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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

Zweitens: wie tief verwurzelt die gegenwärtige Umgestaltung der Familie
ist, wie sehr sie aus den Kräften der'Gegenwart mit Notwendigkeit hervorgeht,
zeigt die Tatsache ihrer weltweiten Verbreitung. Genau dieselben Verschiebungen,
von denen wir eben sprachen, vollziehen sich auch bei unserem Bauerntum, bei
dem an sich die Bedingungen für die Erhaltung des patriarchalischen Zustandes
besonders günstig sind. Das gleiche wird uns aus dem Gebiete der italienischen
oder baltischen Bauern berichtet, und endlich vernehmen wir sogar aus den
Kolonien von den Eingeborenen das entsprechende: das Eindringen der euro¬
päischen Wirtschaft, insbesondere die Beschäftigung der jungen Leute in den
Plantagen oder Städten rufen ganz ähnliche Veränderungen in der Struktur
der Familie hervor.

Handelt es sich hier lediglich um einen Verfall? Im klassischen Altertum
ist es so gewesen. Bei uns sind die Meinungen darüber geteilt. Müller-Lyer
und auch der Verfasser stimmen denjenigen bei, die in dem heutigen Wandel einen
neuen Typus sich herausbilden sehen. Müller-Lyer bezeichnet ihn als den Typus der
frühindividualen Familie. Sie ist vor allem durch relative Selbständigkeit und
Gleichberechtigung der Ehegatten, durch Berufstätigkeit der Frau und größere
Selbständigkeit der Kinder gekennzeichnet. Freilich ist dieser Typus erst im
Werden begriffen und seiner Ausgestaltung stellen sich besonders durch die
Doppelbelastung der Frau als Mutter und Erzieherin und als erwerbstätigen
Mitgliedes der Gesellschaft die größten Schwierigkeiten entgegen. Müller-Lyer
hält diese für unbedenklich, ihre Überwindung für selbstverständlich. Nicht jeder
wird ihm hierin folgen können; auch scheint mir die Frage unabweisbar, ob
bei den heutigen Verhältnissen die Beweggründe zum Eingehen der Ehe und
zum Beharren in ihr noch stark genug sind, ob es sich -- derb ausgedrückt
-- für deu einzelnen noch hinreichend lohnt, zu heiraten und Kinder in die
Welt zu setzen, und ob, falls dieses nicht der Fall ist, die Menschen in unserem
rationalistischen Zeitalter nicht allmählich die Konsequenzen daraus ziehen werden,
kurz, ob unter diesen Verhältnissen ein hinreichender Nachwuchs uoch erzielt
werden kann. Die Phase der Entwicklung, in der wir uns befinden, das gibt
Müller-Lyer selbst zu, ist kritisch; das klassische Altertum ist an ihren Gefahren
zu Grunde gegangen. Wird es uns besser ergehen? Die Bedenken, die sich
hier erheben, hätte Müller-Lyer meines Erachtens eingehender würdigen müssen.
Wer sie schließlich doch abzuweisen geneigt ist, wird dazu bestimmt durch die
gewaltigen Kräfte der Neformtätigkeit, die wir heute auf allen Gebieten unseres
Lebens spüren. Diese Reformtätigkeit ist in der bisherigen Geschichte der
Menschheit etwas völlig Einzigartiges und Neues. Mit ihr -- kann man sagen --
ist die Menschheit in einen Wendepunkt ihrer Geschichte eingetreten: es beginnt
die Epoche der Kulturbeherrschung.




Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

Zweitens: wie tief verwurzelt die gegenwärtige Umgestaltung der Familie
ist, wie sehr sie aus den Kräften der'Gegenwart mit Notwendigkeit hervorgeht,
zeigt die Tatsache ihrer weltweiten Verbreitung. Genau dieselben Verschiebungen,
von denen wir eben sprachen, vollziehen sich auch bei unserem Bauerntum, bei
dem an sich die Bedingungen für die Erhaltung des patriarchalischen Zustandes
besonders günstig sind. Das gleiche wird uns aus dem Gebiete der italienischen
oder baltischen Bauern berichtet, und endlich vernehmen wir sogar aus den
Kolonien von den Eingeborenen das entsprechende: das Eindringen der euro¬
päischen Wirtschaft, insbesondere die Beschäftigung der jungen Leute in den
Plantagen oder Städten rufen ganz ähnliche Veränderungen in der Struktur
der Familie hervor.

Handelt es sich hier lediglich um einen Verfall? Im klassischen Altertum
ist es so gewesen. Bei uns sind die Meinungen darüber geteilt. Müller-Lyer
und auch der Verfasser stimmen denjenigen bei, die in dem heutigen Wandel einen
neuen Typus sich herausbilden sehen. Müller-Lyer bezeichnet ihn als den Typus der
frühindividualen Familie. Sie ist vor allem durch relative Selbständigkeit und
Gleichberechtigung der Ehegatten, durch Berufstätigkeit der Frau und größere
Selbständigkeit der Kinder gekennzeichnet. Freilich ist dieser Typus erst im
Werden begriffen und seiner Ausgestaltung stellen sich besonders durch die
Doppelbelastung der Frau als Mutter und Erzieherin und als erwerbstätigen
Mitgliedes der Gesellschaft die größten Schwierigkeiten entgegen. Müller-Lyer
hält diese für unbedenklich, ihre Überwindung für selbstverständlich. Nicht jeder
wird ihm hierin folgen können; auch scheint mir die Frage unabweisbar, ob
bei den heutigen Verhältnissen die Beweggründe zum Eingehen der Ehe und
zum Beharren in ihr noch stark genug sind, ob es sich — derb ausgedrückt
— für deu einzelnen noch hinreichend lohnt, zu heiraten und Kinder in die
Welt zu setzen, und ob, falls dieses nicht der Fall ist, die Menschen in unserem
rationalistischen Zeitalter nicht allmählich die Konsequenzen daraus ziehen werden,
kurz, ob unter diesen Verhältnissen ein hinreichender Nachwuchs uoch erzielt
werden kann. Die Phase der Entwicklung, in der wir uns befinden, das gibt
Müller-Lyer selbst zu, ist kritisch; das klassische Altertum ist an ihren Gefahren
zu Grunde gegangen. Wird es uns besser ergehen? Die Bedenken, die sich
hier erheben, hätte Müller-Lyer meines Erachtens eingehender würdigen müssen.
Wer sie schließlich doch abzuweisen geneigt ist, wird dazu bestimmt durch die
gewaltigen Kräfte der Neformtätigkeit, die wir heute auf allen Gebieten unseres
Lebens spüren. Diese Reformtätigkeit ist in der bisherigen Geschichte der
Menschheit etwas völlig Einzigartiges und Neues. Mit ihr — kann man sagen —
ist die Menschheit in einen Wendepunkt ihrer Geschichte eingetreten: es beginnt
die Epoche der Kulturbeherrschung.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/481>, abgerufen am 27.07.2024.