hat
man den jungen Geibel grollend einen farblosen Musterknaben genannt, was
im ganzen der Wahrheit durchaus entspricht, ohne daß es, wie man gewollt
hat. seine künstlerische Begabung in Frage stellen mußte. Schon früh aber
treten an dem Musterjüngling, dessen schöne und wohlgeformte Briefe (erschienen
bei Karl Curtius, Berlin, übrigens eine wahre Mustersammlung, die jeder
sekundärer besitzen sollte) Goedekes Biographie zugrunde lagen, zwei Charakter¬
züge als auffällig hervor: der Drang in die Ferne, nach dem Süden, und die
festgewurzelte Liebe zur Heimat. Diese echt deutsche Vereinigung zweier scheinbar
unvereinbarer Charakterzüge ist bei Geibel nur dadurch zu erklären, daß er
kein Gegenwartsmensch war. Er sehnte sich oder schaute zurück, weshalb auch
in seiner Liebeslyrik die Erwartung oder die Klage um den Verlust die Aus¬
sprache glücklichen Besitzes bei weitem überwiegt. Er sehnte sich oder schaute
zurück, aber, wenn auch mit lyrischer Klage, ohne jede Zerissenheit. Vom



*) Man findet sie in der von mir herausgegebenen, kürzlich bei Hesse und Becker,
Leipzig, erschienenen Auswahl aus Geibels Werken.
vom unbekannten Geibel

einen neuen „fülligen" Band durch Beigabe von älteren oder mehr oder weniger
gelungenen Überarbeitungen von älteren Gedichten auf den nötigen Umfang zu
bringen. So hat er selbst, das Publikum, wie die Kritik täuschend, die Resultate
seines ernsten, stetigen Strebens verwischt.

Und was die Enthusiasten nicht zu würdigen verstanden, wie hätte es die
-seit Ende der achtziger Jahre gegen den Gefeierten einsetzende Opposition kennen
sollen? War es doch gerade der auf Kosten von Mörike und Storm, Hebbel
und der Droste übermäßig geschätzte Verfasser der „Gedichte" und „Juniuslieder",
den es anzugreifen galt, die übrigen Bände, die in weitere Kreise kaum gewirkt
hatten, ließ man unzcrzaust, zum mindesten ließ man sich, begreiflicherweise
durch die Lektüre der früheren Bände ermüdet und enttäuscht, durch Geisels
Verwischungsverfahren irreführen. Und so ist es gekommen, daß man noch
heute von einem unbekannten Geibel sprechen kann.

Das ist keine ausgedachte Konstruktion. Jeder Leser kann die Probe gleich
an sich selbst machen. Wir alle haben Vätern und Tanten mit Recht opponiert,
wenn man, wie es selbst Goedeke tat, das aus lauter blasser Reflexion zu¬
sammengesetzte „Minnelied" lobte, aber wie wenige kennen auch jenes feine kleine
Porträtgedicht „Die Braut" (aus den „Neuen Gedichten"), vor dem freilich
Mörikes „Verlassenes Mägdlein" die anschauliche Situation voraus hat, das
aber sonst an Zartheit der Psychologie und überzeugender Einfachheit in deutscher
Lyrik unübertroffen dasteht. Wir alle kennen jenen öldruckhaften „Zigeunerbuben
im Norden", aber wie selten hört man ein Wort über das dritte und fünfte
Stück der „Erinnerungen aus Griechenland". Und so ließen sich noch eine
große Reihe von Gedichten Geibels anführen, die sämtlich zu wertvoll find,
um vergessen zu werden"). Von diesen und ihrem Dichter soll hier die Rede sein.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst dessen Werdegang. Oft genug hat
man den jungen Geibel grollend einen farblosen Musterknaben genannt, was
im ganzen der Wahrheit durchaus entspricht, ohne daß es, wie man gewollt
hat. seine künstlerische Begabung in Frage stellen mußte. Schon früh aber
treten an dem Musterjüngling, dessen schöne und wohlgeformte Briefe (erschienen
bei Karl Curtius, Berlin, übrigens eine wahre Mustersammlung, die jeder
sekundärer besitzen sollte) Goedekes Biographie zugrunde lagen, zwei Charakter¬
züge als auffällig hervor: der Drang in die Ferne, nach dem Süden, und die
festgewurzelte Liebe zur Heimat. Diese echt deutsche Vereinigung zweier scheinbar
unvereinbarer Charakterzüge ist bei Geibel nur dadurch zu erklären, daß er
kein Gegenwartsmensch war. Er sehnte sich oder schaute zurück, weshalb auch
in seiner Liebeslyrik die Erwartung oder die Klage um den Verlust die Aus¬
sprache glücklichen Besitzes bei weitem überwiegt. Er sehnte sich oder schaute
zurück, aber, wenn auch mit lyrischer Klage, ohne jede Zerissenheit. Vom



*) Man findet sie in der von mir herausgegebenen, kürzlich bei Hesse und Becker,
Leipzig, erschienenen Auswahl aus Geibels Werken.
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[0261] vom unbekannten Geibel einen neuen „fülligen" Band durch Beigabe von älteren oder mehr oder weniger gelungenen Überarbeitungen von älteren Gedichten auf den nötigen Umfang zu bringen. So hat er selbst, das Publikum, wie die Kritik täuschend, die Resultate seines ernsten, stetigen Strebens verwischt. Und was die Enthusiasten nicht zu würdigen verstanden, wie hätte es die -seit Ende der achtziger Jahre gegen den Gefeierten einsetzende Opposition kennen sollen? War es doch gerade der auf Kosten von Mörike und Storm, Hebbel und der Droste übermäßig geschätzte Verfasser der „Gedichte" und „Juniuslieder", den es anzugreifen galt, die übrigen Bände, die in weitere Kreise kaum gewirkt hatten, ließ man unzcrzaust, zum mindesten ließ man sich, begreiflicherweise durch die Lektüre der früheren Bände ermüdet und enttäuscht, durch Geisels Verwischungsverfahren irreführen. Und so ist es gekommen, daß man noch heute von einem unbekannten Geibel sprechen kann. Das ist keine ausgedachte Konstruktion. Jeder Leser kann die Probe gleich an sich selbst machen. Wir alle haben Vätern und Tanten mit Recht opponiert, wenn man, wie es selbst Goedeke tat, das aus lauter blasser Reflexion zu¬ sammengesetzte „Minnelied" lobte, aber wie wenige kennen auch jenes feine kleine Porträtgedicht „Die Braut" (aus den „Neuen Gedichten"), vor dem freilich Mörikes „Verlassenes Mägdlein" die anschauliche Situation voraus hat, das aber sonst an Zartheit der Psychologie und überzeugender Einfachheit in deutscher Lyrik unübertroffen dasteht. Wir alle kennen jenen öldruckhaften „Zigeunerbuben im Norden", aber wie selten hört man ein Wort über das dritte und fünfte Stück der „Erinnerungen aus Griechenland". Und so ließen sich noch eine große Reihe von Gedichten Geibels anführen, die sämtlich zu wertvoll find, um vergessen zu werden"). Von diesen und ihrem Dichter soll hier die Rede sein. Vergegenwärtigen wir uns zunächst dessen Werdegang. Oft genug hat man den jungen Geibel grollend einen farblosen Musterknaben genannt, was im ganzen der Wahrheit durchaus entspricht, ohne daß es, wie man gewollt hat. seine künstlerische Begabung in Frage stellen mußte. Schon früh aber treten an dem Musterjüngling, dessen schöne und wohlgeformte Briefe (erschienen bei Karl Curtius, Berlin, übrigens eine wahre Mustersammlung, die jeder sekundärer besitzen sollte) Goedekes Biographie zugrunde lagen, zwei Charakter¬ züge als auffällig hervor: der Drang in die Ferne, nach dem Süden, und die festgewurzelte Liebe zur Heimat. Diese echt deutsche Vereinigung zweier scheinbar unvereinbarer Charakterzüge ist bei Geibel nur dadurch zu erklären, daß er kein Gegenwartsmensch war. Er sehnte sich oder schaute zurück, weshalb auch in seiner Liebeslyrik die Erwartung oder die Klage um den Verlust die Aus¬ sprache glücklichen Besitzes bei weitem überwiegt. Er sehnte sich oder schaute zurück, aber, wenn auch mit lyrischer Klage, ohne jede Zerissenheit. Vom *) Man findet sie in der von mir herausgegebenen, kürzlich bei Hesse und Becker, Leipzig, erschienenen Auswahl aus Geibels Werken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/261>, abgerufen am 22.07.2024.