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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Das slawische Kulturproblem

Diese Erbschaft wirtschaftlicher Unreife und heroischer Leidenschaftlichkeit ist es,
die sich im Gesicht, den Gebärden und Worten unserer südslawischen Beamten
geltend macht, die keine Kulturideale haben. Eine verlogene Verbindung von
sozialen Helden und Strebern stellen sie dar. Von Haus aus zum Fischfang
geschickt, mußten sie Kanzleiakten studieren; sie lesen Darwin und Mill, Haeckel
und Schopenhauer, um sich zum Schluß "ästhetisch" zu erschießen. Zur Arbeit,
zu innerem Kampf fehlt es ihnen an Geduld und Disziplin. Wenn man schon
zugrunde gehen muß, dann wenigstens mit einer schönen Geste, dem Pessimismus
zuliebe, sozusagen mit Schopenhauer in der Hand. Sie enden dort, wo Faust
beginnt, vor den Pforten des Lehens. Sie sind erschöpft vor Beginn des Pro¬
gramms. So sind sie alle. Seit das Kreuz durch Feder und Pflug ersetzt
wurde, hat der Heroismus versagt. Es gibt nichts, für das er sich einsetzen,
um das er sich scharen könnte. Man braucht ihn nicht. Und die frischen Säfte
eines Volkes werden verspritzt in den allergewöhnlichsten Abenteuern. Alles
hat man gekostet und verworfen, alles kritisiert und verleumdet, die Verneinung
sogar in sich selber verneint und sich tragisch getötet.

Diese Krise unserer Kultiviertheit hat der Belgrader Etnograph Professor
Jovan Coijic richtig erkannt und gewertet. "Ich denke," sagt er, "daß bei
uns die Amplitüde oder das Maß der Begabung klein ist. Die größte Zahl
begabter Leute gibt kleine Resultate. Sie arbeiten keine Sache -- nicht nur in
der Tat. sondern auch in Gedanken -- bis zu den äußersten Konsequenzen
durch. Sie vollenden nichts auf einmal, arbeiten nichts in einem Zuge aus.
Sie glauben, daß Sehen, Fühlen und Handeln dasselbe ist. Deshalb überschätzen
wir nicht nur uns selbst, sondern haben die Neigung, andere, besonders solide
und intensiv arbeitende Menschen falsch zu beurteilen und gering einzuschätzen.
Wir haben eine Vorliebe für Plauderer, die geistreich sind, aber nichts ersprie߬
liches leisten, und unterschätzen besonders Gegner, die stärker sind, da sie beständig
und ausdauernd arbeiten. Bei vielen unserer Leute hat die Begabung keine
Stoßkraft. Deshalb hört man bei uns oft Klagen über Mißerfolge, weil man
auf Schwierigkeiten und Störungen gestoßen sei! Darin zeigt sich aber der
Charakter eines begabten Menschen, daß er solche Schwierigkeiten besiegt und
ihnen zum Trotz viel erreicht I"

"Diese kleine Amplitüde der Begabung," fährt Coijic fort, "bemerkt man
heute nicht nur an den meisten Individuen, sie ist vielmehr für die serbische,
setzen wir hinzu, auch für die kroatische Geschichte kennzeichnend und erklärt,
nebst anderen Ursachen, viele historische Erscheinungen. Sie kann endogen, ein¬
geboren sein, oder auch aus dem niedrigen Kulturniveau stammen____" "Mir
scheint," schließt Coijic, "die kleine Amplitüde der Begabung in unserem Volke
ist aus der einen wie aus der anderen Ursache abzuleiten. Deshalb wird sie
um so größer werden, je mehr echte Kultur in unser Volk dringt."

Diese echte Kultur hat es bei uns schon lange nicht gegeben. Und es ist
uns förmlich lieb, daß wir mit dem Daumen hinter uns auf die Schuldigen


Das slawische Kulturproblem

Diese Erbschaft wirtschaftlicher Unreife und heroischer Leidenschaftlichkeit ist es,
die sich im Gesicht, den Gebärden und Worten unserer südslawischen Beamten
geltend macht, die keine Kulturideale haben. Eine verlogene Verbindung von
sozialen Helden und Strebern stellen sie dar. Von Haus aus zum Fischfang
geschickt, mußten sie Kanzleiakten studieren; sie lesen Darwin und Mill, Haeckel
und Schopenhauer, um sich zum Schluß „ästhetisch" zu erschießen. Zur Arbeit,
zu innerem Kampf fehlt es ihnen an Geduld und Disziplin. Wenn man schon
zugrunde gehen muß, dann wenigstens mit einer schönen Geste, dem Pessimismus
zuliebe, sozusagen mit Schopenhauer in der Hand. Sie enden dort, wo Faust
beginnt, vor den Pforten des Lehens. Sie sind erschöpft vor Beginn des Pro¬
gramms. So sind sie alle. Seit das Kreuz durch Feder und Pflug ersetzt
wurde, hat der Heroismus versagt. Es gibt nichts, für das er sich einsetzen,
um das er sich scharen könnte. Man braucht ihn nicht. Und die frischen Säfte
eines Volkes werden verspritzt in den allergewöhnlichsten Abenteuern. Alles
hat man gekostet und verworfen, alles kritisiert und verleumdet, die Verneinung
sogar in sich selber verneint und sich tragisch getötet.

Diese Krise unserer Kultiviertheit hat der Belgrader Etnograph Professor
Jovan Coijic richtig erkannt und gewertet. „Ich denke," sagt er, „daß bei
uns die Amplitüde oder das Maß der Begabung klein ist. Die größte Zahl
begabter Leute gibt kleine Resultate. Sie arbeiten keine Sache — nicht nur in
der Tat. sondern auch in Gedanken — bis zu den äußersten Konsequenzen
durch. Sie vollenden nichts auf einmal, arbeiten nichts in einem Zuge aus.
Sie glauben, daß Sehen, Fühlen und Handeln dasselbe ist. Deshalb überschätzen
wir nicht nur uns selbst, sondern haben die Neigung, andere, besonders solide
und intensiv arbeitende Menschen falsch zu beurteilen und gering einzuschätzen.
Wir haben eine Vorliebe für Plauderer, die geistreich sind, aber nichts ersprie߬
liches leisten, und unterschätzen besonders Gegner, die stärker sind, da sie beständig
und ausdauernd arbeiten. Bei vielen unserer Leute hat die Begabung keine
Stoßkraft. Deshalb hört man bei uns oft Klagen über Mißerfolge, weil man
auf Schwierigkeiten und Störungen gestoßen sei! Darin zeigt sich aber der
Charakter eines begabten Menschen, daß er solche Schwierigkeiten besiegt und
ihnen zum Trotz viel erreicht I"

„Diese kleine Amplitüde der Begabung," fährt Coijic fort, „bemerkt man
heute nicht nur an den meisten Individuen, sie ist vielmehr für die serbische,
setzen wir hinzu, auch für die kroatische Geschichte kennzeichnend und erklärt,
nebst anderen Ursachen, viele historische Erscheinungen. Sie kann endogen, ein¬
geboren sein, oder auch aus dem niedrigen Kulturniveau stammen____" „Mir
scheint," schließt Coijic, „die kleine Amplitüde der Begabung in unserem Volke
ist aus der einen wie aus der anderen Ursache abzuleiten. Deshalb wird sie
um so größer werden, je mehr echte Kultur in unser Volk dringt."

Diese echte Kultur hat es bei uns schon lange nicht gegeben. Und es ist
uns förmlich lieb, daß wir mit dem Daumen hinter uns auf die Schuldigen


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[0158] Das slawische Kulturproblem Diese Erbschaft wirtschaftlicher Unreife und heroischer Leidenschaftlichkeit ist es, die sich im Gesicht, den Gebärden und Worten unserer südslawischen Beamten geltend macht, die keine Kulturideale haben. Eine verlogene Verbindung von sozialen Helden und Strebern stellen sie dar. Von Haus aus zum Fischfang geschickt, mußten sie Kanzleiakten studieren; sie lesen Darwin und Mill, Haeckel und Schopenhauer, um sich zum Schluß „ästhetisch" zu erschießen. Zur Arbeit, zu innerem Kampf fehlt es ihnen an Geduld und Disziplin. Wenn man schon zugrunde gehen muß, dann wenigstens mit einer schönen Geste, dem Pessimismus zuliebe, sozusagen mit Schopenhauer in der Hand. Sie enden dort, wo Faust beginnt, vor den Pforten des Lehens. Sie sind erschöpft vor Beginn des Pro¬ gramms. So sind sie alle. Seit das Kreuz durch Feder und Pflug ersetzt wurde, hat der Heroismus versagt. Es gibt nichts, für das er sich einsetzen, um das er sich scharen könnte. Man braucht ihn nicht. Und die frischen Säfte eines Volkes werden verspritzt in den allergewöhnlichsten Abenteuern. Alles hat man gekostet und verworfen, alles kritisiert und verleumdet, die Verneinung sogar in sich selber verneint und sich tragisch getötet. Diese Krise unserer Kultiviertheit hat der Belgrader Etnograph Professor Jovan Coijic richtig erkannt und gewertet. „Ich denke," sagt er, „daß bei uns die Amplitüde oder das Maß der Begabung klein ist. Die größte Zahl begabter Leute gibt kleine Resultate. Sie arbeiten keine Sache — nicht nur in der Tat. sondern auch in Gedanken — bis zu den äußersten Konsequenzen durch. Sie vollenden nichts auf einmal, arbeiten nichts in einem Zuge aus. Sie glauben, daß Sehen, Fühlen und Handeln dasselbe ist. Deshalb überschätzen wir nicht nur uns selbst, sondern haben die Neigung, andere, besonders solide und intensiv arbeitende Menschen falsch zu beurteilen und gering einzuschätzen. Wir haben eine Vorliebe für Plauderer, die geistreich sind, aber nichts ersprie߬ liches leisten, und unterschätzen besonders Gegner, die stärker sind, da sie beständig und ausdauernd arbeiten. Bei vielen unserer Leute hat die Begabung keine Stoßkraft. Deshalb hört man bei uns oft Klagen über Mißerfolge, weil man auf Schwierigkeiten und Störungen gestoßen sei! Darin zeigt sich aber der Charakter eines begabten Menschen, daß er solche Schwierigkeiten besiegt und ihnen zum Trotz viel erreicht I" „Diese kleine Amplitüde der Begabung," fährt Coijic fort, „bemerkt man heute nicht nur an den meisten Individuen, sie ist vielmehr für die serbische, setzen wir hinzu, auch für die kroatische Geschichte kennzeichnend und erklärt, nebst anderen Ursachen, viele historische Erscheinungen. Sie kann endogen, ein¬ geboren sein, oder auch aus dem niedrigen Kulturniveau stammen____" „Mir scheint," schließt Coijic, „die kleine Amplitüde der Begabung in unserem Volke ist aus der einen wie aus der anderen Ursache abzuleiten. Deshalb wird sie um so größer werden, je mehr echte Kultur in unser Volk dringt." Diese echte Kultur hat es bei uns schon lange nicht gegeben. Und es ist uns förmlich lieb, daß wir mit dem Daumen hinter uns auf die Schuldigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/158>, abgerufen am 27.06.2024.