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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

sich durchgearbeitet hat. Ich glaube, eine Auswahl aus den Briefen Mozarts
und seiner Familie würde die Verbreitung des Verständnisses für das menschliche
und künstlerische Wesen des Meisters besser fördern als die Gesamtausgabe.
Freilich weiß ich sehr wohl, daß manches, was uns jetzt unwichtig erscheint, in
irgendeinem wissenschaftlichen Zusammenhang einmal Bedeutung gewinnen kann.
Aber es müßten eben Wege gefunden werden, um den bewunderungswürdigen
Sammelfleiß unserer Gelehrten, wie ihn auch Schieoermair aufgeboten hat, für
die Wissenschaft nutzbar zu machen, ohne doch darum weitere Leserkreise mit
unnötigen und daher schädlichem Ballast zu beschweren. Vielleicht kommt es
einmal dahin, daß man die mühsam zusammengetragenen Briefe und dergleichen
in authentischer Abschrift einer öffentlichen Bibliothek übergibt und nur eine
Auswahl daraus drucken läßt, wobei dann die Kommentierung um so ausführ¬
licher und fruchtbringender ausfallen könnte.

Selbstverständlich stelle ich keinen Augenblick in Abrede, daß die Mozart¬
briefe, wie sie jetzt vorliegen, eine Fülle des Interessanten und Wissenswerten
enthalten. Aber ohne einen Führer wird der praktische Musiker und der Musik-
freund bei der Lektüre der vier Bände kaum auf seine Kosten kommen. Vor
allem ist zu bedenken, daß Mozart selbst einmal schreibt, was ihm am Herzen
liege, könne er weit besser mündlich als schriftlich aussprechen. Wir dürfen also
schon darum nicht hoffen, seinen Charakter aus seinen Briefen vollständig er¬
schließen zu können. Ja, bei Mangel an der nötigen Vorsicht kann es sogar
leicht geschehen, daß wir zu irrtümlichen, für Mozart ungünstigen Anschauungen
verleitet werden. Seine Briese an das "Baste" in Augsburg, Anna Maria
Mozart, wie seine Schwester "Nannerl" genannt, die er auf seiner großen Reise
1777 kennen gelernt hatte, und zu der er in ein tändelndes Verhältnis getreten
war, sind mit derartig derben Scherzen angefüllt, wie sie heute kein auch nur
halbwegs gebildeter junger Mann einem jungen Mädchen gegenüber wagen
würde. Diesen Ton hält er auch auf der Rückreise, als ein Wiedersehen bevor¬
stand, fest, obgleich er inzwischen in Paris seine Mutter hatte begraben müssen.
Es wäre nun aber durchaus verfehlt, wollte man Mozart darum Frivolität
und Herzensroheit vorwerfen. Von Mannheim aus beichtet er einmal feinem
Vater, er habe drei Stunden hindurch in Gemeinschaft mit der Tochter des
Kapellmeisters Cannabich unflätige Reime improvisiert; seine Schuld sei das
nicht gewesen, sondern sie habe ihn dazu angestiftet. Selbst Mozarts Mutter
schreibt an ihren Gatten gelegentlich in jener derben und geschmacklosen Weise.
Offenbar war dieselbe also damals, wo die Geschlechter überhaupt freier mit¬
einander verkehrten als jetzt, zum mindesten geduldet, und zudem muß man die
Neigung des bayrisch-österreichischen Stammes zur Derbheit und Urwüchstgkeit
in Betracht ziehen.

Auch wie Mozart über den bereits erwähnten Tod seiner Mutter berichtet,
gibt uns zu denken. Sie hatte an Stelle des Vaters, der in Salzburg für die
Seinen erwerben mußte, die lange und für sie gewiß beschwerliche Reise unter-


Neue Bücher über Musik

sich durchgearbeitet hat. Ich glaube, eine Auswahl aus den Briefen Mozarts
und seiner Familie würde die Verbreitung des Verständnisses für das menschliche
und künstlerische Wesen des Meisters besser fördern als die Gesamtausgabe.
Freilich weiß ich sehr wohl, daß manches, was uns jetzt unwichtig erscheint, in
irgendeinem wissenschaftlichen Zusammenhang einmal Bedeutung gewinnen kann.
Aber es müßten eben Wege gefunden werden, um den bewunderungswürdigen
Sammelfleiß unserer Gelehrten, wie ihn auch Schieoermair aufgeboten hat, für
die Wissenschaft nutzbar zu machen, ohne doch darum weitere Leserkreise mit
unnötigen und daher schädlichem Ballast zu beschweren. Vielleicht kommt es
einmal dahin, daß man die mühsam zusammengetragenen Briefe und dergleichen
in authentischer Abschrift einer öffentlichen Bibliothek übergibt und nur eine
Auswahl daraus drucken läßt, wobei dann die Kommentierung um so ausführ¬
licher und fruchtbringender ausfallen könnte.

Selbstverständlich stelle ich keinen Augenblick in Abrede, daß die Mozart¬
briefe, wie sie jetzt vorliegen, eine Fülle des Interessanten und Wissenswerten
enthalten. Aber ohne einen Führer wird der praktische Musiker und der Musik-
freund bei der Lektüre der vier Bände kaum auf seine Kosten kommen. Vor
allem ist zu bedenken, daß Mozart selbst einmal schreibt, was ihm am Herzen
liege, könne er weit besser mündlich als schriftlich aussprechen. Wir dürfen also
schon darum nicht hoffen, seinen Charakter aus seinen Briefen vollständig er¬
schließen zu können. Ja, bei Mangel an der nötigen Vorsicht kann es sogar
leicht geschehen, daß wir zu irrtümlichen, für Mozart ungünstigen Anschauungen
verleitet werden. Seine Briese an das „Baste" in Augsburg, Anna Maria
Mozart, wie seine Schwester „Nannerl" genannt, die er auf seiner großen Reise
1777 kennen gelernt hatte, und zu der er in ein tändelndes Verhältnis getreten
war, sind mit derartig derben Scherzen angefüllt, wie sie heute kein auch nur
halbwegs gebildeter junger Mann einem jungen Mädchen gegenüber wagen
würde. Diesen Ton hält er auch auf der Rückreise, als ein Wiedersehen bevor¬
stand, fest, obgleich er inzwischen in Paris seine Mutter hatte begraben müssen.
Es wäre nun aber durchaus verfehlt, wollte man Mozart darum Frivolität
und Herzensroheit vorwerfen. Von Mannheim aus beichtet er einmal feinem
Vater, er habe drei Stunden hindurch in Gemeinschaft mit der Tochter des
Kapellmeisters Cannabich unflätige Reime improvisiert; seine Schuld sei das
nicht gewesen, sondern sie habe ihn dazu angestiftet. Selbst Mozarts Mutter
schreibt an ihren Gatten gelegentlich in jener derben und geschmacklosen Weise.
Offenbar war dieselbe also damals, wo die Geschlechter überhaupt freier mit¬
einander verkehrten als jetzt, zum mindesten geduldet, und zudem muß man die
Neigung des bayrisch-österreichischen Stammes zur Derbheit und Urwüchstgkeit
in Betracht ziehen.

Auch wie Mozart über den bereits erwähnten Tod seiner Mutter berichtet,
gibt uns zu denken. Sie hatte an Stelle des Vaters, der in Salzburg für die
Seinen erwerben mußte, die lange und für sie gewiß beschwerliche Reise unter-


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[0293] Neue Bücher über Musik sich durchgearbeitet hat. Ich glaube, eine Auswahl aus den Briefen Mozarts und seiner Familie würde die Verbreitung des Verständnisses für das menschliche und künstlerische Wesen des Meisters besser fördern als die Gesamtausgabe. Freilich weiß ich sehr wohl, daß manches, was uns jetzt unwichtig erscheint, in irgendeinem wissenschaftlichen Zusammenhang einmal Bedeutung gewinnen kann. Aber es müßten eben Wege gefunden werden, um den bewunderungswürdigen Sammelfleiß unserer Gelehrten, wie ihn auch Schieoermair aufgeboten hat, für die Wissenschaft nutzbar zu machen, ohne doch darum weitere Leserkreise mit unnötigen und daher schädlichem Ballast zu beschweren. Vielleicht kommt es einmal dahin, daß man die mühsam zusammengetragenen Briefe und dergleichen in authentischer Abschrift einer öffentlichen Bibliothek übergibt und nur eine Auswahl daraus drucken läßt, wobei dann die Kommentierung um so ausführ¬ licher und fruchtbringender ausfallen könnte. Selbstverständlich stelle ich keinen Augenblick in Abrede, daß die Mozart¬ briefe, wie sie jetzt vorliegen, eine Fülle des Interessanten und Wissenswerten enthalten. Aber ohne einen Führer wird der praktische Musiker und der Musik- freund bei der Lektüre der vier Bände kaum auf seine Kosten kommen. Vor allem ist zu bedenken, daß Mozart selbst einmal schreibt, was ihm am Herzen liege, könne er weit besser mündlich als schriftlich aussprechen. Wir dürfen also schon darum nicht hoffen, seinen Charakter aus seinen Briefen vollständig er¬ schließen zu können. Ja, bei Mangel an der nötigen Vorsicht kann es sogar leicht geschehen, daß wir zu irrtümlichen, für Mozart ungünstigen Anschauungen verleitet werden. Seine Briese an das „Baste" in Augsburg, Anna Maria Mozart, wie seine Schwester „Nannerl" genannt, die er auf seiner großen Reise 1777 kennen gelernt hatte, und zu der er in ein tändelndes Verhältnis getreten war, sind mit derartig derben Scherzen angefüllt, wie sie heute kein auch nur halbwegs gebildeter junger Mann einem jungen Mädchen gegenüber wagen würde. Diesen Ton hält er auch auf der Rückreise, als ein Wiedersehen bevor¬ stand, fest, obgleich er inzwischen in Paris seine Mutter hatte begraben müssen. Es wäre nun aber durchaus verfehlt, wollte man Mozart darum Frivolität und Herzensroheit vorwerfen. Von Mannheim aus beichtet er einmal feinem Vater, er habe drei Stunden hindurch in Gemeinschaft mit der Tochter des Kapellmeisters Cannabich unflätige Reime improvisiert; seine Schuld sei das nicht gewesen, sondern sie habe ihn dazu angestiftet. Selbst Mozarts Mutter schreibt an ihren Gatten gelegentlich in jener derben und geschmacklosen Weise. Offenbar war dieselbe also damals, wo die Geschlechter überhaupt freier mit¬ einander verkehrten als jetzt, zum mindesten geduldet, und zudem muß man die Neigung des bayrisch-österreichischen Stammes zur Derbheit und Urwüchstgkeit in Betracht ziehen. Auch wie Mozart über den bereits erwähnten Tod seiner Mutter berichtet, gibt uns zu denken. Sie hatte an Stelle des Vaters, der in Salzburg für die Seinen erwerben mußte, die lange und für sie gewiß beschwerliche Reise unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/293>, abgerufen am 02.07.2024.