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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das "baltische" Rußland

naturgemäß viel schwerer, natürliche Landschaften zu unterscheiden, wie etwa in
dem bunten Mosaik des Deutschen Reiches. Aber auch dort ist eine derartige
Einteilung schon gemacht worden, wie ein Blick in die allerdings spärlichen
modernen Landeskunden Rußlands zeigt. Im folgenden soll nun der Versuch
gewagt werden, wenigstens andeutungsweise ein Gebiet, das gerade jetzt im
Vordergründe unseres Interesses steht, das nordwestliche Nußland zu einer ein¬
heitlichen Landschaft zusammenzufassen. Wir wollen darunter im wesentlichen
das Abflußgebiet der Weichsel von ihrem Austritt aus dem Karpathenland an,
des Riemen, der Dura und der kleineren Flüsse Estlands und Jngermanlands
verstehen, also ein Gebiet, das Russisch - Polen, die russischen Ostseeprovinzen,
sowie Teile von Weißrußland (bes. Litauen) umfaßt und streng genommen
auch West- und Ostpreußen mit einschließen müßte und dessen Binnengrenze etwa
vom polnischen Bug und den Pripetsümpfen, entlang dem westrussischen Land¬
rücken und über die Waldaihöhen nach Se. Petersburgs Umgebung läuft.
Dieses so umgrenzte Gebiet wollen wir das "baltische Rußland" nennen; denn
es steht mehr oder weniger unter dem Einfluß der Ostsee und gehört zum
"Ostseegebiet", dem alten ,Mare IZaltiLum". Dieser Name taucht übrigens
erst um 1070 bei Adam von Bremen auf und soll seinen Ursprung aus dem
Litauischen haben, wo "balto8" soviel wie "Sumpffeld", "Tümpel" oder gar
nur "Wasser" bedeutet. Bekanntlich brachte die "Baltische Ausstellung" in
Malmö 1914, auf der sich die vier Grenzstaaten des Baltischen Meeres. Deutsch¬
land, Dänemark, Schiveden und Rußland zu friedlichem Wettbewerbe vereinigten,
diesen Ausdruck wieder zu Ehren. In seiner "Länderkunde von Europa" (1906)
spricht Philippson schon zutreffend von einer "baltischen Abdachung" Rußlands,
worunter er das vom westrussischen Landrücken und der Waldaihöhe halbkreis¬
förmig umschlossene Gebiet versteht (S. 680). Für die Küstenzone selbst findet
sich auch der Ausdruck "Baltisches Tiefland", die eigentlichen Ostseeprovinzen
beschreibt eine neue "Baltische Landeskunde" (Riga 1911), aber "Ostbaltikum"
und "Ostballisches Tiefland" sind weniger glückliche Bezeichnungen. G. Braun
unterschied 1912 in seinem trefflichen Büchlein "Das Ostseegebiet" (Aus Natur
und Geisteswelt, Ur. 367, Leipzig, B. G. Teubner) die engeren russischen Ostsee¬
provinzen als "baltische Region" von der sich südlich anschließenden "preußischen
Region" durch eine künstliche Grenze, die er von Libau südöstlich zog. Die
Einbeziehung Polens in das weitergefaßte "baltische Nutzland" ist gerechtfertigt
durch gleiche geologische Geschichte, ähnliche Oberflächenformen, Beeinflussung
des Klimas durch die Ostsee, und nicht zuletzt durch eine gewisse wirtschaftliche
Zusammengehörigkeit mit den preußischen Ostseeprovinzen, liegen doch zum
Beispiel Danzig und Königsberg Polen und Litauen näher als russische Häfen
und haben auch durch die Tarifpolitik der russischen Eisenbahnen ihre Be¬
deutung als Einfuhrplütze für Westrußland noch längst nicht verloren, ander¬
seits spielen sie auch als Ausfuhrhäfen für russisches Holz noch eine gewisse
Rolle.


Das „baltische" Rußland

naturgemäß viel schwerer, natürliche Landschaften zu unterscheiden, wie etwa in
dem bunten Mosaik des Deutschen Reiches. Aber auch dort ist eine derartige
Einteilung schon gemacht worden, wie ein Blick in die allerdings spärlichen
modernen Landeskunden Rußlands zeigt. Im folgenden soll nun der Versuch
gewagt werden, wenigstens andeutungsweise ein Gebiet, das gerade jetzt im
Vordergründe unseres Interesses steht, das nordwestliche Nußland zu einer ein¬
heitlichen Landschaft zusammenzufassen. Wir wollen darunter im wesentlichen
das Abflußgebiet der Weichsel von ihrem Austritt aus dem Karpathenland an,
des Riemen, der Dura und der kleineren Flüsse Estlands und Jngermanlands
verstehen, also ein Gebiet, das Russisch - Polen, die russischen Ostseeprovinzen,
sowie Teile von Weißrußland (bes. Litauen) umfaßt und streng genommen
auch West- und Ostpreußen mit einschließen müßte und dessen Binnengrenze etwa
vom polnischen Bug und den Pripetsümpfen, entlang dem westrussischen Land¬
rücken und über die Waldaihöhen nach Se. Petersburgs Umgebung läuft.
Dieses so umgrenzte Gebiet wollen wir das „baltische Rußland" nennen; denn
es steht mehr oder weniger unter dem Einfluß der Ostsee und gehört zum
„Ostseegebiet", dem alten ,Mare IZaltiLum". Dieser Name taucht übrigens
erst um 1070 bei Adam von Bremen auf und soll seinen Ursprung aus dem
Litauischen haben, wo „balto8" soviel wie „Sumpffeld", „Tümpel" oder gar
nur „Wasser" bedeutet. Bekanntlich brachte die „Baltische Ausstellung" in
Malmö 1914, auf der sich die vier Grenzstaaten des Baltischen Meeres. Deutsch¬
land, Dänemark, Schiveden und Rußland zu friedlichem Wettbewerbe vereinigten,
diesen Ausdruck wieder zu Ehren. In seiner „Länderkunde von Europa" (1906)
spricht Philippson schon zutreffend von einer „baltischen Abdachung" Rußlands,
worunter er das vom westrussischen Landrücken und der Waldaihöhe halbkreis¬
förmig umschlossene Gebiet versteht (S. 680). Für die Küstenzone selbst findet
sich auch der Ausdruck „Baltisches Tiefland", die eigentlichen Ostseeprovinzen
beschreibt eine neue „Baltische Landeskunde" (Riga 1911), aber „Ostbaltikum"
und „Ostballisches Tiefland" sind weniger glückliche Bezeichnungen. G. Braun
unterschied 1912 in seinem trefflichen Büchlein „Das Ostseegebiet" (Aus Natur
und Geisteswelt, Ur. 367, Leipzig, B. G. Teubner) die engeren russischen Ostsee¬
provinzen als „baltische Region" von der sich südlich anschließenden „preußischen
Region" durch eine künstliche Grenze, die er von Libau südöstlich zog. Die
Einbeziehung Polens in das weitergefaßte „baltische Nutzland" ist gerechtfertigt
durch gleiche geologische Geschichte, ähnliche Oberflächenformen, Beeinflussung
des Klimas durch die Ostsee, und nicht zuletzt durch eine gewisse wirtschaftliche
Zusammengehörigkeit mit den preußischen Ostseeprovinzen, liegen doch zum
Beispiel Danzig und Königsberg Polen und Litauen näher als russische Häfen
und haben auch durch die Tarifpolitik der russischen Eisenbahnen ihre Be¬
deutung als Einfuhrplütze für Westrußland noch längst nicht verloren, ander¬
seits spielen sie auch als Ausfuhrhäfen für russisches Holz noch eine gewisse
Rolle.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/345>, abgerufen am 01.07.2024.