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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das Problem der Ukraina

gewiß nicht Aufgabe jener fränkischen Bankiers, der russische Staat aber gibt
nichts dafür ab, weil seine Machthaber, die Emporkömmlinge aus dem Beamten¬
adel, die die einheimischen Führer verdrängt haben, nur ihren eigenen Interessen
leben, nicht aber dem so dreist mit dem allslawischen Namen verbrämten Ideal.

Das reiche Land der Ukraina ernährt mit seinem Getreide und seiner
Industrie den ganzen russischen Staat und eine ganze Reihe französischer und
belgischer Geldleute dazu. Das ukrainische Volk, das doch zur Nutzbarmachung
aller dieser Reichtümer sein ganzes Können einsetzt, muß an Leib und Seele
darben.

Ich habe weder in der sehr umfangreichen ukrainischen, polnischen und
russischen Literatur zur ukrainischen Frage noch auch in der sozialdemokratischen
einen Hinweis darauf gefunden, aus dem gefolgert werden könnte, daß sich die
Führer der ukrainischen Bewegung dessen bewußt geworden find, welche Be¬
deutung die Entwicklung von Industrie und Technik in Südrußland für das
nationale Problem gewonnen hat. Die Sozialisten aller Schattierungen und
durch sie die unter ihrem Einfluß stehenden ukrainischen Nationalisten in den
Städten sehen in der industriellen Entwicklung zunächst lediglich eine Äußerung
der Wirksamkeit des Kapitalismus, deren drückende Seiten sie einseitig ohne
Berücksichtigung des nationalen Moments bekämpfen. Im übrigen ist die wirt¬
schaftliche Seite der ukrainischen Frage fast ausschließlich agrarisch orientiert,
was ohne weiteres einen starken Gegensatz gegen die Polen zur Folge hat.
Diesen Gegensatz aber suchte die russische Regierung in Wohlynien, Podolien
und Kijew, in Ostgalizien und Ungarn durch die Agenten des Heiligsten Sunvd
und des Allrussischen Verbandes zu vertiefen.

Durch das Zusammenfallen der sozialistischen und moskowitischen Propa¬
ganda, sowie durch die starke wirtschaftliche Beschäftigung, die die Bewohner der
Ukraina bei unzureichender Entwicklung der Volksschule in den letzten fünfund¬
zwanzig Jahren gefunden haben, ist erreicht worden, daß in Rußland die
nationale Seite der ukrainischen Frage zu derselben Zeit hinter der sozialen
zurücktreten konnte, als in Galizien gerade die nationale im Vordergrunde stand.
Die Agrarunruhen von 1902 und 1903, sowie auch die revolutionären Aus¬
schreitungen des Jahres 1905/06 entbehren der nationalen Unterlage auch dort,
wo sie sich gegen polnische und russische Großgrundbesitzer richteten; erst die
Gegenrevolution von 1906/07 ließ das nationale Element in den Vordergrund
treten, jedoch im Dienste des Moskowitertums. So widersinnig es klingen
mag: die großrussische Propaganda des "Allrussischen Verbandes", die sich der
kleinrussischen Sprache und der sozialrevolutionären Methoden für enge Partei¬
zwecke bedienen mußte, um überhaupt an die ukrainische Bevölkerung heranzu¬
kommen, hat besonders in den drei Gouvernements Wolhynien, Podolien und
Kijew so etwas wie ein "ukrainisches" Nationalbewußtsein bei den Bauern
geweckt.




Das Problem der Ukraina

gewiß nicht Aufgabe jener fränkischen Bankiers, der russische Staat aber gibt
nichts dafür ab, weil seine Machthaber, die Emporkömmlinge aus dem Beamten¬
adel, die die einheimischen Führer verdrängt haben, nur ihren eigenen Interessen
leben, nicht aber dem so dreist mit dem allslawischen Namen verbrämten Ideal.

Das reiche Land der Ukraina ernährt mit seinem Getreide und seiner
Industrie den ganzen russischen Staat und eine ganze Reihe französischer und
belgischer Geldleute dazu. Das ukrainische Volk, das doch zur Nutzbarmachung
aller dieser Reichtümer sein ganzes Können einsetzt, muß an Leib und Seele
darben.

Ich habe weder in der sehr umfangreichen ukrainischen, polnischen und
russischen Literatur zur ukrainischen Frage noch auch in der sozialdemokratischen
einen Hinweis darauf gefunden, aus dem gefolgert werden könnte, daß sich die
Führer der ukrainischen Bewegung dessen bewußt geworden find, welche Be¬
deutung die Entwicklung von Industrie und Technik in Südrußland für das
nationale Problem gewonnen hat. Die Sozialisten aller Schattierungen und
durch sie die unter ihrem Einfluß stehenden ukrainischen Nationalisten in den
Städten sehen in der industriellen Entwicklung zunächst lediglich eine Äußerung
der Wirksamkeit des Kapitalismus, deren drückende Seiten sie einseitig ohne
Berücksichtigung des nationalen Moments bekämpfen. Im übrigen ist die wirt¬
schaftliche Seite der ukrainischen Frage fast ausschließlich agrarisch orientiert,
was ohne weiteres einen starken Gegensatz gegen die Polen zur Folge hat.
Diesen Gegensatz aber suchte die russische Regierung in Wohlynien, Podolien
und Kijew, in Ostgalizien und Ungarn durch die Agenten des Heiligsten Sunvd
und des Allrussischen Verbandes zu vertiefen.

Durch das Zusammenfallen der sozialistischen und moskowitischen Propa¬
ganda, sowie durch die starke wirtschaftliche Beschäftigung, die die Bewohner der
Ukraina bei unzureichender Entwicklung der Volksschule in den letzten fünfund¬
zwanzig Jahren gefunden haben, ist erreicht worden, daß in Rußland die
nationale Seite der ukrainischen Frage zu derselben Zeit hinter der sozialen
zurücktreten konnte, als in Galizien gerade die nationale im Vordergrunde stand.
Die Agrarunruhen von 1902 und 1903, sowie auch die revolutionären Aus¬
schreitungen des Jahres 1905/06 entbehren der nationalen Unterlage auch dort,
wo sie sich gegen polnische und russische Großgrundbesitzer richteten; erst die
Gegenrevolution von 1906/07 ließ das nationale Element in den Vordergrund
treten, jedoch im Dienste des Moskowitertums. So widersinnig es klingen
mag: die großrussische Propaganda des „Allrussischen Verbandes", die sich der
kleinrussischen Sprache und der sozialrevolutionären Methoden für enge Partei¬
zwecke bedienen mußte, um überhaupt an die ukrainische Bevölkerung heranzu¬
kommen, hat besonders in den drei Gouvernements Wolhynien, Podolien und
Kijew so etwas wie ein „ukrainisches" Nationalbewußtsein bei den Bauern
geweckt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/186>, abgerufen am 02.07.2024.