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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem der Ukraina

Abhängigkeit von Petrograd. Deutsche, Juden, Griechen, mehr oder minder
moskowistert und vielfach Hörige des französischen und belgischen Geldmarktes,
daneben polnische Magnaten mit sehr verwässerten Nationalbewußtsein, das
sind, ergänzt durch nicht eben viele eingewanderte Moskowiter, diejenigen, die
scheinbar die Führung der ukrainischen Wirtschaft in der Hand halten. Eine
einheitliche geistige Führung besteht gegenwärtig auch nicht. Die Regierungspolitik
versagt vollständig. Sobald sie irgendwie positiv wirken will, sei es durch die
Kirche, wie etwa durch die Brüderschaften der Gräfin Bludowa, sei es durch die
Schule oder durch nationale Vereine, so muß sie sich der kleinrussischen
Sprache bedienen, um überhaupt an das Volk heranzukommen. Dasselbe
gilt von den Sjemstwoinstitutionen. Wo sich die Regierung ans Volk direkt
wendet, muß sie aufhören sich moskowitisch zu gebärden. Und das ist
der schwache Punkt in ihrer gegenwärtigen Lage: sie verrichtet einen Teil
der Arbeit jener Ideologen, die dem Volk Bildung bringen wollen, -- das sicherste
Mittel zum Kampf gegen die Ausbeutung der moskowitischen Usurpatoren.
Gewiß, die gegenwärtigen Führer der Ukraina sind Ideologen, romantische
Theoretiker, Gelehrte, Schriftsteller und Dichter, woraus wieder die Mosko¬
witer glauben, ihr Recht zur Behauptung herleiten zu dürfen, daß die Ukrainer
Bewegung eine literarische ist; aber diese Ideologen sind selbstlose Freunde des
kleinrussischen Volkstums, die jene Wolostintelligenz erziehen und die seit Jahren
vor allen Dingen für das kämpfen, was dem Volke am meisten fehlt und was
die Vorbedingung für jede politische Entwicklung ist, für die nationale,
ukrainische Volksschule. Wer heute der ukrainischen Intelligenz diese zu¬
zusichern vermöchte, gleichgültig ob er Deutscher, Österreicher oder Rumäne hieße,
der würde die politische Freundschaft der Ukraina erwerben. Weil die Mosko¬
witer, weil die Petrograder Regierung den Ukrainern gerade die nationale Schule
glaubt vorenthalten zu müssen, weil die ganze Politik der Moskowiter schon
seit zweihundert Jahren darauf gerichtet ist, die sich vertrauensvoll ihnen
anschließenden Völker erst zu demoralisieren, ihnen das soziale Rückgrat zu
brechen, sie wirtschaftlich auszuplündern um sie dann auch zu entnationalisieren,
eben darum bilden die Ukrainer ein staatsfeindliches Element für das heutige
Rußland. Darum fordern sie für sich mehr als kulturelle Autonomie, nämlich
die Unabhängigkeit von Rußland.




Grenzboten IV 1914
Das Problem der Ukraina

Abhängigkeit von Petrograd. Deutsche, Juden, Griechen, mehr oder minder
moskowistert und vielfach Hörige des französischen und belgischen Geldmarktes,
daneben polnische Magnaten mit sehr verwässerten Nationalbewußtsein, das
sind, ergänzt durch nicht eben viele eingewanderte Moskowiter, diejenigen, die
scheinbar die Führung der ukrainischen Wirtschaft in der Hand halten. Eine
einheitliche geistige Führung besteht gegenwärtig auch nicht. Die Regierungspolitik
versagt vollständig. Sobald sie irgendwie positiv wirken will, sei es durch die
Kirche, wie etwa durch die Brüderschaften der Gräfin Bludowa, sei es durch die
Schule oder durch nationale Vereine, so muß sie sich der kleinrussischen
Sprache bedienen, um überhaupt an das Volk heranzukommen. Dasselbe
gilt von den Sjemstwoinstitutionen. Wo sich die Regierung ans Volk direkt
wendet, muß sie aufhören sich moskowitisch zu gebärden. Und das ist
der schwache Punkt in ihrer gegenwärtigen Lage: sie verrichtet einen Teil
der Arbeit jener Ideologen, die dem Volk Bildung bringen wollen, — das sicherste
Mittel zum Kampf gegen die Ausbeutung der moskowitischen Usurpatoren.
Gewiß, die gegenwärtigen Führer der Ukraina sind Ideologen, romantische
Theoretiker, Gelehrte, Schriftsteller und Dichter, woraus wieder die Mosko¬
witer glauben, ihr Recht zur Behauptung herleiten zu dürfen, daß die Ukrainer
Bewegung eine literarische ist; aber diese Ideologen sind selbstlose Freunde des
kleinrussischen Volkstums, die jene Wolostintelligenz erziehen und die seit Jahren
vor allen Dingen für das kämpfen, was dem Volke am meisten fehlt und was
die Vorbedingung für jede politische Entwicklung ist, für die nationale,
ukrainische Volksschule. Wer heute der ukrainischen Intelligenz diese zu¬
zusichern vermöchte, gleichgültig ob er Deutscher, Österreicher oder Rumäne hieße,
der würde die politische Freundschaft der Ukraina erwerben. Weil die Mosko¬
witer, weil die Petrograder Regierung den Ukrainern gerade die nationale Schule
glaubt vorenthalten zu müssen, weil die ganze Politik der Moskowiter schon
seit zweihundert Jahren darauf gerichtet ist, die sich vertrauensvoll ihnen
anschließenden Völker erst zu demoralisieren, ihnen das soziale Rückgrat zu
brechen, sie wirtschaftlich auszuplündern um sie dann auch zu entnationalisieren,
eben darum bilden die Ukrainer ein staatsfeindliches Element für das heutige
Rußland. Darum fordern sie für sich mehr als kulturelle Autonomie, nämlich
die Unabhängigkeit von Rußland.




Grenzboten IV 1914
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[0189] Das Problem der Ukraina Abhängigkeit von Petrograd. Deutsche, Juden, Griechen, mehr oder minder moskowistert und vielfach Hörige des französischen und belgischen Geldmarktes, daneben polnische Magnaten mit sehr verwässerten Nationalbewußtsein, das sind, ergänzt durch nicht eben viele eingewanderte Moskowiter, diejenigen, die scheinbar die Führung der ukrainischen Wirtschaft in der Hand halten. Eine einheitliche geistige Führung besteht gegenwärtig auch nicht. Die Regierungspolitik versagt vollständig. Sobald sie irgendwie positiv wirken will, sei es durch die Kirche, wie etwa durch die Brüderschaften der Gräfin Bludowa, sei es durch die Schule oder durch nationale Vereine, so muß sie sich der kleinrussischen Sprache bedienen, um überhaupt an das Volk heranzukommen. Dasselbe gilt von den Sjemstwoinstitutionen. Wo sich die Regierung ans Volk direkt wendet, muß sie aufhören sich moskowitisch zu gebärden. Und das ist der schwache Punkt in ihrer gegenwärtigen Lage: sie verrichtet einen Teil der Arbeit jener Ideologen, die dem Volk Bildung bringen wollen, — das sicherste Mittel zum Kampf gegen die Ausbeutung der moskowitischen Usurpatoren. Gewiß, die gegenwärtigen Führer der Ukraina sind Ideologen, romantische Theoretiker, Gelehrte, Schriftsteller und Dichter, woraus wieder die Mosko¬ witer glauben, ihr Recht zur Behauptung herleiten zu dürfen, daß die Ukrainer Bewegung eine literarische ist; aber diese Ideologen sind selbstlose Freunde des kleinrussischen Volkstums, die jene Wolostintelligenz erziehen und die seit Jahren vor allen Dingen für das kämpfen, was dem Volke am meisten fehlt und was die Vorbedingung für jede politische Entwicklung ist, für die nationale, ukrainische Volksschule. Wer heute der ukrainischen Intelligenz diese zu¬ zusichern vermöchte, gleichgültig ob er Deutscher, Österreicher oder Rumäne hieße, der würde die politische Freundschaft der Ukraina erwerben. Weil die Mosko¬ witer, weil die Petrograder Regierung den Ukrainern gerade die nationale Schule glaubt vorenthalten zu müssen, weil die ganze Politik der Moskowiter schon seit zweihundert Jahren darauf gerichtet ist, die sich vertrauensvoll ihnen anschließenden Völker erst zu demoralisieren, ihnen das soziale Rückgrat zu brechen, sie wirtschaftlich auszuplündern um sie dann auch zu entnationalisieren, eben darum bilden die Ukrainer ein staatsfeindliches Element für das heutige Rußland. Darum fordern sie für sich mehr als kulturelle Autonomie, nämlich die Unabhängigkeit von Rußland. Grenzboten IV 1914

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/189>, abgerufen am 30.06.2024.