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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Weltwirtschaft und Weltkrieg

Vernichtung von Werten, daß selbst die obsiegende Nation mit schweren wirt¬
schaftlichen Verlusten und Rückschlägen zu rechnen hatte.

Der berühmte Pariser Nationalökonom Charles Gide hat die Formel
geprägt, nach der das Wettrüsten den Krieg gewissermaßen in das Reich der
mathematischen Operationen banne, in dem die ziffernmäßige Kriegsbereitschaft
-- annähernd gleiche Qualität der Truppen und Technik der Kriegsführung
vorausgesetzt -- den diplomatischen Aktionen in Zukunft Entscheidungskraft
verleihen würde. Er stellte den Vergleich auf, daß ebenso wie die großen
finanziellen Transaktionen sich heute zumeist nicht mehr durch Barzahlung,
sondern auf dem Papier durch Verrechnung vollziehen, so auch die welt¬
geschichtlichen Abrechnungen durch die Größe der Nüstungsopfer gewissermaßen
in rechnerische, papierene Unterlagen für diplomatische Schritte, Schiedssprüche
und gütliche Ausgleichsverhandlungen sich verwandeln würden.

Und -- wenn auch nicht diese etwas geschraubte Theorie -- so doch die
Auffassung, daß bei der herrschenden wirtschaftlichen Lage uns noch lange
der Friede erhalten bleiben würde, daß die leitenden Staatsmänner immer
noch, sei es auch im letzten Augenblick, eine Vermittlung finden, und
die Verantwortung eines Krieges von unabsehbarem Ausgange scheuen
würden, teilten jedenfalls weite Kreise und zwar gerade Männer, denen
ein Urteil in Frage der internationalen Politik nicht abzusprechen war.
Man zog in Rechnung die überwiegende, die überwältigende Zahl derer, die
ein Interesse an der Erhaltung von Ruhe und Frieden hatten, im Vergleiche
mit der Minderzahl derer, die ernstlich vor dem Risiko eines Weltbrandes nicht
zurückschreckten. Ja, man konnte sich einen europäischen Krieg mit seiner Kultur¬
widrigkeit in unserem aufgeklarten Zeitalter schlechterdings nicht vorstellen.

Wir sehen heute, daß die Rechnung ihre Fehler hatte. In unserer Zeit
wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwunges hatte man bei dem allgemeinen
Drange zu Systematisieren, zu mechanisieren und zu schematisieren manche Ge¬
fühlswerte, unmeßbare und ungreifbare psychologische und moralische Faktoren
im Völkerleben zu wenig berücksichtigt. Man hatte historische und vertragliche
Bande von Staat zu Staat außer Betracht gelassen, die aus kleinen Anlässen
riesenhafte Wirkungen hervorzubringen geeignet waren, Fesseln, von denen man
dachte, daß sie im gegebenen Augenblick durch Einsicht, charaktervolles Handeln
und die Kraft zum Guten gesprengt werden würden; man hatte gehofft, daß
Vernunft und der Einsatz des Gutes und Blutes von Millionen, die kein eigenes
Interesse, nicht Herz und Willen, nicht gemeinsamer Haß an einen abenteuerlichen,
skrupelloser Kurs ihres Staates band, überall die verantwortlichen Leiter im
kritischen Momente schrecken würden, die letzten Konsequenzen einer uferlosen,
frivolen oder egoistischen Politik zu ziehen. Dabei war allerdings die ungeheure
Schwierigkeit nicht zu unterschätzen, die in unserem heutigen Europa mit seiner
eigenartigen Machtverteilung das Aufgeben einer einmal eingeschlagenen Richtung
in der Politik -- die sich auch wieder aus kleinen Anfängen vielfach in


Weltwirtschaft und Weltkrieg

Vernichtung von Werten, daß selbst die obsiegende Nation mit schweren wirt¬
schaftlichen Verlusten und Rückschlägen zu rechnen hatte.

Der berühmte Pariser Nationalökonom Charles Gide hat die Formel
geprägt, nach der das Wettrüsten den Krieg gewissermaßen in das Reich der
mathematischen Operationen banne, in dem die ziffernmäßige Kriegsbereitschaft
— annähernd gleiche Qualität der Truppen und Technik der Kriegsführung
vorausgesetzt — den diplomatischen Aktionen in Zukunft Entscheidungskraft
verleihen würde. Er stellte den Vergleich auf, daß ebenso wie die großen
finanziellen Transaktionen sich heute zumeist nicht mehr durch Barzahlung,
sondern auf dem Papier durch Verrechnung vollziehen, so auch die welt¬
geschichtlichen Abrechnungen durch die Größe der Nüstungsopfer gewissermaßen
in rechnerische, papierene Unterlagen für diplomatische Schritte, Schiedssprüche
und gütliche Ausgleichsverhandlungen sich verwandeln würden.

Und — wenn auch nicht diese etwas geschraubte Theorie — so doch die
Auffassung, daß bei der herrschenden wirtschaftlichen Lage uns noch lange
der Friede erhalten bleiben würde, daß die leitenden Staatsmänner immer
noch, sei es auch im letzten Augenblick, eine Vermittlung finden, und
die Verantwortung eines Krieges von unabsehbarem Ausgange scheuen
würden, teilten jedenfalls weite Kreise und zwar gerade Männer, denen
ein Urteil in Frage der internationalen Politik nicht abzusprechen war.
Man zog in Rechnung die überwiegende, die überwältigende Zahl derer, die
ein Interesse an der Erhaltung von Ruhe und Frieden hatten, im Vergleiche
mit der Minderzahl derer, die ernstlich vor dem Risiko eines Weltbrandes nicht
zurückschreckten. Ja, man konnte sich einen europäischen Krieg mit seiner Kultur¬
widrigkeit in unserem aufgeklarten Zeitalter schlechterdings nicht vorstellen.

Wir sehen heute, daß die Rechnung ihre Fehler hatte. In unserer Zeit
wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwunges hatte man bei dem allgemeinen
Drange zu Systematisieren, zu mechanisieren und zu schematisieren manche Ge¬
fühlswerte, unmeßbare und ungreifbare psychologische und moralische Faktoren
im Völkerleben zu wenig berücksichtigt. Man hatte historische und vertragliche
Bande von Staat zu Staat außer Betracht gelassen, die aus kleinen Anlässen
riesenhafte Wirkungen hervorzubringen geeignet waren, Fesseln, von denen man
dachte, daß sie im gegebenen Augenblick durch Einsicht, charaktervolles Handeln
und die Kraft zum Guten gesprengt werden würden; man hatte gehofft, daß
Vernunft und der Einsatz des Gutes und Blutes von Millionen, die kein eigenes
Interesse, nicht Herz und Willen, nicht gemeinsamer Haß an einen abenteuerlichen,
skrupelloser Kurs ihres Staates band, überall die verantwortlichen Leiter im
kritischen Momente schrecken würden, die letzten Konsequenzen einer uferlosen,
frivolen oder egoistischen Politik zu ziehen. Dabei war allerdings die ungeheure
Schwierigkeit nicht zu unterschätzen, die in unserem heutigen Europa mit seiner
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[0110] Weltwirtschaft und Weltkrieg Vernichtung von Werten, daß selbst die obsiegende Nation mit schweren wirt¬ schaftlichen Verlusten und Rückschlägen zu rechnen hatte. Der berühmte Pariser Nationalökonom Charles Gide hat die Formel geprägt, nach der das Wettrüsten den Krieg gewissermaßen in das Reich der mathematischen Operationen banne, in dem die ziffernmäßige Kriegsbereitschaft — annähernd gleiche Qualität der Truppen und Technik der Kriegsführung vorausgesetzt — den diplomatischen Aktionen in Zukunft Entscheidungskraft verleihen würde. Er stellte den Vergleich auf, daß ebenso wie die großen finanziellen Transaktionen sich heute zumeist nicht mehr durch Barzahlung, sondern auf dem Papier durch Verrechnung vollziehen, so auch die welt¬ geschichtlichen Abrechnungen durch die Größe der Nüstungsopfer gewissermaßen in rechnerische, papierene Unterlagen für diplomatische Schritte, Schiedssprüche und gütliche Ausgleichsverhandlungen sich verwandeln würden. Und — wenn auch nicht diese etwas geschraubte Theorie — so doch die Auffassung, daß bei der herrschenden wirtschaftlichen Lage uns noch lange der Friede erhalten bleiben würde, daß die leitenden Staatsmänner immer noch, sei es auch im letzten Augenblick, eine Vermittlung finden, und die Verantwortung eines Krieges von unabsehbarem Ausgange scheuen würden, teilten jedenfalls weite Kreise und zwar gerade Männer, denen ein Urteil in Frage der internationalen Politik nicht abzusprechen war. Man zog in Rechnung die überwiegende, die überwältigende Zahl derer, die ein Interesse an der Erhaltung von Ruhe und Frieden hatten, im Vergleiche mit der Minderzahl derer, die ernstlich vor dem Risiko eines Weltbrandes nicht zurückschreckten. Ja, man konnte sich einen europäischen Krieg mit seiner Kultur¬ widrigkeit in unserem aufgeklarten Zeitalter schlechterdings nicht vorstellen. Wir sehen heute, daß die Rechnung ihre Fehler hatte. In unserer Zeit wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwunges hatte man bei dem allgemeinen Drange zu Systematisieren, zu mechanisieren und zu schematisieren manche Ge¬ fühlswerte, unmeßbare und ungreifbare psychologische und moralische Faktoren im Völkerleben zu wenig berücksichtigt. Man hatte historische und vertragliche Bande von Staat zu Staat außer Betracht gelassen, die aus kleinen Anlässen riesenhafte Wirkungen hervorzubringen geeignet waren, Fesseln, von denen man dachte, daß sie im gegebenen Augenblick durch Einsicht, charaktervolles Handeln und die Kraft zum Guten gesprengt werden würden; man hatte gehofft, daß Vernunft und der Einsatz des Gutes und Blutes von Millionen, die kein eigenes Interesse, nicht Herz und Willen, nicht gemeinsamer Haß an einen abenteuerlichen, skrupelloser Kurs ihres Staates band, überall die verantwortlichen Leiter im kritischen Momente schrecken würden, die letzten Konsequenzen einer uferlosen, frivolen oder egoistischen Politik zu ziehen. Dabei war allerdings die ungeheure Schwierigkeit nicht zu unterschätzen, die in unserem heutigen Europa mit seiner eigenartigen Machtverteilung das Aufgeben einer einmal eingeschlagenen Richtung in der Politik — die sich auch wieder aus kleinen Anfängen vielfach in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/110>, abgerufen am 01.07.2024.