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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Aaiserreiches

Bernhardt*) besonders wichtig. Fast keine systematische Behandlung erfuhr
bisher auch das Verhältnis des französischen Heeres zum Neunapoleonismus in
seinen fünf Entwicklungsstufen als: Präsidentschaft, Prinzpräsidentschaft, autori¬
täres, liberalisierendes und wirklich konstitutionelles Kaisertum. Dieses Heer galt
noch von den Siegen der ersten Republik und des großen Napoleon her als
ein hervorragend tapferes, tüchtiges, gut organisiertes. Von den übrigen
europäischen Armeen hatte es in den Jahrzehnten des "langen faulen Friedens"
voraus, daß es seit 1830 in Algerien eine dauernde praktische Kriegsschule
besaß. Denn auch nach der scheinbar völligen Unterwerfung des Landes, 1847,
gab es noch immer gefährliche Erhebungen der Einheimischen zu bekämpfen,
zogen sich die großen Expeditionen wider die Kabylen bis ins Jahr 1867
hinein. So haben alle Marschälle und Generäle Napoleons des Dritten auf
dem heißen algerischen Boden ihre Sporen verdient; alle waren sie "Afrikaner"
und kannten den wirklichen Krieg, wenn auch nur gegen einen halbwilden Feind.

Diesem Vorteile stand aber seit dem Sturze Louis Philipps ein schwerer
Nachteil gegenüber. Die Armee, die unter der zweiten Republik aktives und
passives Wahlrecht besaß, politisierte und zwar mit einem Temperament, das
oft an spanische oder südamerikanische Verhältnisse gemahnte. In der Kammer
von 1849 saßen nicht weniger als zweiundvierzig aktive Generale und Admiräle.
Mit oder ohne Urlaub erschienen die Offiziere in der Volksvertretung, hielten
feurige Reden, wirkten agitatorisch auf ihre Untergebenen. In solchem Zustande
übernahm Ludwig Bonaparte die Armee, als das französische Volk am 10. De¬
zember 1848 den "Abenteurer von Straßburg und Boulogne", der "bis dahin
von Frankreich kaum mehr gesehen halte als die Mauern einiger französischer
Kerker" mit sechs Millionen Stimmen zum Präsidenten der Republik wählte**).
Die damalige demokratisch zugeschnittene Verfassung aber übertrug dem Staatsober¬
haupte wie in politischer so in militärischer Beziehung nur bescheidene Rechte. Er
durfte kein Kommando führen; die Leitung der Armee lag in den Händen des
Kriegsministers, die eigentliche Verfügung aber in denen der Kammer. Das
änderte sich durch jenen historischen Vorgang, den man gemeinhin den Staats¬
streich nennt, den Bonapartes Gegner als das Verbrechen vom 2. Dezember,
als das ruchloseste Attentat wider Frankreichs Freiheit zu brandmarken, den der
Attentäter selbst als die Rettung der Gesellschaft zu bezeichnen pflegte. Bona¬
parte, der niemals ein Tatmensch war, hätte zur Vergewaltigung der Republik




*) Theodor von Bernhard!, "Zwischen zwei Kriegen/' Leipzig bei S. Hirzel, 1901. --
Ein Teil der höchst instruktiven Tagebuchblätter des Diplomaten. ,
**) Major Dr. Max von Szczepanski hat in den rühmlich bekannten Heidelberger Abhand¬
lungen vor kurzem eine vortreffliche größere Arbeit "Napoleon der Dritte und sein Heer"
veröffentlicht, die er mit vollen: Rechte einen "Beitrag zu den Wechselbeziehungen zwischen
Wehrverfassung und Staatsverfassung während des zweiten Kaiserreichs der Franzosen" nennt.
Dem von großen Gesichtspunkten geleiteten Buche sind in bezug auf das Militärische manche
Daten für den vorliegenden Versuch entnommen.
Rückblicke auf die Geschichte des zweiten Aaiserreiches

Bernhardt*) besonders wichtig. Fast keine systematische Behandlung erfuhr
bisher auch das Verhältnis des französischen Heeres zum Neunapoleonismus in
seinen fünf Entwicklungsstufen als: Präsidentschaft, Prinzpräsidentschaft, autori¬
täres, liberalisierendes und wirklich konstitutionelles Kaisertum. Dieses Heer galt
noch von den Siegen der ersten Republik und des großen Napoleon her als
ein hervorragend tapferes, tüchtiges, gut organisiertes. Von den übrigen
europäischen Armeen hatte es in den Jahrzehnten des „langen faulen Friedens"
voraus, daß es seit 1830 in Algerien eine dauernde praktische Kriegsschule
besaß. Denn auch nach der scheinbar völligen Unterwerfung des Landes, 1847,
gab es noch immer gefährliche Erhebungen der Einheimischen zu bekämpfen,
zogen sich die großen Expeditionen wider die Kabylen bis ins Jahr 1867
hinein. So haben alle Marschälle und Generäle Napoleons des Dritten auf
dem heißen algerischen Boden ihre Sporen verdient; alle waren sie „Afrikaner"
und kannten den wirklichen Krieg, wenn auch nur gegen einen halbwilden Feind.

Diesem Vorteile stand aber seit dem Sturze Louis Philipps ein schwerer
Nachteil gegenüber. Die Armee, die unter der zweiten Republik aktives und
passives Wahlrecht besaß, politisierte und zwar mit einem Temperament, das
oft an spanische oder südamerikanische Verhältnisse gemahnte. In der Kammer
von 1849 saßen nicht weniger als zweiundvierzig aktive Generale und Admiräle.
Mit oder ohne Urlaub erschienen die Offiziere in der Volksvertretung, hielten
feurige Reden, wirkten agitatorisch auf ihre Untergebenen. In solchem Zustande
übernahm Ludwig Bonaparte die Armee, als das französische Volk am 10. De¬
zember 1848 den „Abenteurer von Straßburg und Boulogne", der „bis dahin
von Frankreich kaum mehr gesehen halte als die Mauern einiger französischer
Kerker" mit sechs Millionen Stimmen zum Präsidenten der Republik wählte**).
Die damalige demokratisch zugeschnittene Verfassung aber übertrug dem Staatsober¬
haupte wie in politischer so in militärischer Beziehung nur bescheidene Rechte. Er
durfte kein Kommando führen; die Leitung der Armee lag in den Händen des
Kriegsministers, die eigentliche Verfügung aber in denen der Kammer. Das
änderte sich durch jenen historischen Vorgang, den man gemeinhin den Staats¬
streich nennt, den Bonapartes Gegner als das Verbrechen vom 2. Dezember,
als das ruchloseste Attentat wider Frankreichs Freiheit zu brandmarken, den der
Attentäter selbst als die Rettung der Gesellschaft zu bezeichnen pflegte. Bona¬
parte, der niemals ein Tatmensch war, hätte zur Vergewaltigung der Republik




*) Theodor von Bernhard!, „Zwischen zwei Kriegen/' Leipzig bei S. Hirzel, 1901. —
Ein Teil der höchst instruktiven Tagebuchblätter des Diplomaten. ,
**) Major Dr. Max von Szczepanski hat in den rühmlich bekannten Heidelberger Abhand¬
lungen vor kurzem eine vortreffliche größere Arbeit „Napoleon der Dritte und sein Heer"
veröffentlicht, die er mit vollen: Rechte einen „Beitrag zu den Wechselbeziehungen zwischen
Wehrverfassung und Staatsverfassung während des zweiten Kaiserreichs der Franzosen" nennt.
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Daten für den vorliegenden Versuch entnommen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/53>, abgerufen am 30.06.2024.