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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Zufriedenheit

Verglich man, was bei uns in Politik und Landesverteidigung, Recht¬
sprechung und Gesetzgebung erreicht war, mit dem Ausland (wenn man es näher
kannte), so kam man regelmäßig zu dem Schluß, daß es uns im Sichtbaren
recht gut ging und daß wir, alles in allem genommen, durchaus Grund zu
einer vernünftigen Zufriedenheit hatten. Wir konnten stolz sein auf unsere, nach
menschlicher Möglichkeit vollkommenen Einrichtungen, dankbar einer Regierung,
die überall den Anforderungen der Sache den Vorrang verschaffte. Schon der
Auftakt des Krieges hat denn auch jene Verdrossenheit rasch genug erledigt, die
Überlegenheit unserer Ordnung war von Anfang an klar.

Eines jedoch mußte zugegeben werden: was der ausgezeichnete Sach¬
dienst unserer Berufsregierung, ihr alles beherrschender Dienstbegriff nicht hat
pflegen lassen, das sind die Formen im Verkehr mit den Regierten. Dieser
Mangel war zuzugeben und war um so betrüblicher, als auch der geschäftliche
und gesellschaftliche Verkehr nach und nach ziemlich holperig geworden war,
man stieß berechtigten Empfindungen, wenn auch ohne verletzende Absicht, oft
vor den Kopf. Heut aber besorgen wir das letztere unseren Feinden und halten
unter uns selbst, Schulter an Schulter, sehr gut zusammen, ganz erstaunlich gut
-- sollte davon, von diesem Zusammenhalt und gemeinsamen Dank nicht
etwas hinübergerettet werden können? In die Zeiten des Friedens??

Die Schule, fortgesetzte eigene und gegenseitige Schulung, haben uns
manches erreichen lassen, aber wessen Augen und Rücken gesund und gerade
geblieben sind, sagt sich, daß wir des Guten zuviel tun, zuviel Vorschriften für
alles und jeden schaffen, daß diese allgegenwärtige Ordnung, die Fünfe niemals
gerade sein lassen kann, den Mann schließlich erdrücken, die Zahl der Grollenden
immer weiter anschwellen lassen muß.

Erziehung ist eine Wohltat, fortwährende Erziehung eine Plage. Der
Mensch muß, bis auf weiteres, auch einen Fehler machen, er muß sogar Fehler
haben dürfen. Die bloße, negativ tugendhafte Angst vor Kritik tut am liebsten
überhaupt nichts, paßt nur auf, ob die andern auch nichts "tun". Die
Besserungsanstalt ist fertig, der Mann als Ganzer, mit seinen Fehlern, soll
nicht ganz bleiben und darf gar nicht zufrieden sein. Jeder ganze Mann,
jedes gesunde Volk dagegen ist es, hängt recht und schlecht am Alten, will
davon nicht lassen. Siehe die nordischen Länder, die von einem beneidenswert
ruhigen Tiefgang sind. Man fühlt dort und denkt ungleich konservativer als
bei uns. Und warum? Weil der Sinn, in dem Gesetze und Gedanken ge¬
handhabt werden, liberal ist, ausgesprochen liberaler als irgendwo. Es muß
weit kommen, ehe der Mann nicht mehr sicher ist, als Herr angesehen, als
solcher und mit diesem alleinigen Titel höflich behandelt zu werden. Das ver¬
söhnt, das Gegenteil vergiftet. Darum bewähren sich Sitte und Überlieferung
dort als Mächte, deren Druck niemand empfindet. Man hat noch Humor und
kommt aus. Mit wenig Negierung, wenig Reibung und noch weniger
Aufsicht, die nun einmal nirgends geliebt wird.


Zufriedenheit

Verglich man, was bei uns in Politik und Landesverteidigung, Recht¬
sprechung und Gesetzgebung erreicht war, mit dem Ausland (wenn man es näher
kannte), so kam man regelmäßig zu dem Schluß, daß es uns im Sichtbaren
recht gut ging und daß wir, alles in allem genommen, durchaus Grund zu
einer vernünftigen Zufriedenheit hatten. Wir konnten stolz sein auf unsere, nach
menschlicher Möglichkeit vollkommenen Einrichtungen, dankbar einer Regierung,
die überall den Anforderungen der Sache den Vorrang verschaffte. Schon der
Auftakt des Krieges hat denn auch jene Verdrossenheit rasch genug erledigt, die
Überlegenheit unserer Ordnung war von Anfang an klar.

Eines jedoch mußte zugegeben werden: was der ausgezeichnete Sach¬
dienst unserer Berufsregierung, ihr alles beherrschender Dienstbegriff nicht hat
pflegen lassen, das sind die Formen im Verkehr mit den Regierten. Dieser
Mangel war zuzugeben und war um so betrüblicher, als auch der geschäftliche
und gesellschaftliche Verkehr nach und nach ziemlich holperig geworden war,
man stieß berechtigten Empfindungen, wenn auch ohne verletzende Absicht, oft
vor den Kopf. Heut aber besorgen wir das letztere unseren Feinden und halten
unter uns selbst, Schulter an Schulter, sehr gut zusammen, ganz erstaunlich gut
— sollte davon, von diesem Zusammenhalt und gemeinsamen Dank nicht
etwas hinübergerettet werden können? In die Zeiten des Friedens??

Die Schule, fortgesetzte eigene und gegenseitige Schulung, haben uns
manches erreichen lassen, aber wessen Augen und Rücken gesund und gerade
geblieben sind, sagt sich, daß wir des Guten zuviel tun, zuviel Vorschriften für
alles und jeden schaffen, daß diese allgegenwärtige Ordnung, die Fünfe niemals
gerade sein lassen kann, den Mann schließlich erdrücken, die Zahl der Grollenden
immer weiter anschwellen lassen muß.

Erziehung ist eine Wohltat, fortwährende Erziehung eine Plage. Der
Mensch muß, bis auf weiteres, auch einen Fehler machen, er muß sogar Fehler
haben dürfen. Die bloße, negativ tugendhafte Angst vor Kritik tut am liebsten
überhaupt nichts, paßt nur auf, ob die andern auch nichts „tun". Die
Besserungsanstalt ist fertig, der Mann als Ganzer, mit seinen Fehlern, soll
nicht ganz bleiben und darf gar nicht zufrieden sein. Jeder ganze Mann,
jedes gesunde Volk dagegen ist es, hängt recht und schlecht am Alten, will
davon nicht lassen. Siehe die nordischen Länder, die von einem beneidenswert
ruhigen Tiefgang sind. Man fühlt dort und denkt ungleich konservativer als
bei uns. Und warum? Weil der Sinn, in dem Gesetze und Gedanken ge¬
handhabt werden, liberal ist, ausgesprochen liberaler als irgendwo. Es muß
weit kommen, ehe der Mann nicht mehr sicher ist, als Herr angesehen, als
solcher und mit diesem alleinigen Titel höflich behandelt zu werden. Das ver¬
söhnt, das Gegenteil vergiftet. Darum bewähren sich Sitte und Überlieferung
dort als Mächte, deren Druck niemand empfindet. Man hat noch Humor und
kommt aus. Mit wenig Negierung, wenig Reibung und noch weniger
Aufsicht, die nun einmal nirgends geliebt wird.


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[0206] Zufriedenheit Verglich man, was bei uns in Politik und Landesverteidigung, Recht¬ sprechung und Gesetzgebung erreicht war, mit dem Ausland (wenn man es näher kannte), so kam man regelmäßig zu dem Schluß, daß es uns im Sichtbaren recht gut ging und daß wir, alles in allem genommen, durchaus Grund zu einer vernünftigen Zufriedenheit hatten. Wir konnten stolz sein auf unsere, nach menschlicher Möglichkeit vollkommenen Einrichtungen, dankbar einer Regierung, die überall den Anforderungen der Sache den Vorrang verschaffte. Schon der Auftakt des Krieges hat denn auch jene Verdrossenheit rasch genug erledigt, die Überlegenheit unserer Ordnung war von Anfang an klar. Eines jedoch mußte zugegeben werden: was der ausgezeichnete Sach¬ dienst unserer Berufsregierung, ihr alles beherrschender Dienstbegriff nicht hat pflegen lassen, das sind die Formen im Verkehr mit den Regierten. Dieser Mangel war zuzugeben und war um so betrüblicher, als auch der geschäftliche und gesellschaftliche Verkehr nach und nach ziemlich holperig geworden war, man stieß berechtigten Empfindungen, wenn auch ohne verletzende Absicht, oft vor den Kopf. Heut aber besorgen wir das letztere unseren Feinden und halten unter uns selbst, Schulter an Schulter, sehr gut zusammen, ganz erstaunlich gut — sollte davon, von diesem Zusammenhalt und gemeinsamen Dank nicht etwas hinübergerettet werden können? In die Zeiten des Friedens?? Die Schule, fortgesetzte eigene und gegenseitige Schulung, haben uns manches erreichen lassen, aber wessen Augen und Rücken gesund und gerade geblieben sind, sagt sich, daß wir des Guten zuviel tun, zuviel Vorschriften für alles und jeden schaffen, daß diese allgegenwärtige Ordnung, die Fünfe niemals gerade sein lassen kann, den Mann schließlich erdrücken, die Zahl der Grollenden immer weiter anschwellen lassen muß. Erziehung ist eine Wohltat, fortwährende Erziehung eine Plage. Der Mensch muß, bis auf weiteres, auch einen Fehler machen, er muß sogar Fehler haben dürfen. Die bloße, negativ tugendhafte Angst vor Kritik tut am liebsten überhaupt nichts, paßt nur auf, ob die andern auch nichts „tun". Die Besserungsanstalt ist fertig, der Mann als Ganzer, mit seinen Fehlern, soll nicht ganz bleiben und darf gar nicht zufrieden sein. Jeder ganze Mann, jedes gesunde Volk dagegen ist es, hängt recht und schlecht am Alten, will davon nicht lassen. Siehe die nordischen Länder, die von einem beneidenswert ruhigen Tiefgang sind. Man fühlt dort und denkt ungleich konservativer als bei uns. Und warum? Weil der Sinn, in dem Gesetze und Gedanken ge¬ handhabt werden, liberal ist, ausgesprochen liberaler als irgendwo. Es muß weit kommen, ehe der Mann nicht mehr sicher ist, als Herr angesehen, als solcher und mit diesem alleinigen Titel höflich behandelt zu werden. Das ver¬ söhnt, das Gegenteil vergiftet. Darum bewähren sich Sitte und Überlieferung dort als Mächte, deren Druck niemand empfindet. Man hat noch Humor und kommt aus. Mit wenig Negierung, wenig Reibung und noch weniger Aufsicht, die nun einmal nirgends geliebt wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/206>, abgerufen am 26.06.2024.