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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Reiseromantik

stände sonst gestatten --. der Sinn fürs Reisen so ganz abgeht. Wir kennen
sie ja, jene nüchternen Naturen, denen die Augen und die Seele für die tausend
Schönheiten des Alls verschlossen bleiben. Aber das ist ihre Strafe:

Nun, der ewig neue Drang "nach draußen" ist auch heute in unserem
Volke nicht erstorben. Wenn das bloße Reisen ein Kriterium dafür wäre, fo
wäre er sogar noch nie so stark gewesen wie in unseren Tagen. Denn wir
leben geradezu in einem Zeitalter des Reifens. Der heutige gebildete Europäer
reist unendlich viel, bald im Beruf, zum praktischen Zweck, bald nur zum Ver¬
gnügen.

Ob aber auch immer auf eine Art, die ihm Gewinn bringt? Das
möchten wir bezweifeln: jede Reise soll uns doch zum inneren Erlebnis werden,
soll unsere Seele in Schwingungen versetzen, soll unseren inneren Menschen
bereichern, alle seine Kräfte beweglich machen, im Aufnehmen üben, vom
goldenen Überfluß der Welt zehren lehren. Trotz des Massenreisens müssen
wir es aussprechen, daß heute der Reisegewinn für die Menschheit vielleicht
nicht größer geworden ist, daß man früher meist besser zu reisen verstand, mehr,
köstliches Bildungsgut mit heimzubringen wußte.

Besonders von einem Standpunkte aus läßt sich das nachweisen, von dem
der Romantik. Unsere ganze Zeit ist diesem Begriff wenig hold. Wie reimt
sich das Wunderbare, das Ahnungsvolle, die bloße Stimmung, die reiche
Dynamik des Seelenlebens zu unserem Alltagssein? Sehr wenig. Unsere Zeit
ist viel zu nüchtern, dem bloßen Gefühlsmäßigen daher abgekehrt. Im Zeit¬
alter des Intellektualismus und der Naturwissenschaften will man erkennen,
wissen, sich jeden Zusammenhang der Erscheinungen lückenlos herstellen. Nicht
ein Stimmungsreiz wird wertgeschätzt, sondern lediglich das sachliche Ergebnis,
der "Weisheit letzter Schluß". Daneben dominiert in unserem Leben zu sehr
der materielle Genuß. Viele von uns verlernen mehr und mehr die feinen
Reize des nur Romantischen auszukosten. Daher denn auch der gesteigerte
Daseinskampf in seinen harten Formen, die ruhelose Hetze unseres Lebens, die uns
kaum zum stillen Besinnen kommen läßt, die unsere Leiber und Seelen zermürbt.
Romantik in unser Dasein? Das hört sich sür manche Leute darum fast an
wie eine Kinderei, für die ihnen völlig jeder Sinn abgeht. Jawohl, wir sind
eine andere Generation geworden. Die Romantik ist aus unserem Leben ge¬
flohen oder vielmehr, wir haben sie vertrieben, haben sie verjagt aus unseren
Kinderstuben (wie jener Vater in Dickens Roman "Harte Zeiten", der schon
ärgerlich wurde, wenn sich sein Kind über etwas "wunderte"), aus unseren
Häusern, von unseren Festen, aus unseren Briefen, unseren Gesprächen, unseren
Seelen.


Reiseromantik

stände sonst gestatten —. der Sinn fürs Reisen so ganz abgeht. Wir kennen
sie ja, jene nüchternen Naturen, denen die Augen und die Seele für die tausend
Schönheiten des Alls verschlossen bleiben. Aber das ist ihre Strafe:

Nun, der ewig neue Drang „nach draußen" ist auch heute in unserem
Volke nicht erstorben. Wenn das bloße Reisen ein Kriterium dafür wäre, fo
wäre er sogar noch nie so stark gewesen wie in unseren Tagen. Denn wir
leben geradezu in einem Zeitalter des Reifens. Der heutige gebildete Europäer
reist unendlich viel, bald im Beruf, zum praktischen Zweck, bald nur zum Ver¬
gnügen.

Ob aber auch immer auf eine Art, die ihm Gewinn bringt? Das
möchten wir bezweifeln: jede Reise soll uns doch zum inneren Erlebnis werden,
soll unsere Seele in Schwingungen versetzen, soll unseren inneren Menschen
bereichern, alle seine Kräfte beweglich machen, im Aufnehmen üben, vom
goldenen Überfluß der Welt zehren lehren. Trotz des Massenreisens müssen
wir es aussprechen, daß heute der Reisegewinn für die Menschheit vielleicht
nicht größer geworden ist, daß man früher meist besser zu reisen verstand, mehr,
köstliches Bildungsgut mit heimzubringen wußte.

Besonders von einem Standpunkte aus läßt sich das nachweisen, von dem
der Romantik. Unsere ganze Zeit ist diesem Begriff wenig hold. Wie reimt
sich das Wunderbare, das Ahnungsvolle, die bloße Stimmung, die reiche
Dynamik des Seelenlebens zu unserem Alltagssein? Sehr wenig. Unsere Zeit
ist viel zu nüchtern, dem bloßen Gefühlsmäßigen daher abgekehrt. Im Zeit¬
alter des Intellektualismus und der Naturwissenschaften will man erkennen,
wissen, sich jeden Zusammenhang der Erscheinungen lückenlos herstellen. Nicht
ein Stimmungsreiz wird wertgeschätzt, sondern lediglich das sachliche Ergebnis,
der „Weisheit letzter Schluß". Daneben dominiert in unserem Leben zu sehr
der materielle Genuß. Viele von uns verlernen mehr und mehr die feinen
Reize des nur Romantischen auszukosten. Daher denn auch der gesteigerte
Daseinskampf in seinen harten Formen, die ruhelose Hetze unseres Lebens, die uns
kaum zum stillen Besinnen kommen läßt, die unsere Leiber und Seelen zermürbt.
Romantik in unser Dasein? Das hört sich sür manche Leute darum fast an
wie eine Kinderei, für die ihnen völlig jeder Sinn abgeht. Jawohl, wir sind
eine andere Generation geworden. Die Romantik ist aus unserem Leben ge¬
flohen oder vielmehr, wir haben sie vertrieben, haben sie verjagt aus unseren
Kinderstuben (wie jener Vater in Dickens Roman „Harte Zeiten", der schon
ärgerlich wurde, wenn sich sein Kind über etwas „wunderte"), aus unseren
Häusern, von unseren Festen, aus unseren Briefen, unseren Gesprächen, unseren
Seelen.


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[0054] Reiseromantik stände sonst gestatten —. der Sinn fürs Reisen so ganz abgeht. Wir kennen sie ja, jene nüchternen Naturen, denen die Augen und die Seele für die tausend Schönheiten des Alls verschlossen bleiben. Aber das ist ihre Strafe: Nun, der ewig neue Drang „nach draußen" ist auch heute in unserem Volke nicht erstorben. Wenn das bloße Reisen ein Kriterium dafür wäre, fo wäre er sogar noch nie so stark gewesen wie in unseren Tagen. Denn wir leben geradezu in einem Zeitalter des Reifens. Der heutige gebildete Europäer reist unendlich viel, bald im Beruf, zum praktischen Zweck, bald nur zum Ver¬ gnügen. Ob aber auch immer auf eine Art, die ihm Gewinn bringt? Das möchten wir bezweifeln: jede Reise soll uns doch zum inneren Erlebnis werden, soll unsere Seele in Schwingungen versetzen, soll unseren inneren Menschen bereichern, alle seine Kräfte beweglich machen, im Aufnehmen üben, vom goldenen Überfluß der Welt zehren lehren. Trotz des Massenreisens müssen wir es aussprechen, daß heute der Reisegewinn für die Menschheit vielleicht nicht größer geworden ist, daß man früher meist besser zu reisen verstand, mehr, köstliches Bildungsgut mit heimzubringen wußte. Besonders von einem Standpunkte aus läßt sich das nachweisen, von dem der Romantik. Unsere ganze Zeit ist diesem Begriff wenig hold. Wie reimt sich das Wunderbare, das Ahnungsvolle, die bloße Stimmung, die reiche Dynamik des Seelenlebens zu unserem Alltagssein? Sehr wenig. Unsere Zeit ist viel zu nüchtern, dem bloßen Gefühlsmäßigen daher abgekehrt. Im Zeit¬ alter des Intellektualismus und der Naturwissenschaften will man erkennen, wissen, sich jeden Zusammenhang der Erscheinungen lückenlos herstellen. Nicht ein Stimmungsreiz wird wertgeschätzt, sondern lediglich das sachliche Ergebnis, der „Weisheit letzter Schluß". Daneben dominiert in unserem Leben zu sehr der materielle Genuß. Viele von uns verlernen mehr und mehr die feinen Reize des nur Romantischen auszukosten. Daher denn auch der gesteigerte Daseinskampf in seinen harten Formen, die ruhelose Hetze unseres Lebens, die uns kaum zum stillen Besinnen kommen läßt, die unsere Leiber und Seelen zermürbt. Romantik in unser Dasein? Das hört sich sür manche Leute darum fast an wie eine Kinderei, für die ihnen völlig jeder Sinn abgeht. Jawohl, wir sind eine andere Generation geworden. Die Romantik ist aus unserem Leben ge¬ flohen oder vielmehr, wir haben sie vertrieben, haben sie verjagt aus unseren Kinderstuben (wie jener Vater in Dickens Roman „Harte Zeiten", der schon ärgerlich wurde, wenn sich sein Kind über etwas „wunderte"), aus unseren Häusern, von unseren Festen, aus unseren Briefen, unseren Gesprächen, unseren Seelen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/54>, abgerufen am 22.12.2024.