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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Die Polen und Rußland

die Polen sind zum mindesten in ein russisches und ein europäisches Lager
gespalten I

Für diejenigen, die sich eingehender mit den Polen beschäftigen konnten,
ist das Verhalten der Polen keine Überraschung: schon die Zänkereien der
letzten Jahre zeigten an, daß nur ein kleiner Teil der Polen für den großen
historischen Augenblick, der über ihre Zukunft entscheiden sollte, vorbereitet sein
würde; die Gesamtheit hat -- trotz des Vorhandenseins des Nationalrats --
nicht nur keine einheitliche politische Organisation geschaffen, die ihrem alten
Sehnen nach Selbständigkeit entspräche, sie hat auch nicht einmal eine sie
einigende Idee für die politische Praxis entwickeln und volkstümlich machen
können, eine Idee, um die sich das ganze Volk hätte scharen und auf die gestützt
die Führer vor eine der kriegführenden Mächte hätten hintreten können. Die
Polen scheinen heute zerrissener denn je. Am Tage der dritten Teilung hatte
sich wenigstens eine gebildete Mehrheit um das Statut vom 3. Mai gesammelt;
1877 suchte man noch einheitlich im katholischen Wien, im Vatikan und im
liberalen England Rückhalt. Gegenwärtig scheint alles auseinanderzustreben.
Der unbeteiligte Zuschauer sieht lediglich verschiedene Klüngel, die mit den Massen
nur insoweit Verbindung haben, als sie ihnen mit sozialdemokratischen Methoden
Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage versprechen. Das aber wagen sie doch
nicht zu behaupten, daß es den Arbeitern bei den russischen sozialpolitischen
Methoden besser ginge als bei den deutschen. Man sieht nur Ehrgeizige, die
entweder durch frech aufgestellte Behauptungen die Köpfe hüben und drüben zu
verwirren trachten oder die privaten Geschäften nachjagen. Große politische
Führer, deren aufs Ganze gerichteter Blick das Bedürfnis der Nation umfaßte,
sind vielleicht vorhanden, aber gegenwärtig noch nirgends zu erkennen.

Das äußere Bild entspricht den tatsächlichen Verhältnissen: die große
Zeit fand ein kleines Geschlecht. Die polnischen Parteiführer im russischen
Anteil gleichen den törichten Jungfrauen aus dem biblischen Gleichnis; sie
haben nicht gewacht, sondern waren nur auf egoistisch erfaßten Vorteil erpicht,
haben nicht rechtzeitig erkannt, was um sie herum in der Welt vor sich
gegangen. Die besten von ihnen sind in Vorurteilen befangen; einzelne ver¬
mögen nicht zu begreifen, daß die Kraftentwicklung Deutschlands Wirklichkeit
sein soll: die Presse, auf die man seit Jahren geschworen hatte, nämlich die
französische, zeigte doch ein ganz anderes Bild, zeigte doch immer nur dies
Deutschland als ein innerlich zerfallenes, mühsam aufrecht erhaltenes Staats¬
gebilde.

Wie ist solch eine Verwirrung möglich geworden?

Theoretisch kann man antworten: durch die Hingabe an die Lüge, mit der
Deutschland unter starker Mitwirkung polnischer Politiker und Schriftsteller
umsponnen wurde, -- so umsponnen, daß die Lügner selbst nicht mehr erkannten,
was eigentlich hinter dem Gewebe an Realität steckt. Auch die ungesunde
Selbstüberhebung der polnischen Wissenschaft hat ihren Teil Schuld daran. Sie


Die Polen und Rußland

die Polen sind zum mindesten in ein russisches und ein europäisches Lager
gespalten I

Für diejenigen, die sich eingehender mit den Polen beschäftigen konnten,
ist das Verhalten der Polen keine Überraschung: schon die Zänkereien der
letzten Jahre zeigten an, daß nur ein kleiner Teil der Polen für den großen
historischen Augenblick, der über ihre Zukunft entscheiden sollte, vorbereitet sein
würde; die Gesamtheit hat — trotz des Vorhandenseins des Nationalrats —
nicht nur keine einheitliche politische Organisation geschaffen, die ihrem alten
Sehnen nach Selbständigkeit entspräche, sie hat auch nicht einmal eine sie
einigende Idee für die politische Praxis entwickeln und volkstümlich machen
können, eine Idee, um die sich das ganze Volk hätte scharen und auf die gestützt
die Führer vor eine der kriegführenden Mächte hätten hintreten können. Die
Polen scheinen heute zerrissener denn je. Am Tage der dritten Teilung hatte
sich wenigstens eine gebildete Mehrheit um das Statut vom 3. Mai gesammelt;
1877 suchte man noch einheitlich im katholischen Wien, im Vatikan und im
liberalen England Rückhalt. Gegenwärtig scheint alles auseinanderzustreben.
Der unbeteiligte Zuschauer sieht lediglich verschiedene Klüngel, die mit den Massen
nur insoweit Verbindung haben, als sie ihnen mit sozialdemokratischen Methoden
Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage versprechen. Das aber wagen sie doch
nicht zu behaupten, daß es den Arbeitern bei den russischen sozialpolitischen
Methoden besser ginge als bei den deutschen. Man sieht nur Ehrgeizige, die
entweder durch frech aufgestellte Behauptungen die Köpfe hüben und drüben zu
verwirren trachten oder die privaten Geschäften nachjagen. Große politische
Führer, deren aufs Ganze gerichteter Blick das Bedürfnis der Nation umfaßte,
sind vielleicht vorhanden, aber gegenwärtig noch nirgends zu erkennen.

Das äußere Bild entspricht den tatsächlichen Verhältnissen: die große
Zeit fand ein kleines Geschlecht. Die polnischen Parteiführer im russischen
Anteil gleichen den törichten Jungfrauen aus dem biblischen Gleichnis; sie
haben nicht gewacht, sondern waren nur auf egoistisch erfaßten Vorteil erpicht,
haben nicht rechtzeitig erkannt, was um sie herum in der Welt vor sich
gegangen. Die besten von ihnen sind in Vorurteilen befangen; einzelne ver¬
mögen nicht zu begreifen, daß die Kraftentwicklung Deutschlands Wirklichkeit
sein soll: die Presse, auf die man seit Jahren geschworen hatte, nämlich die
französische, zeigte doch ein ganz anderes Bild, zeigte doch immer nur dies
Deutschland als ein innerlich zerfallenes, mühsam aufrecht erhaltenes Staats¬
gebilde.

Wie ist solch eine Verwirrung möglich geworden?

Theoretisch kann man antworten: durch die Hingabe an die Lüge, mit der
Deutschland unter starker Mitwirkung polnischer Politiker und Schriftsteller
umsponnen wurde, — so umsponnen, daß die Lügner selbst nicht mehr erkannten,
was eigentlich hinter dem Gewebe an Realität steckt. Auch die ungesunde
Selbstüberhebung der polnischen Wissenschaft hat ihren Teil Schuld daran. Sie


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[0046] Die Polen und Rußland die Polen sind zum mindesten in ein russisches und ein europäisches Lager gespalten I Für diejenigen, die sich eingehender mit den Polen beschäftigen konnten, ist das Verhalten der Polen keine Überraschung: schon die Zänkereien der letzten Jahre zeigten an, daß nur ein kleiner Teil der Polen für den großen historischen Augenblick, der über ihre Zukunft entscheiden sollte, vorbereitet sein würde; die Gesamtheit hat — trotz des Vorhandenseins des Nationalrats — nicht nur keine einheitliche politische Organisation geschaffen, die ihrem alten Sehnen nach Selbständigkeit entspräche, sie hat auch nicht einmal eine sie einigende Idee für die politische Praxis entwickeln und volkstümlich machen können, eine Idee, um die sich das ganze Volk hätte scharen und auf die gestützt die Führer vor eine der kriegführenden Mächte hätten hintreten können. Die Polen scheinen heute zerrissener denn je. Am Tage der dritten Teilung hatte sich wenigstens eine gebildete Mehrheit um das Statut vom 3. Mai gesammelt; 1877 suchte man noch einheitlich im katholischen Wien, im Vatikan und im liberalen England Rückhalt. Gegenwärtig scheint alles auseinanderzustreben. Der unbeteiligte Zuschauer sieht lediglich verschiedene Klüngel, die mit den Massen nur insoweit Verbindung haben, als sie ihnen mit sozialdemokratischen Methoden Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage versprechen. Das aber wagen sie doch nicht zu behaupten, daß es den Arbeitern bei den russischen sozialpolitischen Methoden besser ginge als bei den deutschen. Man sieht nur Ehrgeizige, die entweder durch frech aufgestellte Behauptungen die Köpfe hüben und drüben zu verwirren trachten oder die privaten Geschäften nachjagen. Große politische Führer, deren aufs Ganze gerichteter Blick das Bedürfnis der Nation umfaßte, sind vielleicht vorhanden, aber gegenwärtig noch nirgends zu erkennen. Das äußere Bild entspricht den tatsächlichen Verhältnissen: die große Zeit fand ein kleines Geschlecht. Die polnischen Parteiführer im russischen Anteil gleichen den törichten Jungfrauen aus dem biblischen Gleichnis; sie haben nicht gewacht, sondern waren nur auf egoistisch erfaßten Vorteil erpicht, haben nicht rechtzeitig erkannt, was um sie herum in der Welt vor sich gegangen. Die besten von ihnen sind in Vorurteilen befangen; einzelne ver¬ mögen nicht zu begreifen, daß die Kraftentwicklung Deutschlands Wirklichkeit sein soll: die Presse, auf die man seit Jahren geschworen hatte, nämlich die französische, zeigte doch ein ganz anderes Bild, zeigte doch immer nur dies Deutschland als ein innerlich zerfallenes, mühsam aufrecht erhaltenes Staats¬ gebilde. Wie ist solch eine Verwirrung möglich geworden? Theoretisch kann man antworten: durch die Hingabe an die Lüge, mit der Deutschland unter starker Mitwirkung polnischer Politiker und Schriftsteller umsponnen wurde, — so umsponnen, daß die Lügner selbst nicht mehr erkannten, was eigentlich hinter dem Gewebe an Realität steckt. Auch die ungesunde Selbstüberhebung der polnischen Wissenschaft hat ihren Teil Schuld daran. Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/46>, abgerufen am 30.06.2024.