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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das "baltische" Rußland

Die geologische Geschichte zeigt, daß der Boden des "baltischen Rußlands"
seine Fruchtbarkeit demselben Ereignis der diluvialen Eiszeit verdankt, daß
derselbe Vorgang alle Oberflächenformen, Flußsysteme, Seen und Sümpfe ge¬
schaffen hat. und es wird sich zeigen, daß wir es hier mit einem ziemlich ein¬
heitlichen Wirtschaftsgebiet zu tun haben. Das Klima ist von der Ostsee be¬
einflußt und unterscheidet sich scharf von den: des inneren und südlichen Rußland,
und es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß auch die Menschen und ihre
Kultur ganz anders geartet sind als im eigentlichen Rußland, daß Deutsche,
Polen, Letten und Litauer den Hauptanteil an der Bevölkerung stellen, und
daß hier besonders der deutsche Einfluß auf die allgemeine Kultur, auf die
Landwirtschaft, Industrie, Handel und Wissenschaft wirksam gewesen ist. Das
sind alles geographische Faktoren, die unsere Politiker genau kennen und ins
Auge fassen müssen. Es sei gestattet, als Beispiel dieser geographischen Be¬
trachtungsweise nur einige Bemerkungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse
des "baltischen Rußland" zu machen, nachdem schon kürzlich an dieser Stelle
zwei Aufsätze über Russisch-Polen (Heft 37) und die russischen Küstenländer
der Ostsee (Heft 42) die gleichartige Entstehung der Oberflächenformen und
daher Ähnlichkeiten im heutigen Aussehen der Landschaft darzulegen versuchten.

Nach der Natur der Bodendecke*) lassen sich zwei große Gebiete in
Rußland unterscheiden. Ganz Nordrußland ist von den Schneemassen der
nordischen Vereisung bedeckt, die zur Diluvialzeit von Skandinavien nach Süden
über die Ostsee hinüber ihre mächtigen Eisfächer nach Mittel- und Osteuropa
ausstrahlen ließ. Sie reichte in Rußland bis zu einer Linie, die von Lemberg
östlich nach Kiew, dann nordöstlich über Tula, Nishnij--Nowgorod, Kasan, Peru
und weiterhin am Fuß des Ural nordwärts verläuft. Von dieser Linie drangen
die Gletscher noch in zwei Zungen nach Süden vor, am Dujepr bis gegen
Poltawa abwärts und am oberen Don bis zur Einmündung des Nebenflusses
Choper. Daraus ergibt sich, daß das "baltische Nußland" vollkommen vom
Eise bedeckt war. Während alle die Gebiete sudlich der oben angegebenen
Grenze des Gletscherschutts von äolischen Steppenboden, von Löß überzogen
sind und in dem breiten Gürtel des humusreicher Tschernosjom (Schwarzerde)
die berühmte Kornkammer Südrußlands darstellen, zerfallen die eigentlichen
Gletscherablagerungen an der Oberfläche in einen hellfarbigen, leichten und
fandigen Boden, der hauptsächlich aus Quarzkörnchen besteht und sehr wenig
Pflanzennährstoffe enthalt. Das ist der Podsol, die herrschende Bodenart des
nördlichen und westlichen Rußland, die nur hier und da durch noch reinere
Sande oder durch Moorboden ersetzt wird. Bodenkundlich gehört also das
baltische Rußland zu der podsoligen Zone und die verschiedenartigen Ab¬
lagerungen der Eiszeit bilden die Muttergesteinsarten. Wie in Nord¬
deutschland könnte man auch hier die verschiedenen Böden in Regionen



*) Nach den Stromsystemen betrachtet ist das europäische Nußland (siehe Heft 49, Seite 290
der Grenzboten) in drei große Wirtschaftsgebiete geteilt worden.
Das „baltische" Rußland

Die geologische Geschichte zeigt, daß der Boden des „baltischen Rußlands"
seine Fruchtbarkeit demselben Ereignis der diluvialen Eiszeit verdankt, daß
derselbe Vorgang alle Oberflächenformen, Flußsysteme, Seen und Sümpfe ge¬
schaffen hat. und es wird sich zeigen, daß wir es hier mit einem ziemlich ein¬
heitlichen Wirtschaftsgebiet zu tun haben. Das Klima ist von der Ostsee be¬
einflußt und unterscheidet sich scharf von den: des inneren und südlichen Rußland,
und es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß auch die Menschen und ihre
Kultur ganz anders geartet sind als im eigentlichen Rußland, daß Deutsche,
Polen, Letten und Litauer den Hauptanteil an der Bevölkerung stellen, und
daß hier besonders der deutsche Einfluß auf die allgemeine Kultur, auf die
Landwirtschaft, Industrie, Handel und Wissenschaft wirksam gewesen ist. Das
sind alles geographische Faktoren, die unsere Politiker genau kennen und ins
Auge fassen müssen. Es sei gestattet, als Beispiel dieser geographischen Be¬
trachtungsweise nur einige Bemerkungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse
des „baltischen Rußland" zu machen, nachdem schon kürzlich an dieser Stelle
zwei Aufsätze über Russisch-Polen (Heft 37) und die russischen Küstenländer
der Ostsee (Heft 42) die gleichartige Entstehung der Oberflächenformen und
daher Ähnlichkeiten im heutigen Aussehen der Landschaft darzulegen versuchten.

Nach der Natur der Bodendecke*) lassen sich zwei große Gebiete in
Rußland unterscheiden. Ganz Nordrußland ist von den Schneemassen der
nordischen Vereisung bedeckt, die zur Diluvialzeit von Skandinavien nach Süden
über die Ostsee hinüber ihre mächtigen Eisfächer nach Mittel- und Osteuropa
ausstrahlen ließ. Sie reichte in Rußland bis zu einer Linie, die von Lemberg
östlich nach Kiew, dann nordöstlich über Tula, Nishnij—Nowgorod, Kasan, Peru
und weiterhin am Fuß des Ural nordwärts verläuft. Von dieser Linie drangen
die Gletscher noch in zwei Zungen nach Süden vor, am Dujepr bis gegen
Poltawa abwärts und am oberen Don bis zur Einmündung des Nebenflusses
Choper. Daraus ergibt sich, daß das „baltische Nußland" vollkommen vom
Eise bedeckt war. Während alle die Gebiete sudlich der oben angegebenen
Grenze des Gletscherschutts von äolischen Steppenboden, von Löß überzogen
sind und in dem breiten Gürtel des humusreicher Tschernosjom (Schwarzerde)
die berühmte Kornkammer Südrußlands darstellen, zerfallen die eigentlichen
Gletscherablagerungen an der Oberfläche in einen hellfarbigen, leichten und
fandigen Boden, der hauptsächlich aus Quarzkörnchen besteht und sehr wenig
Pflanzennährstoffe enthalt. Das ist der Podsol, die herrschende Bodenart des
nördlichen und westlichen Rußland, die nur hier und da durch noch reinere
Sande oder durch Moorboden ersetzt wird. Bodenkundlich gehört also das
baltische Rußland zu der podsoligen Zone und die verschiedenartigen Ab¬
lagerungen der Eiszeit bilden die Muttergesteinsarten. Wie in Nord¬
deutschland könnte man auch hier die verschiedenen Böden in Regionen



*) Nach den Stromsystemen betrachtet ist das europäische Nußland (siehe Heft 49, Seite 290
der Grenzboten) in drei große Wirtschaftsgebiete geteilt worden.
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[0346] Das „baltische" Rußland Die geologische Geschichte zeigt, daß der Boden des „baltischen Rußlands" seine Fruchtbarkeit demselben Ereignis der diluvialen Eiszeit verdankt, daß derselbe Vorgang alle Oberflächenformen, Flußsysteme, Seen und Sümpfe ge¬ schaffen hat. und es wird sich zeigen, daß wir es hier mit einem ziemlich ein¬ heitlichen Wirtschaftsgebiet zu tun haben. Das Klima ist von der Ostsee be¬ einflußt und unterscheidet sich scharf von den: des inneren und südlichen Rußland, und es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß auch die Menschen und ihre Kultur ganz anders geartet sind als im eigentlichen Rußland, daß Deutsche, Polen, Letten und Litauer den Hauptanteil an der Bevölkerung stellen, und daß hier besonders der deutsche Einfluß auf die allgemeine Kultur, auf die Landwirtschaft, Industrie, Handel und Wissenschaft wirksam gewesen ist. Das sind alles geographische Faktoren, die unsere Politiker genau kennen und ins Auge fassen müssen. Es sei gestattet, als Beispiel dieser geographischen Be¬ trachtungsweise nur einige Bemerkungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse des „baltischen Rußland" zu machen, nachdem schon kürzlich an dieser Stelle zwei Aufsätze über Russisch-Polen (Heft 37) und die russischen Küstenländer der Ostsee (Heft 42) die gleichartige Entstehung der Oberflächenformen und daher Ähnlichkeiten im heutigen Aussehen der Landschaft darzulegen versuchten. Nach der Natur der Bodendecke*) lassen sich zwei große Gebiete in Rußland unterscheiden. Ganz Nordrußland ist von den Schneemassen der nordischen Vereisung bedeckt, die zur Diluvialzeit von Skandinavien nach Süden über die Ostsee hinüber ihre mächtigen Eisfächer nach Mittel- und Osteuropa ausstrahlen ließ. Sie reichte in Rußland bis zu einer Linie, die von Lemberg östlich nach Kiew, dann nordöstlich über Tula, Nishnij—Nowgorod, Kasan, Peru und weiterhin am Fuß des Ural nordwärts verläuft. Von dieser Linie drangen die Gletscher noch in zwei Zungen nach Süden vor, am Dujepr bis gegen Poltawa abwärts und am oberen Don bis zur Einmündung des Nebenflusses Choper. Daraus ergibt sich, daß das „baltische Nußland" vollkommen vom Eise bedeckt war. Während alle die Gebiete sudlich der oben angegebenen Grenze des Gletscherschutts von äolischen Steppenboden, von Löß überzogen sind und in dem breiten Gürtel des humusreicher Tschernosjom (Schwarzerde) die berühmte Kornkammer Südrußlands darstellen, zerfallen die eigentlichen Gletscherablagerungen an der Oberfläche in einen hellfarbigen, leichten und fandigen Boden, der hauptsächlich aus Quarzkörnchen besteht und sehr wenig Pflanzennährstoffe enthalt. Das ist der Podsol, die herrschende Bodenart des nördlichen und westlichen Rußland, die nur hier und da durch noch reinere Sande oder durch Moorboden ersetzt wird. Bodenkundlich gehört also das baltische Rußland zu der podsoligen Zone und die verschiedenartigen Ab¬ lagerungen der Eiszeit bilden die Muttergesteinsarten. Wie in Nord¬ deutschland könnte man auch hier die verschiedenen Böden in Regionen *) Nach den Stromsystemen betrachtet ist das europäische Nußland (siehe Heft 49, Seite 290 der Grenzboten) in drei große Wirtschaftsgebiete geteilt worden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/346>, abgerufen am 03.07.2024.