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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur neueren Goethe-Literatur

Menschheit, für die Humanität das Größte leisten könne, der König oder der
Adel, das Volk oder der dämonische Held, der große Einzelne. Absichten sind
das alles, die im Egmont stecken, noch mehr im Zwiespalt zwischen dem
Egmont von 1772 bis 1775 und dem von 1787, Blütenträume, die nicht
reiften, oder doch nicht im Egmont. Es ist sonst nicht die Art meiner Kritik,
vom Birnenbaum Kirschen zu fordern, vom Verfasser die Lösung meiner
Probleme zu erwarten. Dennoch mußte ich hier die Beschaffenheit des Egmont-
problems nach meiner Auffassung dartun, wenn meine Behauptung, Kleiber
habe sich vergriffen, als er die bereits gelöste Frage der sittlichen Entfaltung
Egmonts in die Mitte gerückt, nicht in der Luft hängen bleiben sollte.

Eine ganz besondere Art von Goethebüchern, die ich als technisch-wissen¬
schaftliche Leistungen bezeichnen möchte, werden immer zahlreicher. Ausgaben,
Zusammenstellungen von Goethestellen (von und über ihn) unter den ver¬
schiedensten Gesichtspunkten gehören hierher. Diese Veröffentlichungen find vou
recht verschiedenem Wert, ja man kann über die grundsätzliche Berechtigung
mancher von ihnen sehr verschiedener Meinung sein.

Die im Verlag der Ratsbuchhandlung C. Bamberg in Greifswald erschienene
Doktordissertation von Oskar Kanehl: "Der junge Goethe im Urteile
des jungen Deutschland" nimmt eine Zwischenstellung ein: sie ist nicht ganz
technisch und nicht ganz gestaltend, erfüllt aber mit tüchtiger und verläßlicher
Arbeit die Orientierung, die der Titel verspricht.

Der Wert eines technisch-wissenschaftlichen Werkes, wie Hans Gerh.
Graff nun bis zum zweiten Band (1. Hälfte) des dritten Teiles gediehenen:
"Goethe über seine Dichtungen" (Frankfurt a. M., 1914, Rütten u. Loening),
ist für den Goetheforscher unschätzbar. Die Verläßlichkeit und die vortreffliche
Einordnung des ungeheuren Materials hat längst jede Kritik erübrigt und wir
sehen dies vortreffliche Nachschlagewerk überall angewendet.

Zu den wertvollsten technischen Leistungen der Goetheforschung gehören selbst¬
redend dieAusgaben. Da können wir die Unternehmung vonProf. von der Leyen,
die weniger zugänglichen kleineren Briefgruppen aus dem ungeheueren Goethescher
Bricfschatzin Einzelbauten herauszugeben, nur mit der lebhaftesten Freude begrüßen.
Was als erste Probe, als augenblickliche Verwirklichung des großzügigen Planes
geboten ist, entspricht auch durchaus den Erwartungen, die wir an die Person des
Herausgebers zu stellen gewohnt sind. Es liegt vor: "Goethe und seine Zeit¬
genossen." Herausgegeben von Prof. von der Leyen: "Goethe, Kestner
und Lotte." Herausgegeben von Dr. Eduard Verend. (Verlag Steinicke u.
Lehmkuhl, München.) Das geschmackvoll schlicht ausgestattete, übrigens nicht gerade
billige Bändchen -- es kostet 3 Mark -- vereinigt Briefe Goethes und Äußerungen
über ihn aus der Wertherzeit. Wie sehr gerade diese Dokumente uns die ent¬
scheidende, wenn auch vorübergehende Seelenlage des Dichters offenbaren, ist
allbekannt, und es war trotz des mannigfaltigen bisherigen Abdrucks nicht
überflüssig, sie so leicht zugänglich zu machen. Die editorische Leistung des


Zur neueren Goethe-Literatur

Menschheit, für die Humanität das Größte leisten könne, der König oder der
Adel, das Volk oder der dämonische Held, der große Einzelne. Absichten sind
das alles, die im Egmont stecken, noch mehr im Zwiespalt zwischen dem
Egmont von 1772 bis 1775 und dem von 1787, Blütenträume, die nicht
reiften, oder doch nicht im Egmont. Es ist sonst nicht die Art meiner Kritik,
vom Birnenbaum Kirschen zu fordern, vom Verfasser die Lösung meiner
Probleme zu erwarten. Dennoch mußte ich hier die Beschaffenheit des Egmont-
problems nach meiner Auffassung dartun, wenn meine Behauptung, Kleiber
habe sich vergriffen, als er die bereits gelöste Frage der sittlichen Entfaltung
Egmonts in die Mitte gerückt, nicht in der Luft hängen bleiben sollte.

Eine ganz besondere Art von Goethebüchern, die ich als technisch-wissen¬
schaftliche Leistungen bezeichnen möchte, werden immer zahlreicher. Ausgaben,
Zusammenstellungen von Goethestellen (von und über ihn) unter den ver¬
schiedensten Gesichtspunkten gehören hierher. Diese Veröffentlichungen find vou
recht verschiedenem Wert, ja man kann über die grundsätzliche Berechtigung
mancher von ihnen sehr verschiedener Meinung sein.

Die im Verlag der Ratsbuchhandlung C. Bamberg in Greifswald erschienene
Doktordissertation von Oskar Kanehl: „Der junge Goethe im Urteile
des jungen Deutschland" nimmt eine Zwischenstellung ein: sie ist nicht ganz
technisch und nicht ganz gestaltend, erfüllt aber mit tüchtiger und verläßlicher
Arbeit die Orientierung, die der Titel verspricht.

Der Wert eines technisch-wissenschaftlichen Werkes, wie Hans Gerh.
Graff nun bis zum zweiten Band (1. Hälfte) des dritten Teiles gediehenen:
„Goethe über seine Dichtungen" (Frankfurt a. M., 1914, Rütten u. Loening),
ist für den Goetheforscher unschätzbar. Die Verläßlichkeit und die vortreffliche
Einordnung des ungeheuren Materials hat längst jede Kritik erübrigt und wir
sehen dies vortreffliche Nachschlagewerk überall angewendet.

Zu den wertvollsten technischen Leistungen der Goetheforschung gehören selbst¬
redend dieAusgaben. Da können wir die Unternehmung vonProf. von der Leyen,
die weniger zugänglichen kleineren Briefgruppen aus dem ungeheueren Goethescher
Bricfschatzin Einzelbauten herauszugeben, nur mit der lebhaftesten Freude begrüßen.
Was als erste Probe, als augenblickliche Verwirklichung des großzügigen Planes
geboten ist, entspricht auch durchaus den Erwartungen, die wir an die Person des
Herausgebers zu stellen gewohnt sind. Es liegt vor: „Goethe und seine Zeit¬
genossen." Herausgegeben von Prof. von der Leyen: „Goethe, Kestner
und Lotte." Herausgegeben von Dr. Eduard Verend. (Verlag Steinicke u.
Lehmkuhl, München.) Das geschmackvoll schlicht ausgestattete, übrigens nicht gerade
billige Bändchen — es kostet 3 Mark — vereinigt Briefe Goethes und Äußerungen
über ihn aus der Wertherzeit. Wie sehr gerade diese Dokumente uns die ent¬
scheidende, wenn auch vorübergehende Seelenlage des Dichters offenbaren, ist
allbekannt, und es war trotz des mannigfaltigen bisherigen Abdrucks nicht
überflüssig, sie so leicht zugänglich zu machen. Die editorische Leistung des


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[0136] Zur neueren Goethe-Literatur Menschheit, für die Humanität das Größte leisten könne, der König oder der Adel, das Volk oder der dämonische Held, der große Einzelne. Absichten sind das alles, die im Egmont stecken, noch mehr im Zwiespalt zwischen dem Egmont von 1772 bis 1775 und dem von 1787, Blütenträume, die nicht reiften, oder doch nicht im Egmont. Es ist sonst nicht die Art meiner Kritik, vom Birnenbaum Kirschen zu fordern, vom Verfasser die Lösung meiner Probleme zu erwarten. Dennoch mußte ich hier die Beschaffenheit des Egmont- problems nach meiner Auffassung dartun, wenn meine Behauptung, Kleiber habe sich vergriffen, als er die bereits gelöste Frage der sittlichen Entfaltung Egmonts in die Mitte gerückt, nicht in der Luft hängen bleiben sollte. Eine ganz besondere Art von Goethebüchern, die ich als technisch-wissen¬ schaftliche Leistungen bezeichnen möchte, werden immer zahlreicher. Ausgaben, Zusammenstellungen von Goethestellen (von und über ihn) unter den ver¬ schiedensten Gesichtspunkten gehören hierher. Diese Veröffentlichungen find vou recht verschiedenem Wert, ja man kann über die grundsätzliche Berechtigung mancher von ihnen sehr verschiedener Meinung sein. Die im Verlag der Ratsbuchhandlung C. Bamberg in Greifswald erschienene Doktordissertation von Oskar Kanehl: „Der junge Goethe im Urteile des jungen Deutschland" nimmt eine Zwischenstellung ein: sie ist nicht ganz technisch und nicht ganz gestaltend, erfüllt aber mit tüchtiger und verläßlicher Arbeit die Orientierung, die der Titel verspricht. Der Wert eines technisch-wissenschaftlichen Werkes, wie Hans Gerh. Graff nun bis zum zweiten Band (1. Hälfte) des dritten Teiles gediehenen: „Goethe über seine Dichtungen" (Frankfurt a. M., 1914, Rütten u. Loening), ist für den Goetheforscher unschätzbar. Die Verläßlichkeit und die vortreffliche Einordnung des ungeheuren Materials hat längst jede Kritik erübrigt und wir sehen dies vortreffliche Nachschlagewerk überall angewendet. Zu den wertvollsten technischen Leistungen der Goetheforschung gehören selbst¬ redend dieAusgaben. Da können wir die Unternehmung vonProf. von der Leyen, die weniger zugänglichen kleineren Briefgruppen aus dem ungeheueren Goethescher Bricfschatzin Einzelbauten herauszugeben, nur mit der lebhaftesten Freude begrüßen. Was als erste Probe, als augenblickliche Verwirklichung des großzügigen Planes geboten ist, entspricht auch durchaus den Erwartungen, die wir an die Person des Herausgebers zu stellen gewohnt sind. Es liegt vor: „Goethe und seine Zeit¬ genossen." Herausgegeben von Prof. von der Leyen: „Goethe, Kestner und Lotte." Herausgegeben von Dr. Eduard Verend. (Verlag Steinicke u. Lehmkuhl, München.) Das geschmackvoll schlicht ausgestattete, übrigens nicht gerade billige Bändchen — es kostet 3 Mark — vereinigt Briefe Goethes und Äußerungen über ihn aus der Wertherzeit. Wie sehr gerade diese Dokumente uns die ent¬ scheidende, wenn auch vorübergehende Seelenlage des Dichters offenbaren, ist allbekannt, und es war trotz des mannigfaltigen bisherigen Abdrucks nicht überflüssig, sie so leicht zugänglich zu machen. Die editorische Leistung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/136>, abgerufen am 20.10.2024.