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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem der Ukraina

Anwaltschaft und zum Arztberuf drängt, dadurch gewisse russische Staatsbürger¬
rechte erwirbt und großen geistigen Einfluß auf die sehr ungebildeten indigenen
Schichten gewinnt. In Charkow und besonders in Kijew sind an den Univer¬
sitäten starke Herde der ukrainischen Ideen, beschickt von vorwärtsstrebender
Popen- und Bauernsöhnen; in Odessa, mit seiner in allen sozialen Schichten
durchaus kosmopolitisch zusammengesetzten Bevölkerung, interessiert man sich mehr
für soziale Probleme; in den Industriebezirken herrscht radikaler Sozialismus vor,
der freilich der Autonomie der Nationalitäten, also auch der Ukrainer grundsätzlich
wohl gesinnt ist. Die am weitesten verbreiteten Tageszeitungen, wie Jushny
Kraj in Charkow und Kijewskaja Mysl in Kijew stehen der Bewegung sympathisch
gegenüber, während der im Auslande bekanntere Kijewljanin durchaus den
moskowitischen Standpunkt vertritt.

Doch es sind heute nicht mehr die revolutionär-sozialistischen und literarischen
Organisationen allein, die den Wiederaufbau einer ukrainischen Nation betreiben.
Seit einigen Jahren hat auch die westliche Ukraina eine gegen früher erheblich
selbständigere Sjemstwo (Selbstverwaltung der Provinz). Um den Einfluß des
polnischen Großgrundbesitzes in den Gouvernements Wolhnnien, Podolien und
Kijew nach Möglichkeit zurückzudrängen, hat man dort die sogenannte kleine
Sjemstwo, das ist neben Gouvernements- und Kreis-Sjemstwo auch noch eine
solche für die Wolost, gewissermaßen ein Verband bäuerlicher Gemeinden,
eingeführt. Durch diese Einrichtung wird es tatsächlich möglich sein, das
polnische Element bis zu einem gewissen Grade zurückzuhalten. Aber es
ist nicht anzunehmen, daß der ukrainische, aus der indigenen Bevölkerung her¬
vorgegangene und an den Hochschulen von Kijew, Charkow und Odessa heran'
gebildete Sjemstwobeamte eine andere Stellung gegen den Staat einnimmt, wie
der russische in den 1870 er Jahren. Damals waren die Sjemstwobeamten
Träger des Volksgängertums, das Material für die revolutionären Parteien der
Narodniki und Sozialrevolutionäre. In der Ukraina rechnet man bestimmt damit,
daß die Beamten der Sjemstwo Träger der nationalen ukrainischen Bewegung
sein werden, wie es vor dreißig Jahren Dragomanow war. -- d. h. ukrainisch¬
sozialistisch und autonomisch. Noch haben zwar diese Kreise die Führung nicht,
weil die Sjemstwo erst vor drei oder vier Jahren im Westgebiet eingeführt ist,
aber es kann nicht lange dauern, so wird der Sjemstwobeamte das Rückgrat
der national-staatlichen Organisation der Ukraina bilden.

Aus dieser Skizze der Wirtschaftsgeschichte und der wirtschaftlichen und
sozialen Struktur der Ukraina wird es dem weiterblickenden Politiker ohne
weiteres verständlich, welche Bedeutung die einzelnen sozialen Schichten durch
ihre nationale und kulturelle Verschiedenheit für die politische Behandlung der
ganzen Frage gewinnen. Fassen wir das Gesagte zusammen, so darf als fest¬
stehend angenommen werden, daß gegenwärtig eine im modernen Sinne führende
Schicht, also weder ein führender Landadel noch hervorragende städtische
kapitalistische Unternehmer in der Ukraina vorhanden sind. Was führt ist in


Das Problem der Ukraina

Anwaltschaft und zum Arztberuf drängt, dadurch gewisse russische Staatsbürger¬
rechte erwirbt und großen geistigen Einfluß auf die sehr ungebildeten indigenen
Schichten gewinnt. In Charkow und besonders in Kijew sind an den Univer¬
sitäten starke Herde der ukrainischen Ideen, beschickt von vorwärtsstrebender
Popen- und Bauernsöhnen; in Odessa, mit seiner in allen sozialen Schichten
durchaus kosmopolitisch zusammengesetzten Bevölkerung, interessiert man sich mehr
für soziale Probleme; in den Industriebezirken herrscht radikaler Sozialismus vor,
der freilich der Autonomie der Nationalitäten, also auch der Ukrainer grundsätzlich
wohl gesinnt ist. Die am weitesten verbreiteten Tageszeitungen, wie Jushny
Kraj in Charkow und Kijewskaja Mysl in Kijew stehen der Bewegung sympathisch
gegenüber, während der im Auslande bekanntere Kijewljanin durchaus den
moskowitischen Standpunkt vertritt.

Doch es sind heute nicht mehr die revolutionär-sozialistischen und literarischen
Organisationen allein, die den Wiederaufbau einer ukrainischen Nation betreiben.
Seit einigen Jahren hat auch die westliche Ukraina eine gegen früher erheblich
selbständigere Sjemstwo (Selbstverwaltung der Provinz). Um den Einfluß des
polnischen Großgrundbesitzes in den Gouvernements Wolhnnien, Podolien und
Kijew nach Möglichkeit zurückzudrängen, hat man dort die sogenannte kleine
Sjemstwo, das ist neben Gouvernements- und Kreis-Sjemstwo auch noch eine
solche für die Wolost, gewissermaßen ein Verband bäuerlicher Gemeinden,
eingeführt. Durch diese Einrichtung wird es tatsächlich möglich sein, das
polnische Element bis zu einem gewissen Grade zurückzuhalten. Aber es
ist nicht anzunehmen, daß der ukrainische, aus der indigenen Bevölkerung her¬
vorgegangene und an den Hochschulen von Kijew, Charkow und Odessa heran'
gebildete Sjemstwobeamte eine andere Stellung gegen den Staat einnimmt, wie
der russische in den 1870 er Jahren. Damals waren die Sjemstwobeamten
Träger des Volksgängertums, das Material für die revolutionären Parteien der
Narodniki und Sozialrevolutionäre. In der Ukraina rechnet man bestimmt damit,
daß die Beamten der Sjemstwo Träger der nationalen ukrainischen Bewegung
sein werden, wie es vor dreißig Jahren Dragomanow war. — d. h. ukrainisch¬
sozialistisch und autonomisch. Noch haben zwar diese Kreise die Führung nicht,
weil die Sjemstwo erst vor drei oder vier Jahren im Westgebiet eingeführt ist,
aber es kann nicht lange dauern, so wird der Sjemstwobeamte das Rückgrat
der national-staatlichen Organisation der Ukraina bilden.

Aus dieser Skizze der Wirtschaftsgeschichte und der wirtschaftlichen und
sozialen Struktur der Ukraina wird es dem weiterblickenden Politiker ohne
weiteres verständlich, welche Bedeutung die einzelnen sozialen Schichten durch
ihre nationale und kulturelle Verschiedenheit für die politische Behandlung der
ganzen Frage gewinnen. Fassen wir das Gesagte zusammen, so darf als fest¬
stehend angenommen werden, daß gegenwärtig eine im modernen Sinne führende
Schicht, also weder ein führender Landadel noch hervorragende städtische
kapitalistische Unternehmer in der Ukraina vorhanden sind. Was führt ist in


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[0188] Das Problem der Ukraina Anwaltschaft und zum Arztberuf drängt, dadurch gewisse russische Staatsbürger¬ rechte erwirbt und großen geistigen Einfluß auf die sehr ungebildeten indigenen Schichten gewinnt. In Charkow und besonders in Kijew sind an den Univer¬ sitäten starke Herde der ukrainischen Ideen, beschickt von vorwärtsstrebender Popen- und Bauernsöhnen; in Odessa, mit seiner in allen sozialen Schichten durchaus kosmopolitisch zusammengesetzten Bevölkerung, interessiert man sich mehr für soziale Probleme; in den Industriebezirken herrscht radikaler Sozialismus vor, der freilich der Autonomie der Nationalitäten, also auch der Ukrainer grundsätzlich wohl gesinnt ist. Die am weitesten verbreiteten Tageszeitungen, wie Jushny Kraj in Charkow und Kijewskaja Mysl in Kijew stehen der Bewegung sympathisch gegenüber, während der im Auslande bekanntere Kijewljanin durchaus den moskowitischen Standpunkt vertritt. Doch es sind heute nicht mehr die revolutionär-sozialistischen und literarischen Organisationen allein, die den Wiederaufbau einer ukrainischen Nation betreiben. Seit einigen Jahren hat auch die westliche Ukraina eine gegen früher erheblich selbständigere Sjemstwo (Selbstverwaltung der Provinz). Um den Einfluß des polnischen Großgrundbesitzes in den Gouvernements Wolhnnien, Podolien und Kijew nach Möglichkeit zurückzudrängen, hat man dort die sogenannte kleine Sjemstwo, das ist neben Gouvernements- und Kreis-Sjemstwo auch noch eine solche für die Wolost, gewissermaßen ein Verband bäuerlicher Gemeinden, eingeführt. Durch diese Einrichtung wird es tatsächlich möglich sein, das polnische Element bis zu einem gewissen Grade zurückzuhalten. Aber es ist nicht anzunehmen, daß der ukrainische, aus der indigenen Bevölkerung her¬ vorgegangene und an den Hochschulen von Kijew, Charkow und Odessa heran' gebildete Sjemstwobeamte eine andere Stellung gegen den Staat einnimmt, wie der russische in den 1870 er Jahren. Damals waren die Sjemstwobeamten Träger des Volksgängertums, das Material für die revolutionären Parteien der Narodniki und Sozialrevolutionäre. In der Ukraina rechnet man bestimmt damit, daß die Beamten der Sjemstwo Träger der nationalen ukrainischen Bewegung sein werden, wie es vor dreißig Jahren Dragomanow war. — d. h. ukrainisch¬ sozialistisch und autonomisch. Noch haben zwar diese Kreise die Führung nicht, weil die Sjemstwo erst vor drei oder vier Jahren im Westgebiet eingeführt ist, aber es kann nicht lange dauern, so wird der Sjemstwobeamte das Rückgrat der national-staatlichen Organisation der Ukraina bilden. Aus dieser Skizze der Wirtschaftsgeschichte und der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Ukraina wird es dem weiterblickenden Politiker ohne weiteres verständlich, welche Bedeutung die einzelnen sozialen Schichten durch ihre nationale und kulturelle Verschiedenheit für die politische Behandlung der ganzen Frage gewinnen. Fassen wir das Gesagte zusammen, so darf als fest¬ stehend angenommen werden, daß gegenwärtig eine im modernen Sinne führende Schicht, also weder ein führender Landadel noch hervorragende städtische kapitalistische Unternehmer in der Ukraina vorhanden sind. Was führt ist in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/188>, abgerufen am 02.07.2024.