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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Staatenbund von Nordeuropa

Besonnenheit. -- Es liegt nahe, daß das künftige Schicksal des Königreichs
Belgien schon jetzt den Gegenstand vieler Erörterungen bildet. In der Presse
wurde die Ansicht vertreten, Belgien müsse ganz oder zum großen Teil dem
Deutschen Reich einverleibt werden. Wenn solche Ansichten und Stimmungen
im feindlichen Ausland bekannt geworden sind, so kann das der endgültigen
Regelung der belgischen Frage förderlich sein. Ob es jedoch richtig wäre, die
Drohung zur Ausführung zu bringen, das darf man bezweifeln. Fast alle
Bedenken, die oben wiedergegeben sind, würden sich von neuem erheben. Die
vom Standpunkt des Eroberers vollkommen berechtigte Maßregel würde dem
belgischen Selbstgefühl unheilbare Wunden schlagen. Bitterkeit und Rachsucht
würden dauernd lebendig bleiben. Deutschland hätte einen unversöhnlichen
Feind im Lande, auf den jeder Gegner rechnen könnte. Als Provinz, wie als
Reichsland, wäre Belgien eine beständige Kriegsgefahr. Das Gewicht dieser
Bedenken wird nicht vermindert durch die Erwägung, daß Belgien sich in dem
gegenwärtigen Kriege auf die feindliche Seite gestellt hat und daß in wieder¬
holten Fällen grausam, ja unmenschlich gegen deutsche Soldaten und selbst gegen
Verwundete verfahren ist. Denn über die Frevler sind, soweit es möglich war,
strenge Strafen nach Kriegsrecht verhängt. Und wenn Belgien der englischen
und französischen Verführung zum Opfer fiel, so beruhte das auf der mangelnden
Widerstandskraft des Verführten, auf der Ohnmacht des Kleinstaates. Für
jeden Kleinstaat kommt der Augenblick, da er zum Spielball stärkerer Mächte
wird, wenn er es versäumt, die Folgerungen aus seiner unhaltbaren Lage zu
ziehen, wenn er versäumt, festen und dauernden Anschluß an eine Großmacht
zu suchen. Mag er sich bei kriegerischen Verwicklungen entscheiden, wie er will,
er läuft immer Gefahr, wenn die getroffene Wahl sich später als verfehlt erweist,
seine staatliche Unabhängigkeit einzubüßen. So sind 1866 deutsche Kleinstaaten
von der Karte Europas verschwunden, weil sie bei ihrer Entscheidung nicht das
Richtige getroffen haben. Deswegen könnte auch Belgien sich nicht beklagen,
wenn ihm dasselbe Schicksal zuteil würde. Nur darf der Gesichtspunkt der
Bestrafung nicht dahin führen, das eigene Interesse zu verletzen. Dieses
Interesse wäre aber gefährdet, wie oben dargelegt wurde. Berücksichtigt man
vollends, daß in Belgien nicht allein die herrschende Sprache französisch ist,
sondern auch die Gesinnung und Bildung"), so muß es recht bedenklich erscheinen,
ein solches Land dem Deutschen Reich einzuverleiben. Sind doch selbst mit
Elsaß-Lothringen teilweise schlechte Erfahrungen gemacht worden; die Besorgnisse
des Fürsten Bismarck nach der Richtung haben sich als nicht unbegründet
erwiesen. Ganz anders stellt sich die Rechnung, wenn es gelingt, mit Belgien
gleichzeitig zum Frieden und zum Abschluß eines dauernden Schutz- und Trutz-
bündnisses zu gelangen. Worin die Vorteile eines derartigen Bündnisses für
beide Teile bestehen, das liegt auf der Hand. Belgien behält in dem Fall



*) Vergl. Otto von Pfister, Belgien (Grenzboten vom 23. September 1914).
Staatenbund von Nordeuropa

Besonnenheit. — Es liegt nahe, daß das künftige Schicksal des Königreichs
Belgien schon jetzt den Gegenstand vieler Erörterungen bildet. In der Presse
wurde die Ansicht vertreten, Belgien müsse ganz oder zum großen Teil dem
Deutschen Reich einverleibt werden. Wenn solche Ansichten und Stimmungen
im feindlichen Ausland bekannt geworden sind, so kann das der endgültigen
Regelung der belgischen Frage förderlich sein. Ob es jedoch richtig wäre, die
Drohung zur Ausführung zu bringen, das darf man bezweifeln. Fast alle
Bedenken, die oben wiedergegeben sind, würden sich von neuem erheben. Die
vom Standpunkt des Eroberers vollkommen berechtigte Maßregel würde dem
belgischen Selbstgefühl unheilbare Wunden schlagen. Bitterkeit und Rachsucht
würden dauernd lebendig bleiben. Deutschland hätte einen unversöhnlichen
Feind im Lande, auf den jeder Gegner rechnen könnte. Als Provinz, wie als
Reichsland, wäre Belgien eine beständige Kriegsgefahr. Das Gewicht dieser
Bedenken wird nicht vermindert durch die Erwägung, daß Belgien sich in dem
gegenwärtigen Kriege auf die feindliche Seite gestellt hat und daß in wieder¬
holten Fällen grausam, ja unmenschlich gegen deutsche Soldaten und selbst gegen
Verwundete verfahren ist. Denn über die Frevler sind, soweit es möglich war,
strenge Strafen nach Kriegsrecht verhängt. Und wenn Belgien der englischen
und französischen Verführung zum Opfer fiel, so beruhte das auf der mangelnden
Widerstandskraft des Verführten, auf der Ohnmacht des Kleinstaates. Für
jeden Kleinstaat kommt der Augenblick, da er zum Spielball stärkerer Mächte
wird, wenn er es versäumt, die Folgerungen aus seiner unhaltbaren Lage zu
ziehen, wenn er versäumt, festen und dauernden Anschluß an eine Großmacht
zu suchen. Mag er sich bei kriegerischen Verwicklungen entscheiden, wie er will,
er läuft immer Gefahr, wenn die getroffene Wahl sich später als verfehlt erweist,
seine staatliche Unabhängigkeit einzubüßen. So sind 1866 deutsche Kleinstaaten
von der Karte Europas verschwunden, weil sie bei ihrer Entscheidung nicht das
Richtige getroffen haben. Deswegen könnte auch Belgien sich nicht beklagen,
wenn ihm dasselbe Schicksal zuteil würde. Nur darf der Gesichtspunkt der
Bestrafung nicht dahin führen, das eigene Interesse zu verletzen. Dieses
Interesse wäre aber gefährdet, wie oben dargelegt wurde. Berücksichtigt man
vollends, daß in Belgien nicht allein die herrschende Sprache französisch ist,
sondern auch die Gesinnung und Bildung"), so muß es recht bedenklich erscheinen,
ein solches Land dem Deutschen Reich einzuverleiben. Sind doch selbst mit
Elsaß-Lothringen teilweise schlechte Erfahrungen gemacht worden; die Besorgnisse
des Fürsten Bismarck nach der Richtung haben sich als nicht unbegründet
erwiesen. Ganz anders stellt sich die Rechnung, wenn es gelingt, mit Belgien
gleichzeitig zum Frieden und zum Abschluß eines dauernden Schutz- und Trutz-
bündnisses zu gelangen. Worin die Vorteile eines derartigen Bündnisses für
beide Teile bestehen, das liegt auf der Hand. Belgien behält in dem Fall



*) Vergl. Otto von Pfister, Belgien (Grenzboten vom 23. September 1914).
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[0318] Staatenbund von Nordeuropa Besonnenheit. — Es liegt nahe, daß das künftige Schicksal des Königreichs Belgien schon jetzt den Gegenstand vieler Erörterungen bildet. In der Presse wurde die Ansicht vertreten, Belgien müsse ganz oder zum großen Teil dem Deutschen Reich einverleibt werden. Wenn solche Ansichten und Stimmungen im feindlichen Ausland bekannt geworden sind, so kann das der endgültigen Regelung der belgischen Frage förderlich sein. Ob es jedoch richtig wäre, die Drohung zur Ausführung zu bringen, das darf man bezweifeln. Fast alle Bedenken, die oben wiedergegeben sind, würden sich von neuem erheben. Die vom Standpunkt des Eroberers vollkommen berechtigte Maßregel würde dem belgischen Selbstgefühl unheilbare Wunden schlagen. Bitterkeit und Rachsucht würden dauernd lebendig bleiben. Deutschland hätte einen unversöhnlichen Feind im Lande, auf den jeder Gegner rechnen könnte. Als Provinz, wie als Reichsland, wäre Belgien eine beständige Kriegsgefahr. Das Gewicht dieser Bedenken wird nicht vermindert durch die Erwägung, daß Belgien sich in dem gegenwärtigen Kriege auf die feindliche Seite gestellt hat und daß in wieder¬ holten Fällen grausam, ja unmenschlich gegen deutsche Soldaten und selbst gegen Verwundete verfahren ist. Denn über die Frevler sind, soweit es möglich war, strenge Strafen nach Kriegsrecht verhängt. Und wenn Belgien der englischen und französischen Verführung zum Opfer fiel, so beruhte das auf der mangelnden Widerstandskraft des Verführten, auf der Ohnmacht des Kleinstaates. Für jeden Kleinstaat kommt der Augenblick, da er zum Spielball stärkerer Mächte wird, wenn er es versäumt, die Folgerungen aus seiner unhaltbaren Lage zu ziehen, wenn er versäumt, festen und dauernden Anschluß an eine Großmacht zu suchen. Mag er sich bei kriegerischen Verwicklungen entscheiden, wie er will, er läuft immer Gefahr, wenn die getroffene Wahl sich später als verfehlt erweist, seine staatliche Unabhängigkeit einzubüßen. So sind 1866 deutsche Kleinstaaten von der Karte Europas verschwunden, weil sie bei ihrer Entscheidung nicht das Richtige getroffen haben. Deswegen könnte auch Belgien sich nicht beklagen, wenn ihm dasselbe Schicksal zuteil würde. Nur darf der Gesichtspunkt der Bestrafung nicht dahin führen, das eigene Interesse zu verletzen. Dieses Interesse wäre aber gefährdet, wie oben dargelegt wurde. Berücksichtigt man vollends, daß in Belgien nicht allein die herrschende Sprache französisch ist, sondern auch die Gesinnung und Bildung"), so muß es recht bedenklich erscheinen, ein solches Land dem Deutschen Reich einzuverleiben. Sind doch selbst mit Elsaß-Lothringen teilweise schlechte Erfahrungen gemacht worden; die Besorgnisse des Fürsten Bismarck nach der Richtung haben sich als nicht unbegründet erwiesen. Ganz anders stellt sich die Rechnung, wenn es gelingt, mit Belgien gleichzeitig zum Frieden und zum Abschluß eines dauernden Schutz- und Trutz- bündnisses zu gelangen. Worin die Vorteile eines derartigen Bündnisses für beide Teile bestehen, das liegt auf der Hand. Belgien behält in dem Fall *) Vergl. Otto von Pfister, Belgien (Grenzboten vom 23. September 1914).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/318>, abgerufen am 04.07.2024.