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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

daß es sich für viele nicht um die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte,
sondern um politische Macht- und Interessenfragen handelt. Aufgeworfen und
verfochten oft von solchen, die in der Heranziehung und Vereinigung mit ab¬
getrennten und versprengten Volksteilen ein Mittel zur Stärkung, eigenen
Gewichts- und Einflußzuwachs erstrebten. Auch da, wo es sich um Unab¬
hängigkeitsbestrebungen angeblich unterjochter Völker handelt, ist der leitende
Gedanke bei den Führern der Bewegung oft persönlicher Ehrgeiz und Eigennutz,
anderseits oft auch in Fällen, in denen an der Lauterkeit der Motive nicht zu
zweifeln ist, kritikloser Idealismus gewesen, der eher kulturfeindlich als kultur¬
fördernd zu wirken imstande war.

Gerade die Politik Napoleons des Dritten, des meistgenannten Verfechters
des Nationalitätsprinzips, ist eher geeignet den Glauben an die Durchführbarkeit
des Prinzips zu erschüttern als ihn zu stützen. Hier mag eine kurze und
treffende Wertung angeführt sein, die ein Engländer, W. Morton Fullerton, mit
echt englischem Sinne für realpolitische Geschichtsauffassung in dieser Hinsicht
über Napoleon den Dritten fällt: "Napoleon der Dritte war ein Idealist;
sein leidenschaftliches Verlangen für den moäus vivenäi der Verträge von 1813
einen wissenschaftlicheren und logischeren Zustand der internationalen Beziehungen
zu schaffen, mit einem Wort die Landkarte von Europa durch Gruppierung
der Völker nach Rasse und sprachlicher Verwandtschaft zu revidieren, war eine
der doktrinärsten Begriffsverwirrungen, die je ein klares französisches Hirn um¬
nebelte. Es war eine ihrem Wesen nach ebenso unfranzösische, als von fran¬
zösischem Jnteressenstandpunkt aus antinationale Politik. Die Grundlage dieser
Politik war metaphysische Einbildung und nicht der greifbare Stoff von
Tatsachen und Umständen. Und bei dieser fanatischen Hingabe an das
Nationalprinziff war der Erfolg seiner Politik die Ironie, daß er Frankreich
selbst vergaß. Er war so ausschließlich mit den Leiden der Polen, Italiener,
Ungarn beschäftigt, daß er darüber die wirklichen Interessen Frankreichs übersah."

Diese herbe, aber zutreffende Kritik des Engländers gibt ein richtiges
Urteil des praktisch denkenden Politikers über die falsche Anwendung anfecht¬
barer Prinzipien. Sie zeigt den Wert -- oder vielmehr den Unwert -- den
eine Theorie bei ihrer grundsätzlichen Verwendung durch einen maßgebenden
Staatsmann gewinnen kann, der den Blick für die Tatsachen verliert und sie
Aber die objektive Abwägung dessen stellt, was seinem Lande von Vorteil oder
Nachteil ist.

Gewiß ist, daß die Einheit des Blutes und der Sprache einen der stärksten
Faktoren für die innere Geschlossenheit und Kraft eines Staatswesens darstellt.
Ebenso gewiß kann aber sein, daß sie nicht der einzige und unter allen Um¬
ständen allein gültige ist.

Das, was den inneren Zusammenhalt eines Staates vor allem ausmacht,
ist das Staatsbewußtsein, der Wille der einzelnen sich als Glieder des Staat-


Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

daß es sich für viele nicht um die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte,
sondern um politische Macht- und Interessenfragen handelt. Aufgeworfen und
verfochten oft von solchen, die in der Heranziehung und Vereinigung mit ab¬
getrennten und versprengten Volksteilen ein Mittel zur Stärkung, eigenen
Gewichts- und Einflußzuwachs erstrebten. Auch da, wo es sich um Unab¬
hängigkeitsbestrebungen angeblich unterjochter Völker handelt, ist der leitende
Gedanke bei den Führern der Bewegung oft persönlicher Ehrgeiz und Eigennutz,
anderseits oft auch in Fällen, in denen an der Lauterkeit der Motive nicht zu
zweifeln ist, kritikloser Idealismus gewesen, der eher kulturfeindlich als kultur¬
fördernd zu wirken imstande war.

Gerade die Politik Napoleons des Dritten, des meistgenannten Verfechters
des Nationalitätsprinzips, ist eher geeignet den Glauben an die Durchführbarkeit
des Prinzips zu erschüttern als ihn zu stützen. Hier mag eine kurze und
treffende Wertung angeführt sein, die ein Engländer, W. Morton Fullerton, mit
echt englischem Sinne für realpolitische Geschichtsauffassung in dieser Hinsicht
über Napoleon den Dritten fällt: „Napoleon der Dritte war ein Idealist;
sein leidenschaftliches Verlangen für den moäus vivenäi der Verträge von 1813
einen wissenschaftlicheren und logischeren Zustand der internationalen Beziehungen
zu schaffen, mit einem Wort die Landkarte von Europa durch Gruppierung
der Völker nach Rasse und sprachlicher Verwandtschaft zu revidieren, war eine
der doktrinärsten Begriffsverwirrungen, die je ein klares französisches Hirn um¬
nebelte. Es war eine ihrem Wesen nach ebenso unfranzösische, als von fran¬
zösischem Jnteressenstandpunkt aus antinationale Politik. Die Grundlage dieser
Politik war metaphysische Einbildung und nicht der greifbare Stoff von
Tatsachen und Umständen. Und bei dieser fanatischen Hingabe an das
Nationalprinziff war der Erfolg seiner Politik die Ironie, daß er Frankreich
selbst vergaß. Er war so ausschließlich mit den Leiden der Polen, Italiener,
Ungarn beschäftigt, daß er darüber die wirklichen Interessen Frankreichs übersah."

Diese herbe, aber zutreffende Kritik des Engländers gibt ein richtiges
Urteil des praktisch denkenden Politikers über die falsche Anwendung anfecht¬
barer Prinzipien. Sie zeigt den Wert — oder vielmehr den Unwert — den
eine Theorie bei ihrer grundsätzlichen Verwendung durch einen maßgebenden
Staatsmann gewinnen kann, der den Blick für die Tatsachen verliert und sie
Aber die objektive Abwägung dessen stellt, was seinem Lande von Vorteil oder
Nachteil ist.

Gewiß ist, daß die Einheit des Blutes und der Sprache einen der stärksten
Faktoren für die innere Geschlossenheit und Kraft eines Staatswesens darstellt.
Ebenso gewiß kann aber sein, daß sie nicht der einzige und unter allen Um¬
ständen allein gültige ist.

Das, was den inneren Zusammenhalt eines Staates vor allem ausmacht,
ist das Staatsbewußtsein, der Wille der einzelnen sich als Glieder des Staat-


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[0145] Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats daß es sich für viele nicht um die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte, sondern um politische Macht- und Interessenfragen handelt. Aufgeworfen und verfochten oft von solchen, die in der Heranziehung und Vereinigung mit ab¬ getrennten und versprengten Volksteilen ein Mittel zur Stärkung, eigenen Gewichts- und Einflußzuwachs erstrebten. Auch da, wo es sich um Unab¬ hängigkeitsbestrebungen angeblich unterjochter Völker handelt, ist der leitende Gedanke bei den Führern der Bewegung oft persönlicher Ehrgeiz und Eigennutz, anderseits oft auch in Fällen, in denen an der Lauterkeit der Motive nicht zu zweifeln ist, kritikloser Idealismus gewesen, der eher kulturfeindlich als kultur¬ fördernd zu wirken imstande war. Gerade die Politik Napoleons des Dritten, des meistgenannten Verfechters des Nationalitätsprinzips, ist eher geeignet den Glauben an die Durchführbarkeit des Prinzips zu erschüttern als ihn zu stützen. Hier mag eine kurze und treffende Wertung angeführt sein, die ein Engländer, W. Morton Fullerton, mit echt englischem Sinne für realpolitische Geschichtsauffassung in dieser Hinsicht über Napoleon den Dritten fällt: „Napoleon der Dritte war ein Idealist; sein leidenschaftliches Verlangen für den moäus vivenäi der Verträge von 1813 einen wissenschaftlicheren und logischeren Zustand der internationalen Beziehungen zu schaffen, mit einem Wort die Landkarte von Europa durch Gruppierung der Völker nach Rasse und sprachlicher Verwandtschaft zu revidieren, war eine der doktrinärsten Begriffsverwirrungen, die je ein klares französisches Hirn um¬ nebelte. Es war eine ihrem Wesen nach ebenso unfranzösische, als von fran¬ zösischem Jnteressenstandpunkt aus antinationale Politik. Die Grundlage dieser Politik war metaphysische Einbildung und nicht der greifbare Stoff von Tatsachen und Umständen. Und bei dieser fanatischen Hingabe an das Nationalprinziff war der Erfolg seiner Politik die Ironie, daß er Frankreich selbst vergaß. Er war so ausschließlich mit den Leiden der Polen, Italiener, Ungarn beschäftigt, daß er darüber die wirklichen Interessen Frankreichs übersah." Diese herbe, aber zutreffende Kritik des Engländers gibt ein richtiges Urteil des praktisch denkenden Politikers über die falsche Anwendung anfecht¬ barer Prinzipien. Sie zeigt den Wert — oder vielmehr den Unwert — den eine Theorie bei ihrer grundsätzlichen Verwendung durch einen maßgebenden Staatsmann gewinnen kann, der den Blick für die Tatsachen verliert und sie Aber die objektive Abwägung dessen stellt, was seinem Lande von Vorteil oder Nachteil ist. Gewiß ist, daß die Einheit des Blutes und der Sprache einen der stärksten Faktoren für die innere Geschlossenheit und Kraft eines Staatswesens darstellt. Ebenso gewiß kann aber sein, daß sie nicht der einzige und unter allen Um¬ ständen allein gültige ist. Das, was den inneren Zusammenhalt eines Staates vor allem ausmacht, ist das Staatsbewußtsein, der Wille der einzelnen sich als Glieder des Staat-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/145>, abgerufen am 22.07.2024.