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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Freiheit und Eigentum in Frieden und Arieg

widerrechtliche Verhaftung von deutschen Reservisten an Bord neutraler Schiffe
auf sich geladen hat.

Trotzdem kann man sagen, daß es heute ein allgemein anerkanntes Völker¬
recht gibt. Der Umstand, daß dagegen verstoßen worden ist, kann sein Dasein
als Recht nicht berühren. Außerdem haben diejenigen, die dagegen gesündigt
haben, durch vielfache Beschönigungs- und Rechtfertigungsversuche genugsam
erkennen lassen, daß sie sich selbst im Unrecht fühlten, während sie teilweise
allerdings die Brutalität besaßen, den Rechtsbruch ohne Entschuldigung zuzu¬
geben. Aber auch darin liegt das Zugeständnis der gültigen Existenz des
Rechtes. Der Verbrecher hat nicht die Macht, selbst nicht den Willen, das
Recht zu vernichten. Nicht in der Erzwingbarkeit -- die natürlich dem Völker¬
recht fehlt mangels einer es schützenden, den Staaten übergeordneten Exekutiv¬
gewalt -- liegt das Merkmal des Rechtes, sondern in dem gemeinsamen, ver¬
bindenden Wollen. Und dieses Wollen, die Unterwerfung unter die Rechts¬
verbindlichkeit der ihm zugrunde liegenden Verträge, ist von allen Staaten --
trotz Zuwiderhandelns in Einzelfällen -- ohne Einschränkung dokumentiert
worden. Die Idee eines Rechtes, das über den Staaten steht, das an kein
Staatsgebiet geknüpft ist, die Überzeugung, daß seine vertragsmäßig festgestellten
Sätze geltendes Recht sind, wurzeln heute fester denn je in der Menschheit.
Inwieweit sich der einzelne Staat an das Recht tatsächlich hält, hängt von
seinem Gewissen, seinem Menschlichkeits-, Kultur- und Sittlichkeitsgefühl ab.
Fehlt auch der Gerichtshof für den Übertreter, er richtet sich selbst in den
Augen der Welt.

Gerade bei Streitfällen tritt häufig die Anerkennung des Gesetzes am
deutlichsten hervor.

Das hat sich auch jetzt im Kriege gezeigt. Vielfach ist nicht um das Recht
als solches, um seine Regeln, sondern um die Tatbestände seiner Anwendung
gestritten worden. Zum Beispiel im Fall der Kathedrale in Reims. Es besteht
der Satz, daß geschichtliche Denkmäler nicht beschossen werden sollen, voraus¬
gesetzt, daß diese Gebäude nicht zu militärischen Zwecken verwendet werden.
Beide Punkte waren streitig. Zunächst ob eine Beschädigung der Kathedrale
überhaupt stattgefunden hat, dann ob eine solche nicht durch deren militärische
Verwendung als Beobachtungsposten oder als Deckung für feindliche Artillerie¬
stellungen vorgelegen hat. Somit Streit lediglich um Tatbestandsmerkmale,
nicht um die Nechtsregel.

Noch ein weiterer Gesichtspunkt, der vielfach Handlungen, die zunächst
widerrechtlich erscheinen, zu entschuldigen und auf den Boden des Rechtes zurück¬
zuführen geeignet ist. Wenn auch der prinzipielle Leitsatz des Kriegsrechtes
lautet, daß "die Kriegsparteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der
Mittel zur Beschädigung des Feindes haben" (Artikel 22 der "Ordnung"), so
greift doch im einzelnen ein weitgehendes Notwehrrecht als n6LL88ltL nie Aufl-re
oder Kriegsraison ein, das Handlungen, die dem strengen Kriegsrechte zuwider-


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Freiheit und Eigentum in Frieden und Arieg

widerrechtliche Verhaftung von deutschen Reservisten an Bord neutraler Schiffe
auf sich geladen hat.

Trotzdem kann man sagen, daß es heute ein allgemein anerkanntes Völker¬
recht gibt. Der Umstand, daß dagegen verstoßen worden ist, kann sein Dasein
als Recht nicht berühren. Außerdem haben diejenigen, die dagegen gesündigt
haben, durch vielfache Beschönigungs- und Rechtfertigungsversuche genugsam
erkennen lassen, daß sie sich selbst im Unrecht fühlten, während sie teilweise
allerdings die Brutalität besaßen, den Rechtsbruch ohne Entschuldigung zuzu¬
geben. Aber auch darin liegt das Zugeständnis der gültigen Existenz des
Rechtes. Der Verbrecher hat nicht die Macht, selbst nicht den Willen, das
Recht zu vernichten. Nicht in der Erzwingbarkeit — die natürlich dem Völker¬
recht fehlt mangels einer es schützenden, den Staaten übergeordneten Exekutiv¬
gewalt — liegt das Merkmal des Rechtes, sondern in dem gemeinsamen, ver¬
bindenden Wollen. Und dieses Wollen, die Unterwerfung unter die Rechts¬
verbindlichkeit der ihm zugrunde liegenden Verträge, ist von allen Staaten —
trotz Zuwiderhandelns in Einzelfällen — ohne Einschränkung dokumentiert
worden. Die Idee eines Rechtes, das über den Staaten steht, das an kein
Staatsgebiet geknüpft ist, die Überzeugung, daß seine vertragsmäßig festgestellten
Sätze geltendes Recht sind, wurzeln heute fester denn je in der Menschheit.
Inwieweit sich der einzelne Staat an das Recht tatsächlich hält, hängt von
seinem Gewissen, seinem Menschlichkeits-, Kultur- und Sittlichkeitsgefühl ab.
Fehlt auch der Gerichtshof für den Übertreter, er richtet sich selbst in den
Augen der Welt.

Gerade bei Streitfällen tritt häufig die Anerkennung des Gesetzes am
deutlichsten hervor.

Das hat sich auch jetzt im Kriege gezeigt. Vielfach ist nicht um das Recht
als solches, um seine Regeln, sondern um die Tatbestände seiner Anwendung
gestritten worden. Zum Beispiel im Fall der Kathedrale in Reims. Es besteht
der Satz, daß geschichtliche Denkmäler nicht beschossen werden sollen, voraus¬
gesetzt, daß diese Gebäude nicht zu militärischen Zwecken verwendet werden.
Beide Punkte waren streitig. Zunächst ob eine Beschädigung der Kathedrale
überhaupt stattgefunden hat, dann ob eine solche nicht durch deren militärische
Verwendung als Beobachtungsposten oder als Deckung für feindliche Artillerie¬
stellungen vorgelegen hat. Somit Streit lediglich um Tatbestandsmerkmale,
nicht um die Nechtsregel.

Noch ein weiterer Gesichtspunkt, der vielfach Handlungen, die zunächst
widerrechtlich erscheinen, zu entschuldigen und auf den Boden des Rechtes zurück¬
zuführen geeignet ist. Wenn auch der prinzipielle Leitsatz des Kriegsrechtes
lautet, daß „die Kriegsparteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der
Mittel zur Beschädigung des Feindes haben" (Artikel 22 der „Ordnung"), so
greift doch im einzelnen ein weitgehendes Notwehrrecht als n6LL88ltL nie Aufl-re
oder Kriegsraison ein, das Handlungen, die dem strengen Kriegsrechte zuwider-


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[0383] Freiheit und Eigentum in Frieden und Arieg widerrechtliche Verhaftung von deutschen Reservisten an Bord neutraler Schiffe auf sich geladen hat. Trotzdem kann man sagen, daß es heute ein allgemein anerkanntes Völker¬ recht gibt. Der Umstand, daß dagegen verstoßen worden ist, kann sein Dasein als Recht nicht berühren. Außerdem haben diejenigen, die dagegen gesündigt haben, durch vielfache Beschönigungs- und Rechtfertigungsversuche genugsam erkennen lassen, daß sie sich selbst im Unrecht fühlten, während sie teilweise allerdings die Brutalität besaßen, den Rechtsbruch ohne Entschuldigung zuzu¬ geben. Aber auch darin liegt das Zugeständnis der gültigen Existenz des Rechtes. Der Verbrecher hat nicht die Macht, selbst nicht den Willen, das Recht zu vernichten. Nicht in der Erzwingbarkeit — die natürlich dem Völker¬ recht fehlt mangels einer es schützenden, den Staaten übergeordneten Exekutiv¬ gewalt — liegt das Merkmal des Rechtes, sondern in dem gemeinsamen, ver¬ bindenden Wollen. Und dieses Wollen, die Unterwerfung unter die Rechts¬ verbindlichkeit der ihm zugrunde liegenden Verträge, ist von allen Staaten — trotz Zuwiderhandelns in Einzelfällen — ohne Einschränkung dokumentiert worden. Die Idee eines Rechtes, das über den Staaten steht, das an kein Staatsgebiet geknüpft ist, die Überzeugung, daß seine vertragsmäßig festgestellten Sätze geltendes Recht sind, wurzeln heute fester denn je in der Menschheit. Inwieweit sich der einzelne Staat an das Recht tatsächlich hält, hängt von seinem Gewissen, seinem Menschlichkeits-, Kultur- und Sittlichkeitsgefühl ab. Fehlt auch der Gerichtshof für den Übertreter, er richtet sich selbst in den Augen der Welt. Gerade bei Streitfällen tritt häufig die Anerkennung des Gesetzes am deutlichsten hervor. Das hat sich auch jetzt im Kriege gezeigt. Vielfach ist nicht um das Recht als solches, um seine Regeln, sondern um die Tatbestände seiner Anwendung gestritten worden. Zum Beispiel im Fall der Kathedrale in Reims. Es besteht der Satz, daß geschichtliche Denkmäler nicht beschossen werden sollen, voraus¬ gesetzt, daß diese Gebäude nicht zu militärischen Zwecken verwendet werden. Beide Punkte waren streitig. Zunächst ob eine Beschädigung der Kathedrale überhaupt stattgefunden hat, dann ob eine solche nicht durch deren militärische Verwendung als Beobachtungsposten oder als Deckung für feindliche Artillerie¬ stellungen vorgelegen hat. Somit Streit lediglich um Tatbestandsmerkmale, nicht um die Nechtsregel. Noch ein weiterer Gesichtspunkt, der vielfach Handlungen, die zunächst widerrechtlich erscheinen, zu entschuldigen und auf den Boden des Rechtes zurück¬ zuführen geeignet ist. Wenn auch der prinzipielle Leitsatz des Kriegsrechtes lautet, daß „die Kriegsparteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Beschädigung des Feindes haben" (Artikel 22 der „Ordnung"), so greift doch im einzelnen ein weitgehendes Notwehrrecht als n6LL88ltL nie Aufl-re oder Kriegsraison ein, das Handlungen, die dem strengen Kriegsrechte zuwider- 24*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/383>, abgerufen am 04.07.2024.