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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Ist Rußland unbesiegbar?

Hilfsmittel des Verkehrs. Aber auch das: der Nachfahre des großen Preußenkönigs
ist deutscher Kaiser geworden! Heere können wir in einer Zahl von einem Kriegs¬
schauplatz auf den andern werfen, wie Friedrich der Große sie nicht kannte.
In vier bis fünf Tagen vermögen wir 300 000 Mann mit ihren Artillerie-
und Verpflegungsparks über mehr als tausend Kilometer zu bewegen. Diese
Beweglichkeit, in der wir den Russen heute unmeßbar überlegen sind, hat es
Hindenburg ermöglicht, Ostpreußen von einem dreifach stärkeren Feind zu
säubern und ihn genau um die Zeit des türkischen Angriffs auf Südrußland dort
zur Vereinigung seiner Streitkräfte zu zwingen, wo es für unsere Zwecke am
günstigsten ist. Gewiß, die Tätigkeit Hindenburgs ist bisher trotz aller taktischen
und vorübergehenden strategischen Offensive im großen und ganzen defensiver
Natur. Nußland angegriffen haben wir eigentlich noch nicht, -- wir haben noch
nicht zum Stoß gegen Rußlands Herz ausgeholt. Der es vor hundertundzwei
Jahren wagte, Napoleon, ist selbst daran gescheitert: sein Einzug in Moskau
bedeutete den Wendepunkt seines Geschicks. Wo ist Rußlands Herz?
Ist es Moskau? Würde das heutige Rußland, in Moskau getroffen,
aufhören zu leben? Zerstörungstrieb und kurzsichtiger Übermut nur könnte
heute einen deutschen Heerführer nach Moskau leiten. Das Rußland,
das heute gegen Deutschland aufgestanden ist, hat ein anderes Aussehen
und anderen Inhalt, als dasjenige, das Napoleon den Ersten vertrieb.
Wer heute Moskau als Ziel eines Krieges ins Auge faßte, würde sich damit
den Anschein geben, einen Krieg gegen die unbesiegbare Gedankenwelt des
Moskowitertums, im besten Falle gegen die Lagerhäuser der Großkaufleute
führen zu wollen. Das aber sind weder strategische noch politische Ziele. Ru߬
lands politische Lebensnerven liegen an der Newa, wo die Bureaukratie ihr
Rückgrat hat, liegen an den Gestaden des Schwarzen Meeres und an der
Ostsee, wo sich die Ausfuhrhäfen für sein Getreide, die Einfuhrhäfen für
fremdes Gold befinden; sie kommen zusammen in den Großbanken Belgiens,
Frankreichs und Englands. In Brüssel, Paris und London wohnen die
eigentlichen Leiter der russischen Bankwelt, die eigentlichen Herren der Industrie
von Kriwoirog und Donetz' von ihnen abgeschnitten, wird Nußland nicht
mehr befähigt sein, wie jetzt kürzlich vom Auslande Gold einzuführen --
England hat laut Birshewije Wjedomosti Ur. 14422 vom 9./22. d. M. am
1./14. Oktober für 12 Millionen Pfund Sterling russische Schatzanweisungen
übernommen --, dann kann es auch nicht mehr schwer fallen, die zahlreichen
russischen Truppen, selbst wenn sie durch alle hunderttausend in Rußland vor¬
handenen Studenten, wie es ein Ukas vorsieht, ergänzt werden sollten, soweit
nach Osten zu drängen, wie es nötig wäre, um Rußland einen die deutsche
Kultur sicherstellenden Frieden zu diktieren.

Das Rußland von 1812 existiert ebensowenig, wie das Preußen von
damals. Alle Mittel, die Rußland entscheidend niederwerfen könnten, sind bei
uns, bei den Deutschen von 1914; es bedarf nur des Willens, sie anzuwenden-




Ist Rußland unbesiegbar?

Hilfsmittel des Verkehrs. Aber auch das: der Nachfahre des großen Preußenkönigs
ist deutscher Kaiser geworden! Heere können wir in einer Zahl von einem Kriegs¬
schauplatz auf den andern werfen, wie Friedrich der Große sie nicht kannte.
In vier bis fünf Tagen vermögen wir 300 000 Mann mit ihren Artillerie-
und Verpflegungsparks über mehr als tausend Kilometer zu bewegen. Diese
Beweglichkeit, in der wir den Russen heute unmeßbar überlegen sind, hat es
Hindenburg ermöglicht, Ostpreußen von einem dreifach stärkeren Feind zu
säubern und ihn genau um die Zeit des türkischen Angriffs auf Südrußland dort
zur Vereinigung seiner Streitkräfte zu zwingen, wo es für unsere Zwecke am
günstigsten ist. Gewiß, die Tätigkeit Hindenburgs ist bisher trotz aller taktischen
und vorübergehenden strategischen Offensive im großen und ganzen defensiver
Natur. Nußland angegriffen haben wir eigentlich noch nicht, — wir haben noch
nicht zum Stoß gegen Rußlands Herz ausgeholt. Der es vor hundertundzwei
Jahren wagte, Napoleon, ist selbst daran gescheitert: sein Einzug in Moskau
bedeutete den Wendepunkt seines Geschicks. Wo ist Rußlands Herz?
Ist es Moskau? Würde das heutige Rußland, in Moskau getroffen,
aufhören zu leben? Zerstörungstrieb und kurzsichtiger Übermut nur könnte
heute einen deutschen Heerführer nach Moskau leiten. Das Rußland,
das heute gegen Deutschland aufgestanden ist, hat ein anderes Aussehen
und anderen Inhalt, als dasjenige, das Napoleon den Ersten vertrieb.
Wer heute Moskau als Ziel eines Krieges ins Auge faßte, würde sich damit
den Anschein geben, einen Krieg gegen die unbesiegbare Gedankenwelt des
Moskowitertums, im besten Falle gegen die Lagerhäuser der Großkaufleute
führen zu wollen. Das aber sind weder strategische noch politische Ziele. Ru߬
lands politische Lebensnerven liegen an der Newa, wo die Bureaukratie ihr
Rückgrat hat, liegen an den Gestaden des Schwarzen Meeres und an der
Ostsee, wo sich die Ausfuhrhäfen für sein Getreide, die Einfuhrhäfen für
fremdes Gold befinden; sie kommen zusammen in den Großbanken Belgiens,
Frankreichs und Englands. In Brüssel, Paris und London wohnen die
eigentlichen Leiter der russischen Bankwelt, die eigentlichen Herren der Industrie
von Kriwoirog und Donetz' von ihnen abgeschnitten, wird Nußland nicht
mehr befähigt sein, wie jetzt kürzlich vom Auslande Gold einzuführen —
England hat laut Birshewije Wjedomosti Ur. 14422 vom 9./22. d. M. am
1./14. Oktober für 12 Millionen Pfund Sterling russische Schatzanweisungen
übernommen —, dann kann es auch nicht mehr schwer fallen, die zahlreichen
russischen Truppen, selbst wenn sie durch alle hunderttausend in Rußland vor¬
handenen Studenten, wie es ein Ukas vorsieht, ergänzt werden sollten, soweit
nach Osten zu drängen, wie es nötig wäre, um Rußland einen die deutsche
Kultur sicherstellenden Frieden zu diktieren.

Das Rußland von 1812 existiert ebensowenig, wie das Preußen von
damals. Alle Mittel, die Rußland entscheidend niederwerfen könnten, sind bei
uns, bei den Deutschen von 1914; es bedarf nur des Willens, sie anzuwenden-




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[0168] Ist Rußland unbesiegbar? Hilfsmittel des Verkehrs. Aber auch das: der Nachfahre des großen Preußenkönigs ist deutscher Kaiser geworden! Heere können wir in einer Zahl von einem Kriegs¬ schauplatz auf den andern werfen, wie Friedrich der Große sie nicht kannte. In vier bis fünf Tagen vermögen wir 300 000 Mann mit ihren Artillerie- und Verpflegungsparks über mehr als tausend Kilometer zu bewegen. Diese Beweglichkeit, in der wir den Russen heute unmeßbar überlegen sind, hat es Hindenburg ermöglicht, Ostpreußen von einem dreifach stärkeren Feind zu säubern und ihn genau um die Zeit des türkischen Angriffs auf Südrußland dort zur Vereinigung seiner Streitkräfte zu zwingen, wo es für unsere Zwecke am günstigsten ist. Gewiß, die Tätigkeit Hindenburgs ist bisher trotz aller taktischen und vorübergehenden strategischen Offensive im großen und ganzen defensiver Natur. Nußland angegriffen haben wir eigentlich noch nicht, — wir haben noch nicht zum Stoß gegen Rußlands Herz ausgeholt. Der es vor hundertundzwei Jahren wagte, Napoleon, ist selbst daran gescheitert: sein Einzug in Moskau bedeutete den Wendepunkt seines Geschicks. Wo ist Rußlands Herz? Ist es Moskau? Würde das heutige Rußland, in Moskau getroffen, aufhören zu leben? Zerstörungstrieb und kurzsichtiger Übermut nur könnte heute einen deutschen Heerführer nach Moskau leiten. Das Rußland, das heute gegen Deutschland aufgestanden ist, hat ein anderes Aussehen und anderen Inhalt, als dasjenige, das Napoleon den Ersten vertrieb. Wer heute Moskau als Ziel eines Krieges ins Auge faßte, würde sich damit den Anschein geben, einen Krieg gegen die unbesiegbare Gedankenwelt des Moskowitertums, im besten Falle gegen die Lagerhäuser der Großkaufleute führen zu wollen. Das aber sind weder strategische noch politische Ziele. Ru߬ lands politische Lebensnerven liegen an der Newa, wo die Bureaukratie ihr Rückgrat hat, liegen an den Gestaden des Schwarzen Meeres und an der Ostsee, wo sich die Ausfuhrhäfen für sein Getreide, die Einfuhrhäfen für fremdes Gold befinden; sie kommen zusammen in den Großbanken Belgiens, Frankreichs und Englands. In Brüssel, Paris und London wohnen die eigentlichen Leiter der russischen Bankwelt, die eigentlichen Herren der Industrie von Kriwoirog und Donetz' von ihnen abgeschnitten, wird Nußland nicht mehr befähigt sein, wie jetzt kürzlich vom Auslande Gold einzuführen — England hat laut Birshewije Wjedomosti Ur. 14422 vom 9./22. d. M. am 1./14. Oktober für 12 Millionen Pfund Sterling russische Schatzanweisungen übernommen —, dann kann es auch nicht mehr schwer fallen, die zahlreichen russischen Truppen, selbst wenn sie durch alle hunderttausend in Rußland vor¬ handenen Studenten, wie es ein Ukas vorsieht, ergänzt werden sollten, soweit nach Osten zu drängen, wie es nötig wäre, um Rußland einen die deutsche Kultur sicherstellenden Frieden zu diktieren. Das Rußland von 1812 existiert ebensowenig, wie das Preußen von damals. Alle Mittel, die Rußland entscheidend niederwerfen könnten, sind bei uns, bei den Deutschen von 1914; es bedarf nur des Willens, sie anzuwenden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/168>, abgerufen am 30.06.2024.