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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

und, noch hierüber hinausgehend, bei der Entscheidung über die äußeren Schick¬
sale des Staates zustehen soll, so soll ihnen in ähnlicher Weise, der inneren
Freiheit entsprechend, als blutsverwandten Gliedern einer Nation das Recht
der Bestimmung der äußeren, in der Staatsform sich kundgebenden Selbst-
ständigkeit zugehören. "National selbständig gewordene Völker haben daK
natürliche Bestreben, das errungene Selbstbestimmungsrecht auch darin zum
Ausdruck zu bringen, daß sie sich den übrigen Nationen gegenüber staatlich
als eine Einheit darstellen und ihre nationale Eigenart zum einheitlichen staat¬
lichen Ausdruck bringen."

Für alle diese verschiedenen Momente in der Entwicklung des Nationalitäts¬
prinzips mangelt es nicht an Beispielen in der Geschichte. Nationale Einheits-
bestrebungen finden wir in deutschen, italienischen, polnischen, griechischen,
rumänischen und zahlreichen anderen Freiheits- und Einheitsbewegungen.
Sonderbarerweise wird das Prinzip vielfach mit der Person Napoleons des
Dritten verknüpft. Dieser ist allerdings, wenn auch nicht der Schöpfer der
Idee, so doch einer ihrer eifrigsten Vorkämpfer gewesen, und hat auch das
Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich anerkannt, zum Beispiel durch die Vornahme
von Volksabstimmungen bei der Angliederung neuer Gebietsteile, wie von
Nizza und Savoyen an Frankreich im Jahre 1860.

Dazu ist zu bemerken, daß es sich hier allerdings weniger um ein Selbst¬
bestimmungsrecht in nationalem Sinne handelt, als vielmehr um ein Recht der
Einwohner bestimmter staatlicher Gebietsteile, beruhend lediglich auf der Grund¬
lage territorialen Zusammenlebens.

Überhaupt stößt man in den Fällen, in denen die genannten Prinzipien
in die Praxis übersetzt worden sind, häufig auf gewisse innere Widersprüche.
Sind doch auch die eifrigsten Verfechter des Nationalitätsprinzips zum Beispiel
in Polen und im Elsaß vielfach solche, die ihrer Abstammung nach keineswegs zum
Blute der Nation gehören, deren angebliche Rechte sie so leidenschaftlich vertreten.

Theoretisch ist man nun nicht beim Nationalitätsprinzip stehen geblieben. Je
nachdem man den Gesichtspunkt der Rassengemeinschaft als der Blutsverwandt¬
schaft im weitesten Sinne in den Vordergrund schob (Panslawismus), oder
Sprachzusammenhänge umfassendster Art damit verband (Panlatinismus),
oder Kultur- und Religionsbande besonders betonte (Panislamismus), ist
eine Fortbildung und Erweiterung des Nationalitätsprinzips erfolgt. Endlich
hat sich in Opposition zu diesen Prinzipien das Streben nach großen
internationalen Interessengemeinschaften zur Wahrung wirtschaftlicher und
politischer Ziele und Anschauungen hauptsächlich innerhalb der Arbeiterschaft
(internationale Sozialdemokratie) geltend gemacht.

Schon hieraus ergibt sich, daß das Nationalitätsprinzip kein allgemein an¬
erkanntes ist.

Und gerade in diesen Fortbildungen zeigt sich mehr noch als dies schon
bei der früheren praktischen Anwendung des Nationalitätsprinzips der Fall war^


Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

und, noch hierüber hinausgehend, bei der Entscheidung über die äußeren Schick¬
sale des Staates zustehen soll, so soll ihnen in ähnlicher Weise, der inneren
Freiheit entsprechend, als blutsverwandten Gliedern einer Nation das Recht
der Bestimmung der äußeren, in der Staatsform sich kundgebenden Selbst-
ständigkeit zugehören. „National selbständig gewordene Völker haben daK
natürliche Bestreben, das errungene Selbstbestimmungsrecht auch darin zum
Ausdruck zu bringen, daß sie sich den übrigen Nationen gegenüber staatlich
als eine Einheit darstellen und ihre nationale Eigenart zum einheitlichen staat¬
lichen Ausdruck bringen."

Für alle diese verschiedenen Momente in der Entwicklung des Nationalitäts¬
prinzips mangelt es nicht an Beispielen in der Geschichte. Nationale Einheits-
bestrebungen finden wir in deutschen, italienischen, polnischen, griechischen,
rumänischen und zahlreichen anderen Freiheits- und Einheitsbewegungen.
Sonderbarerweise wird das Prinzip vielfach mit der Person Napoleons des
Dritten verknüpft. Dieser ist allerdings, wenn auch nicht der Schöpfer der
Idee, so doch einer ihrer eifrigsten Vorkämpfer gewesen, und hat auch das
Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich anerkannt, zum Beispiel durch die Vornahme
von Volksabstimmungen bei der Angliederung neuer Gebietsteile, wie von
Nizza und Savoyen an Frankreich im Jahre 1860.

Dazu ist zu bemerken, daß es sich hier allerdings weniger um ein Selbst¬
bestimmungsrecht in nationalem Sinne handelt, als vielmehr um ein Recht der
Einwohner bestimmter staatlicher Gebietsteile, beruhend lediglich auf der Grund¬
lage territorialen Zusammenlebens.

Überhaupt stößt man in den Fällen, in denen die genannten Prinzipien
in die Praxis übersetzt worden sind, häufig auf gewisse innere Widersprüche.
Sind doch auch die eifrigsten Verfechter des Nationalitätsprinzips zum Beispiel
in Polen und im Elsaß vielfach solche, die ihrer Abstammung nach keineswegs zum
Blute der Nation gehören, deren angebliche Rechte sie so leidenschaftlich vertreten.

Theoretisch ist man nun nicht beim Nationalitätsprinzip stehen geblieben. Je
nachdem man den Gesichtspunkt der Rassengemeinschaft als der Blutsverwandt¬
schaft im weitesten Sinne in den Vordergrund schob (Panslawismus), oder
Sprachzusammenhänge umfassendster Art damit verband (Panlatinismus),
oder Kultur- und Religionsbande besonders betonte (Panislamismus), ist
eine Fortbildung und Erweiterung des Nationalitätsprinzips erfolgt. Endlich
hat sich in Opposition zu diesen Prinzipien das Streben nach großen
internationalen Interessengemeinschaften zur Wahrung wirtschaftlicher und
politischer Ziele und Anschauungen hauptsächlich innerhalb der Arbeiterschaft
(internationale Sozialdemokratie) geltend gemacht.

Schon hieraus ergibt sich, daß das Nationalitätsprinzip kein allgemein an¬
erkanntes ist.

Und gerade in diesen Fortbildungen zeigt sich mehr noch als dies schon
bei der früheren praktischen Anwendung des Nationalitätsprinzips der Fall war^


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[0144] Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats und, noch hierüber hinausgehend, bei der Entscheidung über die äußeren Schick¬ sale des Staates zustehen soll, so soll ihnen in ähnlicher Weise, der inneren Freiheit entsprechend, als blutsverwandten Gliedern einer Nation das Recht der Bestimmung der äußeren, in der Staatsform sich kundgebenden Selbst- ständigkeit zugehören. „National selbständig gewordene Völker haben daK natürliche Bestreben, das errungene Selbstbestimmungsrecht auch darin zum Ausdruck zu bringen, daß sie sich den übrigen Nationen gegenüber staatlich als eine Einheit darstellen und ihre nationale Eigenart zum einheitlichen staat¬ lichen Ausdruck bringen." Für alle diese verschiedenen Momente in der Entwicklung des Nationalitäts¬ prinzips mangelt es nicht an Beispielen in der Geschichte. Nationale Einheits- bestrebungen finden wir in deutschen, italienischen, polnischen, griechischen, rumänischen und zahlreichen anderen Freiheits- und Einheitsbewegungen. Sonderbarerweise wird das Prinzip vielfach mit der Person Napoleons des Dritten verknüpft. Dieser ist allerdings, wenn auch nicht der Schöpfer der Idee, so doch einer ihrer eifrigsten Vorkämpfer gewesen, und hat auch das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich anerkannt, zum Beispiel durch die Vornahme von Volksabstimmungen bei der Angliederung neuer Gebietsteile, wie von Nizza und Savoyen an Frankreich im Jahre 1860. Dazu ist zu bemerken, daß es sich hier allerdings weniger um ein Selbst¬ bestimmungsrecht in nationalem Sinne handelt, als vielmehr um ein Recht der Einwohner bestimmter staatlicher Gebietsteile, beruhend lediglich auf der Grund¬ lage territorialen Zusammenlebens. Überhaupt stößt man in den Fällen, in denen die genannten Prinzipien in die Praxis übersetzt worden sind, häufig auf gewisse innere Widersprüche. Sind doch auch die eifrigsten Verfechter des Nationalitätsprinzips zum Beispiel in Polen und im Elsaß vielfach solche, die ihrer Abstammung nach keineswegs zum Blute der Nation gehören, deren angebliche Rechte sie so leidenschaftlich vertreten. Theoretisch ist man nun nicht beim Nationalitätsprinzip stehen geblieben. Je nachdem man den Gesichtspunkt der Rassengemeinschaft als der Blutsverwandt¬ schaft im weitesten Sinne in den Vordergrund schob (Panslawismus), oder Sprachzusammenhänge umfassendster Art damit verband (Panlatinismus), oder Kultur- und Religionsbande besonders betonte (Panislamismus), ist eine Fortbildung und Erweiterung des Nationalitätsprinzips erfolgt. Endlich hat sich in Opposition zu diesen Prinzipien das Streben nach großen internationalen Interessengemeinschaften zur Wahrung wirtschaftlicher und politischer Ziele und Anschauungen hauptsächlich innerhalb der Arbeiterschaft (internationale Sozialdemokratie) geltend gemacht. Schon hieraus ergibt sich, daß das Nationalitätsprinzip kein allgemein an¬ erkanntes ist. Und gerade in diesen Fortbildungen zeigt sich mehr noch als dies schon bei der früheren praktischen Anwendung des Nationalitätsprinzips der Fall war^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/144>, abgerufen am 22.07.2024.