Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

wandtschaft losgelöst, als bei ti'in Aufenthalt an fremden Orten seine gesell¬
schaftliche Stellung rin derjenigen seiner Verwandten in geringerem Zusammenhang
steht. Alles in allein hat die Erzeugung und Gewinnung sachlicher Güter durch
die Familie gegen früher sehr abgenommen: sie erzeugt und vermittelt dem
einzelnen viel weniger wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse und erzieherische
Güter als früher. Früher eine Stätte reger Produktion von Sachgütern, ist
die Familie heute vorwiegend eine Stelle bloßer Konsumtion geworden.
Sehen wir von den rein persönlichen Verhältnissen und rein persönlichen Gütern
ab, so bedeuten also die Eltern viel weniger für die Kinder und diese weniger
für die Eltern als früher. Umgekehrt belastet der Nachwuchs die Eltern heute
viel mehr als früher: man denke an die erhöhten Kosten, an die gesteigerten
Anforderungen, die an die Erziehungstätigkeit gestellt werden, endlich an die
Erschwerung, auf die im modernen Leben die Befriedigung der Spielbedürfnisse
und die gesundheitliche Fürsorge für die Kinder stößt (von den Wohnungsnöten
kinderreicher unbemittelter Eltern ganz abgesehen). So drängen eine, ganze
Reihe von Ursachen auf den bekannten Geburtenrückgang hin; wie töricht
und verfehlt, einen so tiefbegründeten Vorgang durch Polizeimaßregeln und
ähnliche kleinliche Mittel bekämpfen zu wollen! Wer ein Verständnis hat für
die großen kausalen Zusammenhange und die großen Gesetzmäßigkeiten in den
menschlichen Dingen, der wird in solchen Versuchen nur den Ausdruck einer in
die Praxis übersetzten mythologischen Denkweiss erblicken könnet!, die über die
Vorstellung der Zufallskausalität nicht hinauskommt. Die geringe Kinderzahl
wirkt ihrerseits aber wieder beeinträchtigend auf den Gehalt des Familienlebens:
im engeren Kreise verengert sich der Sinn; in einem kleinen Kreise sind schon
die persönlichen Güter, die das gemeinsame Leben bietet, geringer; und ebenso
ist in ihm der Wirkungskreis für die Mutter vermindert.

Die vorstehenden Andeutungen über die gewaltigen Wandlungen, die sich
gegenwärtig im Charakter der Familie vollziehe n, mögen genügen, um so mehr,
als bei einer früheren Gelegenheit in diesen Blättern schon ausführlich davon die
Rede gewesen ist.*) Hinzugefügt seien noch zwei Bemerkungen. Erstens: man darf
die heutige Bedeutung der Familie für Staat und Gesellschaft nicht überschätzen.
Es ist falsch, mindestens einseitig, wenn immer noch der alte Satz wiederholt
wird: die Familie bildet die Grundlage des Staates. Leider geschieht das, von
den politischen Parteien und der sogenannten offiziellen Moral abgesehen, selbst
in Werken von wissenschaftlichem Charakter. Tatsächlich liegen heute die ent¬
scheidenden Kräfte für die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten viel mehr in den
zahlreichen Organisationen, durch die die Gegenwart sich vor allen anderen Zeiten
auszeichnet. Und auch im Gebiete der Erziehung machen, wie wir schon sahen,
die öffentlichen Veranstaltungen der Familie an Bedeutung den Rang streitig.



71. Jahrgang, Seite 361 und 493. Vergl. Mutter-Lyers sehr radikale Formulierung
des Sachverhnltes in der "Familie", Seite 301. Neuerdings hat auch Prof. L. von Wiese
in mehreren Vortrügen und Aufsätzen den Sachverhalt in derselben Weise beleuchtet.
Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

wandtschaft losgelöst, als bei ti'in Aufenthalt an fremden Orten seine gesell¬
schaftliche Stellung rin derjenigen seiner Verwandten in geringerem Zusammenhang
steht. Alles in allein hat die Erzeugung und Gewinnung sachlicher Güter durch
die Familie gegen früher sehr abgenommen: sie erzeugt und vermittelt dem
einzelnen viel weniger wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse und erzieherische
Güter als früher. Früher eine Stätte reger Produktion von Sachgütern, ist
die Familie heute vorwiegend eine Stelle bloßer Konsumtion geworden.
Sehen wir von den rein persönlichen Verhältnissen und rein persönlichen Gütern
ab, so bedeuten also die Eltern viel weniger für die Kinder und diese weniger
für die Eltern als früher. Umgekehrt belastet der Nachwuchs die Eltern heute
viel mehr als früher: man denke an die erhöhten Kosten, an die gesteigerten
Anforderungen, die an die Erziehungstätigkeit gestellt werden, endlich an die
Erschwerung, auf die im modernen Leben die Befriedigung der Spielbedürfnisse
und die gesundheitliche Fürsorge für die Kinder stößt (von den Wohnungsnöten
kinderreicher unbemittelter Eltern ganz abgesehen). So drängen eine, ganze
Reihe von Ursachen auf den bekannten Geburtenrückgang hin; wie töricht
und verfehlt, einen so tiefbegründeten Vorgang durch Polizeimaßregeln und
ähnliche kleinliche Mittel bekämpfen zu wollen! Wer ein Verständnis hat für
die großen kausalen Zusammenhange und die großen Gesetzmäßigkeiten in den
menschlichen Dingen, der wird in solchen Versuchen nur den Ausdruck einer in
die Praxis übersetzten mythologischen Denkweiss erblicken könnet!, die über die
Vorstellung der Zufallskausalität nicht hinauskommt. Die geringe Kinderzahl
wirkt ihrerseits aber wieder beeinträchtigend auf den Gehalt des Familienlebens:
im engeren Kreise verengert sich der Sinn; in einem kleinen Kreise sind schon
die persönlichen Güter, die das gemeinsame Leben bietet, geringer; und ebenso
ist in ihm der Wirkungskreis für die Mutter vermindert.

Die vorstehenden Andeutungen über die gewaltigen Wandlungen, die sich
gegenwärtig im Charakter der Familie vollziehe n, mögen genügen, um so mehr,
als bei einer früheren Gelegenheit in diesen Blättern schon ausführlich davon die
Rede gewesen ist.*) Hinzugefügt seien noch zwei Bemerkungen. Erstens: man darf
die heutige Bedeutung der Familie für Staat und Gesellschaft nicht überschätzen.
Es ist falsch, mindestens einseitig, wenn immer noch der alte Satz wiederholt
wird: die Familie bildet die Grundlage des Staates. Leider geschieht das, von
den politischen Parteien und der sogenannten offiziellen Moral abgesehen, selbst
in Werken von wissenschaftlichem Charakter. Tatsächlich liegen heute die ent¬
scheidenden Kräfte für die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten viel mehr in den
zahlreichen Organisationen, durch die die Gegenwart sich vor allen anderen Zeiten
auszeichnet. Und auch im Gebiete der Erziehung machen, wie wir schon sahen,
die öffentlichen Veranstaltungen der Familie an Bedeutung den Rang streitig.



71. Jahrgang, Seite 361 und 493. Vergl. Mutter-Lyers sehr radikale Formulierung
des Sachverhnltes in der „Familie", Seite 301. Neuerdings hat auch Prof. L. von Wiese
in mehreren Vortrügen und Aufsätzen den Sachverhalt in derselben Weise beleuchtet.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0480" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329214"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1588" prev="#ID_1587"> wandtschaft losgelöst, als bei ti'in Aufenthalt an fremden Orten seine gesell¬<lb/>
schaftliche Stellung rin derjenigen seiner Verwandten in geringerem Zusammenhang<lb/>
steht. Alles in allein hat die Erzeugung und Gewinnung sachlicher Güter durch<lb/>
die Familie gegen früher sehr abgenommen: sie erzeugt und vermittelt dem<lb/>
einzelnen viel weniger wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse und erzieherische<lb/>
Güter als früher. Früher eine Stätte reger Produktion von Sachgütern, ist<lb/>
die Familie heute vorwiegend eine Stelle bloßer Konsumtion geworden.<lb/>
Sehen wir von den rein persönlichen Verhältnissen und rein persönlichen Gütern<lb/>
ab, so bedeuten also die Eltern viel weniger für die Kinder und diese weniger<lb/>
für die Eltern als früher. Umgekehrt belastet der Nachwuchs die Eltern heute<lb/>
viel mehr als früher: man denke an die erhöhten Kosten, an die gesteigerten<lb/>
Anforderungen, die an die Erziehungstätigkeit gestellt werden, endlich an die<lb/>
Erschwerung, auf die im modernen Leben die Befriedigung der Spielbedürfnisse<lb/>
und die gesundheitliche Fürsorge für die Kinder stößt (von den Wohnungsnöten<lb/>
kinderreicher unbemittelter Eltern ganz abgesehen). So drängen eine, ganze<lb/>
Reihe von Ursachen auf den bekannten Geburtenrückgang hin; wie töricht<lb/>
und verfehlt, einen so tiefbegründeten Vorgang durch Polizeimaßregeln und<lb/>
ähnliche kleinliche Mittel bekämpfen zu wollen! Wer ein Verständnis hat für<lb/>
die großen kausalen Zusammenhange und die großen Gesetzmäßigkeiten in den<lb/>
menschlichen Dingen, der wird in solchen Versuchen nur den Ausdruck einer in<lb/>
die Praxis übersetzten mythologischen Denkweiss erblicken könnet!, die über die<lb/>
Vorstellung der Zufallskausalität nicht hinauskommt. Die geringe Kinderzahl<lb/>
wirkt ihrerseits aber wieder beeinträchtigend auf den Gehalt des Familienlebens:<lb/>
im engeren Kreise verengert sich der Sinn; in einem kleinen Kreise sind schon<lb/>
die persönlichen Güter, die das gemeinsame Leben bietet, geringer; und ebenso<lb/>
ist in ihm der Wirkungskreis für die Mutter vermindert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1589"> Die vorstehenden Andeutungen über die gewaltigen Wandlungen, die sich<lb/>
gegenwärtig im Charakter der Familie vollziehe n, mögen genügen, um so mehr,<lb/>
als bei einer früheren Gelegenheit in diesen Blättern schon ausführlich davon die<lb/>
Rede gewesen ist.*) Hinzugefügt seien noch zwei Bemerkungen. Erstens: man darf<lb/>
die heutige Bedeutung der Familie für Staat und Gesellschaft nicht überschätzen.<lb/>
Es ist falsch, mindestens einseitig, wenn immer noch der alte Satz wiederholt<lb/>
wird: die Familie bildet die Grundlage des Staates. Leider geschieht das, von<lb/>
den politischen Parteien und der sogenannten offiziellen Moral abgesehen, selbst<lb/>
in Werken von wissenschaftlichem Charakter. Tatsächlich liegen heute die ent¬<lb/>
scheidenden Kräfte für die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten viel mehr in den<lb/>
zahlreichen Organisationen, durch die die Gegenwart sich vor allen anderen Zeiten<lb/>
auszeichnet. Und auch im Gebiete der Erziehung machen, wie wir schon sahen,<lb/>
die öffentlichen Veranstaltungen der Familie an Bedeutung den Rang streitig.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_124" place="foot"> 71. Jahrgang, Seite 361 und 493. Vergl. Mutter-Lyers sehr radikale Formulierung<lb/>
des Sachverhnltes in der &#x201E;Familie", Seite 301. Neuerdings hat auch Prof. L. von Wiese<lb/>
in mehreren Vortrügen und Aufsätzen den Sachverhalt in derselben Weise beleuchtet.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0480] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens wandtschaft losgelöst, als bei ti'in Aufenthalt an fremden Orten seine gesell¬ schaftliche Stellung rin derjenigen seiner Verwandten in geringerem Zusammenhang steht. Alles in allein hat die Erzeugung und Gewinnung sachlicher Güter durch die Familie gegen früher sehr abgenommen: sie erzeugt und vermittelt dem einzelnen viel weniger wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse und erzieherische Güter als früher. Früher eine Stätte reger Produktion von Sachgütern, ist die Familie heute vorwiegend eine Stelle bloßer Konsumtion geworden. Sehen wir von den rein persönlichen Verhältnissen und rein persönlichen Gütern ab, so bedeuten also die Eltern viel weniger für die Kinder und diese weniger für die Eltern als früher. Umgekehrt belastet der Nachwuchs die Eltern heute viel mehr als früher: man denke an die erhöhten Kosten, an die gesteigerten Anforderungen, die an die Erziehungstätigkeit gestellt werden, endlich an die Erschwerung, auf die im modernen Leben die Befriedigung der Spielbedürfnisse und die gesundheitliche Fürsorge für die Kinder stößt (von den Wohnungsnöten kinderreicher unbemittelter Eltern ganz abgesehen). So drängen eine, ganze Reihe von Ursachen auf den bekannten Geburtenrückgang hin; wie töricht und verfehlt, einen so tiefbegründeten Vorgang durch Polizeimaßregeln und ähnliche kleinliche Mittel bekämpfen zu wollen! Wer ein Verständnis hat für die großen kausalen Zusammenhange und die großen Gesetzmäßigkeiten in den menschlichen Dingen, der wird in solchen Versuchen nur den Ausdruck einer in die Praxis übersetzten mythologischen Denkweiss erblicken könnet!, die über die Vorstellung der Zufallskausalität nicht hinauskommt. Die geringe Kinderzahl wirkt ihrerseits aber wieder beeinträchtigend auf den Gehalt des Familienlebens: im engeren Kreise verengert sich der Sinn; in einem kleinen Kreise sind schon die persönlichen Güter, die das gemeinsame Leben bietet, geringer; und ebenso ist in ihm der Wirkungskreis für die Mutter vermindert. Die vorstehenden Andeutungen über die gewaltigen Wandlungen, die sich gegenwärtig im Charakter der Familie vollziehe n, mögen genügen, um so mehr, als bei einer früheren Gelegenheit in diesen Blättern schon ausführlich davon die Rede gewesen ist.*) Hinzugefügt seien noch zwei Bemerkungen. Erstens: man darf die heutige Bedeutung der Familie für Staat und Gesellschaft nicht überschätzen. Es ist falsch, mindestens einseitig, wenn immer noch der alte Satz wiederholt wird: die Familie bildet die Grundlage des Staates. Leider geschieht das, von den politischen Parteien und der sogenannten offiziellen Moral abgesehen, selbst in Werken von wissenschaftlichem Charakter. Tatsächlich liegen heute die ent¬ scheidenden Kräfte für die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten viel mehr in den zahlreichen Organisationen, durch die die Gegenwart sich vor allen anderen Zeiten auszeichnet. Und auch im Gebiete der Erziehung machen, wie wir schon sahen, die öffentlichen Veranstaltungen der Familie an Bedeutung den Rang streitig. 71. Jahrgang, Seite 361 und 493. Vergl. Mutter-Lyers sehr radikale Formulierung des Sachverhnltes in der „Familie", Seite 301. Neuerdings hat auch Prof. L. von Wiese in mehreren Vortrügen und Aufsätzen den Sachverhalt in derselben Weise beleuchtet.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/480
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/480>, abgerufen am 27.07.2024.