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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Auch nicht durch das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten.
Beides sind Theorien, aufgestellt, um ohnmächtiger Opposition einen wissenschaft¬
lichen Mantel umzuhängen. Der Staat, der an die Entscheidung der Waffen
appelliert, -- einerlei in welcher Form das geschehen mag -- hat damit seine
Selbstbestimmung ihrem Spruche ausgeliefert. Dem einzelnen, den es betrifft,
verschafft die Freizügigkeit die Möglichkeit, sich staatlicher Neuordnung zu
entziehen. Materielle Gesichtspunkte können dabei gegenüber der Tatsache, daß
jeder Krieg so viele wirtschaftliche Werte und Existenzen vernichtet, nicht in
Betracht kommen. Außerdem ist der Einsatz im Kriege nicht das Schicksal der
einzelnen, sondern die Staatshoheit, die Territorialgewalt. Die Menschenrechte
ber einzelnen, soweit man in diesem Zusammenhange überhaupt von solchen
reden kann, werden durch den Übergang der Landeshoheit nicht berührt, die
heute allgemein anerkannten Persönlichkeitsrechte dürfen selbstverständlich nicht
angetastet werden.

"Gerade die neueren Staaten sind viel weniger als die alten an die
Nationalität gebunden und auf sie beschränkt, sie haben an derselben wohl ihre
natürliche Grundlage, aber die Mischung der Stämme in den heutigen Kultur¬
ländern, die außerordentliche Steigerung und Erleichterung des Verkehrs, der
Universalismus unserer Religion, der Kosmopolitismus unserer Bildung haben
die Ausschließlichkeit der alten Nationalstaaten gesprengt und die Möglichkeit
geschaffen, daß Angehörige verschiedener Stämme und Sprachgebiete gleichberechtigt
in einem Staate zusammenwohnen und als Bürger dieses Staates sich wohl
fühlen." schreibt Zeller im Jahre 1870. Das gilt heute noch genau so gut,
vielleicht mehr sogar wie damals.

Der Krieg ist heute noch nicht ein durch fortschreitende Gesittung in dem alten
Europa überwundener historischer Begriff geworden. Er wird wohl kaum aus
der Welt verschwinden; einstweilen ist er sicherlich riesenhafter, blutiger und
allgemeiner geworden denn je zuvor. Die rücksichtslose Ausnutzung aller staat¬
licher Machtmittel und der Volkskraft bis auf den letzten Mann ist sein Zeichen.
Es stehen sich zwei Völkergruppen gegenüber, von denen die eine sich rastlos
bemüht, auch die nicht unmittelbar Beteiligten mehr und mehr als ausschlag¬
gebenden Kraftzuwachs an sich heranzuziehen und dabei auch mit theoretischen
Werde- und Schlagworten nicht geizt. Später bei der auf den Krieg folgenden
Neugruppierung -- wie sie auch sei, -- werden sich bald wieder neue Interessen
gegenüberstehen. Unvereinbare Gegensätze werden über kurz oder lang stets
wieder entstehen und durch das Geschehene belehrt, werden ihre Vertreter eine
ungeheure Werbetätigkeit entfalten, um sich künftige Siege zu sichern. Schon
jetzt sehen wir die Erscheinung, daß gemeinsame Ziele Völker verschiedenster
Abstammung wenigstens zeitweise geeint haben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß
dies in Zukunft noch mehr der Fall sein wird; daß dann große gemeinsame
Ideen und Zwecke den Gesichtspunkt der Nationalität noch mehr überwinden
oder doch zurücktreten lassen werden. Militärisch-politische Gründe erfordern


Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Auch nicht durch das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten.
Beides sind Theorien, aufgestellt, um ohnmächtiger Opposition einen wissenschaft¬
lichen Mantel umzuhängen. Der Staat, der an die Entscheidung der Waffen
appelliert, — einerlei in welcher Form das geschehen mag — hat damit seine
Selbstbestimmung ihrem Spruche ausgeliefert. Dem einzelnen, den es betrifft,
verschafft die Freizügigkeit die Möglichkeit, sich staatlicher Neuordnung zu
entziehen. Materielle Gesichtspunkte können dabei gegenüber der Tatsache, daß
jeder Krieg so viele wirtschaftliche Werte und Existenzen vernichtet, nicht in
Betracht kommen. Außerdem ist der Einsatz im Kriege nicht das Schicksal der
einzelnen, sondern die Staatshoheit, die Territorialgewalt. Die Menschenrechte
ber einzelnen, soweit man in diesem Zusammenhange überhaupt von solchen
reden kann, werden durch den Übergang der Landeshoheit nicht berührt, die
heute allgemein anerkannten Persönlichkeitsrechte dürfen selbstverständlich nicht
angetastet werden.

„Gerade die neueren Staaten sind viel weniger als die alten an die
Nationalität gebunden und auf sie beschränkt, sie haben an derselben wohl ihre
natürliche Grundlage, aber die Mischung der Stämme in den heutigen Kultur¬
ländern, die außerordentliche Steigerung und Erleichterung des Verkehrs, der
Universalismus unserer Religion, der Kosmopolitismus unserer Bildung haben
die Ausschließlichkeit der alten Nationalstaaten gesprengt und die Möglichkeit
geschaffen, daß Angehörige verschiedener Stämme und Sprachgebiete gleichberechtigt
in einem Staate zusammenwohnen und als Bürger dieses Staates sich wohl
fühlen." schreibt Zeller im Jahre 1870. Das gilt heute noch genau so gut,
vielleicht mehr sogar wie damals.

Der Krieg ist heute noch nicht ein durch fortschreitende Gesittung in dem alten
Europa überwundener historischer Begriff geworden. Er wird wohl kaum aus
der Welt verschwinden; einstweilen ist er sicherlich riesenhafter, blutiger und
allgemeiner geworden denn je zuvor. Die rücksichtslose Ausnutzung aller staat¬
licher Machtmittel und der Volkskraft bis auf den letzten Mann ist sein Zeichen.
Es stehen sich zwei Völkergruppen gegenüber, von denen die eine sich rastlos
bemüht, auch die nicht unmittelbar Beteiligten mehr und mehr als ausschlag¬
gebenden Kraftzuwachs an sich heranzuziehen und dabei auch mit theoretischen
Werde- und Schlagworten nicht geizt. Später bei der auf den Krieg folgenden
Neugruppierung — wie sie auch sei, — werden sich bald wieder neue Interessen
gegenüberstehen. Unvereinbare Gegensätze werden über kurz oder lang stets
wieder entstehen und durch das Geschehene belehrt, werden ihre Vertreter eine
ungeheure Werbetätigkeit entfalten, um sich künftige Siege zu sichern. Schon
jetzt sehen wir die Erscheinung, daß gemeinsame Ziele Völker verschiedenster
Abstammung wenigstens zeitweise geeint haben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß
dies in Zukunft noch mehr der Fall sein wird; daß dann große gemeinsame
Ideen und Zwecke den Gesichtspunkt der Nationalität noch mehr überwinden
oder doch zurücktreten lassen werden. Militärisch-politische Gründe erfordern


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[0149] Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats Auch nicht durch das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten. Beides sind Theorien, aufgestellt, um ohnmächtiger Opposition einen wissenschaft¬ lichen Mantel umzuhängen. Der Staat, der an die Entscheidung der Waffen appelliert, — einerlei in welcher Form das geschehen mag — hat damit seine Selbstbestimmung ihrem Spruche ausgeliefert. Dem einzelnen, den es betrifft, verschafft die Freizügigkeit die Möglichkeit, sich staatlicher Neuordnung zu entziehen. Materielle Gesichtspunkte können dabei gegenüber der Tatsache, daß jeder Krieg so viele wirtschaftliche Werte und Existenzen vernichtet, nicht in Betracht kommen. Außerdem ist der Einsatz im Kriege nicht das Schicksal der einzelnen, sondern die Staatshoheit, die Territorialgewalt. Die Menschenrechte ber einzelnen, soweit man in diesem Zusammenhange überhaupt von solchen reden kann, werden durch den Übergang der Landeshoheit nicht berührt, die heute allgemein anerkannten Persönlichkeitsrechte dürfen selbstverständlich nicht angetastet werden. „Gerade die neueren Staaten sind viel weniger als die alten an die Nationalität gebunden und auf sie beschränkt, sie haben an derselben wohl ihre natürliche Grundlage, aber die Mischung der Stämme in den heutigen Kultur¬ ländern, die außerordentliche Steigerung und Erleichterung des Verkehrs, der Universalismus unserer Religion, der Kosmopolitismus unserer Bildung haben die Ausschließlichkeit der alten Nationalstaaten gesprengt und die Möglichkeit geschaffen, daß Angehörige verschiedener Stämme und Sprachgebiete gleichberechtigt in einem Staate zusammenwohnen und als Bürger dieses Staates sich wohl fühlen." schreibt Zeller im Jahre 1870. Das gilt heute noch genau so gut, vielleicht mehr sogar wie damals. Der Krieg ist heute noch nicht ein durch fortschreitende Gesittung in dem alten Europa überwundener historischer Begriff geworden. Er wird wohl kaum aus der Welt verschwinden; einstweilen ist er sicherlich riesenhafter, blutiger und allgemeiner geworden denn je zuvor. Die rücksichtslose Ausnutzung aller staat¬ licher Machtmittel und der Volkskraft bis auf den letzten Mann ist sein Zeichen. Es stehen sich zwei Völkergruppen gegenüber, von denen die eine sich rastlos bemüht, auch die nicht unmittelbar Beteiligten mehr und mehr als ausschlag¬ gebenden Kraftzuwachs an sich heranzuziehen und dabei auch mit theoretischen Werde- und Schlagworten nicht geizt. Später bei der auf den Krieg folgenden Neugruppierung — wie sie auch sei, — werden sich bald wieder neue Interessen gegenüberstehen. Unvereinbare Gegensätze werden über kurz oder lang stets wieder entstehen und durch das Geschehene belehrt, werden ihre Vertreter eine ungeheure Werbetätigkeit entfalten, um sich künftige Siege zu sichern. Schon jetzt sehen wir die Erscheinung, daß gemeinsame Ziele Völker verschiedenster Abstammung wenigstens zeitweise geeint haben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dies in Zukunft noch mehr der Fall sein wird; daß dann große gemeinsame Ideen und Zwecke den Gesichtspunkt der Nationalität noch mehr überwinden oder doch zurücktreten lassen werden. Militärisch-politische Gründe erfordern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/149>, abgerufen am 22.07.2024.