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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Uultnrproblem

zeigen können. Die türkische Herrschaft mehrerer Jahrhunderte ist schuld an
unserer kulturellen Rückständigkeit, sagen wir. Das sich entschuldigen und sich
selbst rechtfertigen wurde uns zur zweiten Natur. Nirgends habe ich so viel
Entschuldigungen gehört wie in unserem Vaterland. Wir versuchen es gar nicht
ernstlich, die letzten Hindernisse zu entfernen, denn was bliebe uns dann zur
Entschuldigung? Es ist uns recht, von wem immer es sei, gequält zu werden,
nur um nicht selbst an unserer Lage schuld zu sein.

Eine solche Neigung liegt nicht im Blut, ist nicht angeboren. Unsere
heutigen Gelehrten wissen nichts davon, daß es bei uns einmal große Mani¬
festationen des Willens und der Arbeit gegeben hat. Unsere Geschichtsschreibung
gibt die Geschichte der "Väter und Heerführer der illyrischen Könige" und nicht
die Geschichte unserer Kultivierung. Auch hierfür gibt es Entschuldigungen.
Zuerst mußte, so heißt es, die politische Geschichte aufgeklärt werden, die
kulturelle entwickelt sich dann von selbst. Aber die Gedanken, die anläßlich der
Forschungen über die politische und staatsrechtliche Geschichte zum Ausdruck
gelangten, sind derart, daß daneben der Sinn für Kultur nur eine untergeordnete
Rolle spielen kann.

Die echte Kultur entwickelt sich nicht aus Kreuzzügen, sondern aus der
christlich humanistischen Anschauung namenloser Prediger. Hier haben Personen
keine Bedeutung, sie bleiben unbekannt, Bedeutung haben nur ihre Gedanken
und Gemütsstimmungen. Die Welle dieser Gedanken und Gefühle rollt über
Europa hin, da und dort bewegt sie Leute, die den "Heerführern und Königen"
nahe stehen. Wiclif und Huß standen dem Throne nahe und deshalb weiß
die Welt etwas von ihnen. Sie waren gleichsam die Exponenten geheimer,
von der Geschichte nicht vermerkter Strömungen. Bei uns, wo es nicht einmal
genügend souveräne Persönlichkeiten gab, kam es zu keinem persönlichen Drama,
wie es das Leben Wiclifs, Hussens und Luthers war, bei uns sind solche
Denker im Dunkel der Masse geblieben. Die Zahllosen, die bei uns gegen die
falsche Kultur des Cäsarenpapstwms des Mittelalters protestierten, wurden da¬
durch zum Schweigen gebracht, daß man magyarische Kreuzfahrer gegen sie
sandte. Aber nach einigen Schlachten auf den Gefilden Bosniens breitete sich
das Bogumilentum mit seinem Grundsatz der Gerechtigkeit, die der Rache keinen
Raum läßt, in noch größerer Heimlichkeit nach Westen zu aus, und überschritt
das Adriatische Meer, wo dann die bedeutenden italienischen Häretiker, die
Patarener und französischen Katharer, die Albingenser und Waldenser, die ersten
Protestanten, die ersten Fragesteller und Erforscher der Grundlagen der europäischen
Kultur wurden. Damit gaben die Südslawen als ein Ganzes der europäischen
Kultur etwas von sich selbst. Denn das, was sie von sich aus gaben, war nicht
ihr eigenes, sie hatten nur die Energie, die Idee, die Lehre vom geistigen
Leben von den kleinasiatischen Bergen nach dem Westen hinüberzuleiten. Eine
vermittelnde Rolle spielten wir nur bis zur Türkenzeit. Dann waren wir
lediglich eine Soldateska im Dienste von Fremdlingen, gleichzeitig im Dienst


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Das slawische Uultnrproblem

zeigen können. Die türkische Herrschaft mehrerer Jahrhunderte ist schuld an
unserer kulturellen Rückständigkeit, sagen wir. Das sich entschuldigen und sich
selbst rechtfertigen wurde uns zur zweiten Natur. Nirgends habe ich so viel
Entschuldigungen gehört wie in unserem Vaterland. Wir versuchen es gar nicht
ernstlich, die letzten Hindernisse zu entfernen, denn was bliebe uns dann zur
Entschuldigung? Es ist uns recht, von wem immer es sei, gequält zu werden,
nur um nicht selbst an unserer Lage schuld zu sein.

Eine solche Neigung liegt nicht im Blut, ist nicht angeboren. Unsere
heutigen Gelehrten wissen nichts davon, daß es bei uns einmal große Mani¬
festationen des Willens und der Arbeit gegeben hat. Unsere Geschichtsschreibung
gibt die Geschichte der „Väter und Heerführer der illyrischen Könige" und nicht
die Geschichte unserer Kultivierung. Auch hierfür gibt es Entschuldigungen.
Zuerst mußte, so heißt es, die politische Geschichte aufgeklärt werden, die
kulturelle entwickelt sich dann von selbst. Aber die Gedanken, die anläßlich der
Forschungen über die politische und staatsrechtliche Geschichte zum Ausdruck
gelangten, sind derart, daß daneben der Sinn für Kultur nur eine untergeordnete
Rolle spielen kann.

Die echte Kultur entwickelt sich nicht aus Kreuzzügen, sondern aus der
christlich humanistischen Anschauung namenloser Prediger. Hier haben Personen
keine Bedeutung, sie bleiben unbekannt, Bedeutung haben nur ihre Gedanken
und Gemütsstimmungen. Die Welle dieser Gedanken und Gefühle rollt über
Europa hin, da und dort bewegt sie Leute, die den „Heerführern und Königen"
nahe stehen. Wiclif und Huß standen dem Throne nahe und deshalb weiß
die Welt etwas von ihnen. Sie waren gleichsam die Exponenten geheimer,
von der Geschichte nicht vermerkter Strömungen. Bei uns, wo es nicht einmal
genügend souveräne Persönlichkeiten gab, kam es zu keinem persönlichen Drama,
wie es das Leben Wiclifs, Hussens und Luthers war, bei uns sind solche
Denker im Dunkel der Masse geblieben. Die Zahllosen, die bei uns gegen die
falsche Kultur des Cäsarenpapstwms des Mittelalters protestierten, wurden da¬
durch zum Schweigen gebracht, daß man magyarische Kreuzfahrer gegen sie
sandte. Aber nach einigen Schlachten auf den Gefilden Bosniens breitete sich
das Bogumilentum mit seinem Grundsatz der Gerechtigkeit, die der Rache keinen
Raum läßt, in noch größerer Heimlichkeit nach Westen zu aus, und überschritt
das Adriatische Meer, wo dann die bedeutenden italienischen Häretiker, die
Patarener und französischen Katharer, die Albingenser und Waldenser, die ersten
Protestanten, die ersten Fragesteller und Erforscher der Grundlagen der europäischen
Kultur wurden. Damit gaben die Südslawen als ein Ganzes der europäischen
Kultur etwas von sich selbst. Denn das, was sie von sich aus gaben, war nicht
ihr eigenes, sie hatten nur die Energie, die Idee, die Lehre vom geistigen
Leben von den kleinasiatischen Bergen nach dem Westen hinüberzuleiten. Eine
vermittelnde Rolle spielten wir nur bis zur Türkenzeit. Dann waren wir
lediglich eine Soldateska im Dienste von Fremdlingen, gleichzeitig im Dienst


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[0159] Das slawische Uultnrproblem zeigen können. Die türkische Herrschaft mehrerer Jahrhunderte ist schuld an unserer kulturellen Rückständigkeit, sagen wir. Das sich entschuldigen und sich selbst rechtfertigen wurde uns zur zweiten Natur. Nirgends habe ich so viel Entschuldigungen gehört wie in unserem Vaterland. Wir versuchen es gar nicht ernstlich, die letzten Hindernisse zu entfernen, denn was bliebe uns dann zur Entschuldigung? Es ist uns recht, von wem immer es sei, gequält zu werden, nur um nicht selbst an unserer Lage schuld zu sein. Eine solche Neigung liegt nicht im Blut, ist nicht angeboren. Unsere heutigen Gelehrten wissen nichts davon, daß es bei uns einmal große Mani¬ festationen des Willens und der Arbeit gegeben hat. Unsere Geschichtsschreibung gibt die Geschichte der „Väter und Heerführer der illyrischen Könige" und nicht die Geschichte unserer Kultivierung. Auch hierfür gibt es Entschuldigungen. Zuerst mußte, so heißt es, die politische Geschichte aufgeklärt werden, die kulturelle entwickelt sich dann von selbst. Aber die Gedanken, die anläßlich der Forschungen über die politische und staatsrechtliche Geschichte zum Ausdruck gelangten, sind derart, daß daneben der Sinn für Kultur nur eine untergeordnete Rolle spielen kann. Die echte Kultur entwickelt sich nicht aus Kreuzzügen, sondern aus der christlich humanistischen Anschauung namenloser Prediger. Hier haben Personen keine Bedeutung, sie bleiben unbekannt, Bedeutung haben nur ihre Gedanken und Gemütsstimmungen. Die Welle dieser Gedanken und Gefühle rollt über Europa hin, da und dort bewegt sie Leute, die den „Heerführern und Königen" nahe stehen. Wiclif und Huß standen dem Throne nahe und deshalb weiß die Welt etwas von ihnen. Sie waren gleichsam die Exponenten geheimer, von der Geschichte nicht vermerkter Strömungen. Bei uns, wo es nicht einmal genügend souveräne Persönlichkeiten gab, kam es zu keinem persönlichen Drama, wie es das Leben Wiclifs, Hussens und Luthers war, bei uns sind solche Denker im Dunkel der Masse geblieben. Die Zahllosen, die bei uns gegen die falsche Kultur des Cäsarenpapstwms des Mittelalters protestierten, wurden da¬ durch zum Schweigen gebracht, daß man magyarische Kreuzfahrer gegen sie sandte. Aber nach einigen Schlachten auf den Gefilden Bosniens breitete sich das Bogumilentum mit seinem Grundsatz der Gerechtigkeit, die der Rache keinen Raum läßt, in noch größerer Heimlichkeit nach Westen zu aus, und überschritt das Adriatische Meer, wo dann die bedeutenden italienischen Häretiker, die Patarener und französischen Katharer, die Albingenser und Waldenser, die ersten Protestanten, die ersten Fragesteller und Erforscher der Grundlagen der europäischen Kultur wurden. Damit gaben die Südslawen als ein Ganzes der europäischen Kultur etwas von sich selbst. Denn das, was sie von sich aus gaben, war nicht ihr eigenes, sie hatten nur die Energie, die Idee, die Lehre vom geistigen Leben von den kleinasiatischen Bergen nach dem Westen hinüberzuleiten. Eine vermittelnde Rolle spielten wir nur bis zur Türkenzeit. Dann waren wir lediglich eine Soldateska im Dienste von Fremdlingen, gleichzeitig im Dienst 10*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/159>, abgerufen am 21.06.2024.