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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem der Arbeitslosenversicherung in Deutschland

einmal die Wirkung dieses Werkes abzuwarten, ehe an neue Veränderungen
oder gar Erweiterungen zu denken wäre, kann es doch nicht wundernehmen,
daß dieses kühne englische Beispiel neues Begehren in Deutschland weckt, ohne
Rücksicht darauf, ob die Zeiten dafür reif sind oder nicht. Dieses seit langen:
schlummernde und von Zeit zu Zeit hier und da aufflammende Verlangen nach
einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung findet nicht nur bei den Arbeitern selbst
eine wohlgehegte Stätte, sondern auch bei vielen Nationalökonomen, die sozialistischen
Tendenzen zuneigen und den Standpunkt vertreten, daß ein Volksgenosse sich
im Hause der Nation erst dann wahrhaft wohl und glücklich fühlen könne,
wenn er wisse, daß unter allen Umständen und in allen Lebensfällen aus¬
kömmlich für ihn gesorgt sei.

Wohl wird anerkannt, daß bereits eine Reihe von Städten, veranlaßt
durch die allwinterlich wiederkehrende Arbeitslosigkeit vieler Saisonarbeiter, zu
verschiedenartig ausgestalteten Arbeitslosenversicherungen geschritten sind, sei es
in einer fakultativen Form nach dem sogenannten Berner System, oder in der
Form der Gewährung von Zuschüssen an Berufsvereine mit Arbeitslosenunter¬
stützung (Genter System), oder schließlich in der Form der Arbeitslosenver¬
sicherung mit Beitrittszwang. Aber diese Einzelerscheinungen in Köln, Stuttgart,
Straßburg i. E., Schöneberg bei Berlin usw. gelten den sozialpolitischen Theoretikern
nur als ein Tropfen auf den heißen Stein. Und die Städte selbst sühlen sich
mit ihren Einrichtungen, die stets nur einen Teil der Arbeitslosen -- und nicht
einmal den bedürftigsten -- zugute kommen, so wenig auf dem rechten Wege, daß der
dritte deutsche Städtetag in Posen einmütig zu dem Beschluß kam, die Arbeits¬
losenversicherung sei nicht Sache der Gemeinden, sondern des Reiches. Nament¬
lich die industriereichen Städte wiesen eine gemeindliche Arbeitslosenversicherung
mit der triftigen Begründung weit von sich, daß sie bei starkem Niedergang
der Konjunktur unter Umständen den wirtschaftlichen Ruin der Städte, herbei¬
führen könnte.

Anderseits haben wir in Deutschland schon eine weitverzweigte private
Arbeitslosenversicherung durch die Arbeiterverbände, insbesondere die Gewerk¬
schaften. Bei einer Mitgliederzahl von 4^ Millionen hatten die deutschen
Arbeiterverbände 1912 95 Millionen Mark Einnahmen, 73 Millionen Mark
Ausgaben und etwa 100 Millionen Mark Vermögen. Ein Drittel dieser Aus¬
gaben wurde für Streiks, ein weiteres Drittel für Agitation und Verwaltung,
das restliche Drittel aber für Unterstützungsgelder verwandt. Von diesen
24 Millionen Mark Unterstützungsgeldern nun benötigte man 11 Prozent für
Jnvaliditäts- und Sterbegelder, 52 Prozent für Krankheit und 37 Prozent für
Reisen und Arbeitslosigkeit, so daß also 1912 rund 9 Millionen Mark in letzterem
Sinne von den Arbeiterverbünden verbraucht wurden.

Erst bei Kenntnis dieser Zahlen versteht man, warum gerade die Gewerk¬
schaften so zäh und unablässig für eine Reichs-Arbeitslosen-Versicherung kämpfen
und den Massen, namentlich unter Hinweis auf England, als das nächste zu


Das Problem der Arbeitslosenversicherung in Deutschland

einmal die Wirkung dieses Werkes abzuwarten, ehe an neue Veränderungen
oder gar Erweiterungen zu denken wäre, kann es doch nicht wundernehmen,
daß dieses kühne englische Beispiel neues Begehren in Deutschland weckt, ohne
Rücksicht darauf, ob die Zeiten dafür reif sind oder nicht. Dieses seit langen:
schlummernde und von Zeit zu Zeit hier und da aufflammende Verlangen nach
einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung findet nicht nur bei den Arbeitern selbst
eine wohlgehegte Stätte, sondern auch bei vielen Nationalökonomen, die sozialistischen
Tendenzen zuneigen und den Standpunkt vertreten, daß ein Volksgenosse sich
im Hause der Nation erst dann wahrhaft wohl und glücklich fühlen könne,
wenn er wisse, daß unter allen Umständen und in allen Lebensfällen aus¬
kömmlich für ihn gesorgt sei.

Wohl wird anerkannt, daß bereits eine Reihe von Städten, veranlaßt
durch die allwinterlich wiederkehrende Arbeitslosigkeit vieler Saisonarbeiter, zu
verschiedenartig ausgestalteten Arbeitslosenversicherungen geschritten sind, sei es
in einer fakultativen Form nach dem sogenannten Berner System, oder in der
Form der Gewährung von Zuschüssen an Berufsvereine mit Arbeitslosenunter¬
stützung (Genter System), oder schließlich in der Form der Arbeitslosenver¬
sicherung mit Beitrittszwang. Aber diese Einzelerscheinungen in Köln, Stuttgart,
Straßburg i. E., Schöneberg bei Berlin usw. gelten den sozialpolitischen Theoretikern
nur als ein Tropfen auf den heißen Stein. Und die Städte selbst sühlen sich
mit ihren Einrichtungen, die stets nur einen Teil der Arbeitslosen — und nicht
einmal den bedürftigsten — zugute kommen, so wenig auf dem rechten Wege, daß der
dritte deutsche Städtetag in Posen einmütig zu dem Beschluß kam, die Arbeits¬
losenversicherung sei nicht Sache der Gemeinden, sondern des Reiches. Nament¬
lich die industriereichen Städte wiesen eine gemeindliche Arbeitslosenversicherung
mit der triftigen Begründung weit von sich, daß sie bei starkem Niedergang
der Konjunktur unter Umständen den wirtschaftlichen Ruin der Städte, herbei¬
führen könnte.

Anderseits haben wir in Deutschland schon eine weitverzweigte private
Arbeitslosenversicherung durch die Arbeiterverbände, insbesondere die Gewerk¬
schaften. Bei einer Mitgliederzahl von 4^ Millionen hatten die deutschen
Arbeiterverbände 1912 95 Millionen Mark Einnahmen, 73 Millionen Mark
Ausgaben und etwa 100 Millionen Mark Vermögen. Ein Drittel dieser Aus¬
gaben wurde für Streiks, ein weiteres Drittel für Agitation und Verwaltung,
das restliche Drittel aber für Unterstützungsgelder verwandt. Von diesen
24 Millionen Mark Unterstützungsgeldern nun benötigte man 11 Prozent für
Jnvaliditäts- und Sterbegelder, 52 Prozent für Krankheit und 37 Prozent für
Reisen und Arbeitslosigkeit, so daß also 1912 rund 9 Millionen Mark in letzterem
Sinne von den Arbeiterverbünden verbraucht wurden.

Erst bei Kenntnis dieser Zahlen versteht man, warum gerade die Gewerk¬
schaften so zäh und unablässig für eine Reichs-Arbeitslosen-Versicherung kämpfen
und den Massen, namentlich unter Hinweis auf England, als das nächste zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/90>, abgerufen am 27.07.2024.