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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Israel Zangivill an die Neutralen

das Verbrechen der Kosakenregierung. Ein ganzes Leben hat dieser Mann
daran gesetzt, die Ärmsten unter den geknechteten Völkern aus dem glühenden
Ofen zu holen, in dem sie schmachten -- und er löscht seine ganze Lebensarbeit
aus mit einem Federstrich I Aber den Juden Rußlands soll doch noch eine
Hoffnung bleiben: das glorreiche England wird sie befreien. Sir Edward Grey
Hot es Zangwill versprochen, und das war "nicht nur die Versicherung eines
Politikers in Nöten". Man fragt sich unwillkürlich, wie es möglich ist, daß
dieser Krieg solche Verwirrungen in den Köpfen anrichtet. England als Befreier
der Schwachen? Hat es sich diese Lorbeeren verdient in Indien, in Persien
oder in Ägypten, oder als es seinem feierlichen Wort entgegen die Selbständigkeit
der Burenstaaten vernichtete? Als es China durch einen blutigen Krieg zwang,
den Opiumhandel zu dulden, der das Land ruinierte? Oder vielleicht, als es
durch seine endlosen Bedrückungen jenes Amerika zum Freiheitskämpfe trieb, in
dem dieselben Juden heute eine Zufluchtsstätte finden, an die Herr Zangwill
seine Worte richtet?

Aber Sir Eward Grey hat ja den Juden sein Wort gegeben I Ein vor¬
trefflicher Bürge! Wir auf dem Kontinent im Barbarenlande haben ein besseres
Gedächtnis, als Herr Zangwill. Wir erinnern uns, daß Sir Edward Grey
auch die Unabhängigkeit Persiens verbürgte und den Türken den 8tatus quo.
Und daß er das Flottenabkommen zwischen Rußland und England leugnete, und
das er mit Belgien die Neutralitätsverletzung verabredete. Und diesem Mann
mit dem robusten Gewissen soll die russische Judenheit ihr Schicksal anvertrauen?
Auf seine Redensarten hin soll sie sich schlachten lassen, damit England den
"Militarismus des gotischen Übermenschen" aus der Welt schafft!

Wir fragen uns, Herr Zangwill. weshalb denn der Politiker "der nicht
in Nöten ist", solange gezaudert hat, etwas für die Juden in Rußland zu tun?
Er hatte ja die beste Gelegenheit, sein Wort in die Wagschale zu werfen, als
die Vereinigten Staaten um ihrer jüdischen Bürger willen den Handelsvertrag
mit dem Zaren kündigten. Als ihn damals englische Juden baten, gleichzeitig
in Petersburg für eine Linderung der entsetzlichen Bedrückungsmaßregeln zu
intervenieren, hatte der Leiter der britischen Politik völlig freie Hand, sein Herz
zu zeigen. Aber er war damals zu beschäftigt, mit Einkreisungsarbeiten gegen
Deutschland. Ein unter den jetzigen Verhältnissen gegebenes Versprechen soll
eine feste politische Grundlage sein?

Lreäat ^nei^eus ^.pölla!

Nein, wirklich ein ganz einfacher, schlichter, unpolitischer Jude in Lodz oder
Berdytschew kann nicht glauben, daß ein siegreiches Nußland den Juden Freiheit
geben werde, die es ihnen nicht einmal jetzt in der höchsten Gefahr des Landes
zubilligt. Sir Edward Grey möge zunächst bei seinem glorreichen Verbündeten
an der Newa, der ihm im Kampfe für die Menschheit beisteht, vorstellig werden,
daß die Pogroms aufhören, daß man nicht eine größere Prozentzahl von Juden
als von Christen zum Dienst für die Sache der eigenen Bedrücker preßt, daß


Israel Zangivill an die Neutralen

das Verbrechen der Kosakenregierung. Ein ganzes Leben hat dieser Mann
daran gesetzt, die Ärmsten unter den geknechteten Völkern aus dem glühenden
Ofen zu holen, in dem sie schmachten — und er löscht seine ganze Lebensarbeit
aus mit einem Federstrich I Aber den Juden Rußlands soll doch noch eine
Hoffnung bleiben: das glorreiche England wird sie befreien. Sir Edward Grey
Hot es Zangwill versprochen, und das war „nicht nur die Versicherung eines
Politikers in Nöten". Man fragt sich unwillkürlich, wie es möglich ist, daß
dieser Krieg solche Verwirrungen in den Köpfen anrichtet. England als Befreier
der Schwachen? Hat es sich diese Lorbeeren verdient in Indien, in Persien
oder in Ägypten, oder als es seinem feierlichen Wort entgegen die Selbständigkeit
der Burenstaaten vernichtete? Als es China durch einen blutigen Krieg zwang,
den Opiumhandel zu dulden, der das Land ruinierte? Oder vielleicht, als es
durch seine endlosen Bedrückungen jenes Amerika zum Freiheitskämpfe trieb, in
dem dieselben Juden heute eine Zufluchtsstätte finden, an die Herr Zangwill
seine Worte richtet?

Aber Sir Eward Grey hat ja den Juden sein Wort gegeben I Ein vor¬
trefflicher Bürge! Wir auf dem Kontinent im Barbarenlande haben ein besseres
Gedächtnis, als Herr Zangwill. Wir erinnern uns, daß Sir Edward Grey
auch die Unabhängigkeit Persiens verbürgte und den Türken den 8tatus quo.
Und daß er das Flottenabkommen zwischen Rußland und England leugnete, und
das er mit Belgien die Neutralitätsverletzung verabredete. Und diesem Mann
mit dem robusten Gewissen soll die russische Judenheit ihr Schicksal anvertrauen?
Auf seine Redensarten hin soll sie sich schlachten lassen, damit England den
„Militarismus des gotischen Übermenschen" aus der Welt schafft!

Wir fragen uns, Herr Zangwill. weshalb denn der Politiker „der nicht
in Nöten ist", solange gezaudert hat, etwas für die Juden in Rußland zu tun?
Er hatte ja die beste Gelegenheit, sein Wort in die Wagschale zu werfen, als
die Vereinigten Staaten um ihrer jüdischen Bürger willen den Handelsvertrag
mit dem Zaren kündigten. Als ihn damals englische Juden baten, gleichzeitig
in Petersburg für eine Linderung der entsetzlichen Bedrückungsmaßregeln zu
intervenieren, hatte der Leiter der britischen Politik völlig freie Hand, sein Herz
zu zeigen. Aber er war damals zu beschäftigt, mit Einkreisungsarbeiten gegen
Deutschland. Ein unter den jetzigen Verhältnissen gegebenes Versprechen soll
eine feste politische Grundlage sein?

Lreäat ^nei^eus ^.pölla!

Nein, wirklich ein ganz einfacher, schlichter, unpolitischer Jude in Lodz oder
Berdytschew kann nicht glauben, daß ein siegreiches Nußland den Juden Freiheit
geben werde, die es ihnen nicht einmal jetzt in der höchsten Gefahr des Landes
zubilligt. Sir Edward Grey möge zunächst bei seinem glorreichen Verbündeten
an der Newa, der ihm im Kampfe für die Menschheit beisteht, vorstellig werden,
daß die Pogroms aufhören, daß man nicht eine größere Prozentzahl von Juden
als von Christen zum Dienst für die Sache der eigenen Bedrücker preßt, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/164>, abgerufen am 02.07.2024.