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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Engländer

nirgends im Volke den rechtzeitigen Widerstand gefunden hat, der allein das
Unheil hätte abwenden können, so hat sich damit zweifellos die Gesamtheit des
englischen Volkes an dem Vorgehen der Regierung mit schuldig gemacht. Und
dieses ist es, was wir am wenigsten verstehen: wie vereinigt sich eine solche
Haltung mit dem Charakter und dem Kulturstand, den wir trotz einzelner
Gegensätze dem englischen Volke zuzusprechen gewohnt sind und der uns immer
wieder Vertrauen auf seine Loyalität und Friedensliebe eingeflößt hat?

Zweifellos, es kann kein Land geben, in welchem der Ausländer stärker
und entschiedener den Eindruck einer alten tief eingewurzelten Kultur empfängt
als in England mit seinen alten Städten und modernen Landhäusern, seinen
Herrensitzen und Universitäten, seinen Überlieferungen und Einrichtungen, mit
der Gastlichkeit seiner oberen und der freundlichen Liebenswürdigkeit seiner
unteren Volksklassen. Der Weltliteratur und Poesie ist hier eine Reihe von
Genien erstanden. derTechnik und der Wissenschaft eine ganze Anzahl bahnbrechender
Talente. Man braucht kein Anbeter fremder Sitten zu sein, wenn man von
dem Stil des englischen Lebens ebenso unmittelbar fasziniert wird wie von der
Poesie Byrons und Shelleys oder von den Lebensschilderungen der Eliot, --
von Shakespeare gar nicht zu reden. Aber wenn man aus dem Zauber erwacht
und mit unbefangenen Augen sieht, so wird man sich sagen müssen, daß die
englische Kultur, wie sie sich dem nüchternen Blick darstellt, zwar wertvoll ist und
vor allem sehr ausgeprägte Züge trägt, daß aber das Niveau, von dem sie
Zeugen, in intellektueller Beziehung nicht eben hoch steht. Die englische Kultur
'se doch mehr Zivilisation, um den bekannten Gegensatz anzuwenden. Sie besteht
in einer nun schon längst Überlieferung gewordenen entschiedenen Beherrschung
der äußeren Lebensbedingungen und Lebensformen, mehr, als in eigentlicher
Geistesbildung wie sie der Deutsche bis tief ins Volk hinein anerkennt und anstrebt.
Die Formen des Lebens haben Stil und die herrschenden Anschauungen zumeist
natürliche und verständige Grundlagen. Beide sind von einer konservativen
Nation in jahrhundertlanger Überlieferung ausgebildet. Aber sie haben eben
hierdurch etwas Starres bekommen und engen den Durchschnittsengländer auch
der höheren Klassen in jeder Hinsicht ein. Die Interessen gehen im allgemeinen
über Familienleben und Geschüft, Sport und Politik nicht hinaus. Für die
ideale Seite des Lebens sorgt im übrigen eine sehr äußerliche und konventionelle
Kirchlichkeit. Die Weltherrschaft und die Weite der Handelsbeziehungen hat den
Blick des Engländers tatsächlich nur äußerlich erweitert, aber in keiner Weise
vertieft, und das öffentliche Leben zeigt jenes eigentümliche Gemisch von geschäft¬
lichem Weitblick und Kühnheit der Spekulationen mit pedantischen Urteil in
sittlichen Dingen und engherzigen Haften an Hergebrachten, das auch bei anderen
Handelsvölkern nicht selten charakteristisch hervortritt. Infolgedessen ist der Abstand
Zwischen den eigentlichen Kulturträgern, den Intellektuellen, und nicht etwa bloß
der Masse, sondern dem Durchschnitt der Gebildeten und herrschenden Klassen
ungemein groß, jedenfalls viel schärfer ausgeprägt als wir uns nach deutschen


Die Engländer

nirgends im Volke den rechtzeitigen Widerstand gefunden hat, der allein das
Unheil hätte abwenden können, so hat sich damit zweifellos die Gesamtheit des
englischen Volkes an dem Vorgehen der Regierung mit schuldig gemacht. Und
dieses ist es, was wir am wenigsten verstehen: wie vereinigt sich eine solche
Haltung mit dem Charakter und dem Kulturstand, den wir trotz einzelner
Gegensätze dem englischen Volke zuzusprechen gewohnt sind und der uns immer
wieder Vertrauen auf seine Loyalität und Friedensliebe eingeflößt hat?

Zweifellos, es kann kein Land geben, in welchem der Ausländer stärker
und entschiedener den Eindruck einer alten tief eingewurzelten Kultur empfängt
als in England mit seinen alten Städten und modernen Landhäusern, seinen
Herrensitzen und Universitäten, seinen Überlieferungen und Einrichtungen, mit
der Gastlichkeit seiner oberen und der freundlichen Liebenswürdigkeit seiner
unteren Volksklassen. Der Weltliteratur und Poesie ist hier eine Reihe von
Genien erstanden. derTechnik und der Wissenschaft eine ganze Anzahl bahnbrechender
Talente. Man braucht kein Anbeter fremder Sitten zu sein, wenn man von
dem Stil des englischen Lebens ebenso unmittelbar fasziniert wird wie von der
Poesie Byrons und Shelleys oder von den Lebensschilderungen der Eliot, —
von Shakespeare gar nicht zu reden. Aber wenn man aus dem Zauber erwacht
und mit unbefangenen Augen sieht, so wird man sich sagen müssen, daß die
englische Kultur, wie sie sich dem nüchternen Blick darstellt, zwar wertvoll ist und
vor allem sehr ausgeprägte Züge trägt, daß aber das Niveau, von dem sie
Zeugen, in intellektueller Beziehung nicht eben hoch steht. Die englische Kultur
'se doch mehr Zivilisation, um den bekannten Gegensatz anzuwenden. Sie besteht
in einer nun schon längst Überlieferung gewordenen entschiedenen Beherrschung
der äußeren Lebensbedingungen und Lebensformen, mehr, als in eigentlicher
Geistesbildung wie sie der Deutsche bis tief ins Volk hinein anerkennt und anstrebt.
Die Formen des Lebens haben Stil und die herrschenden Anschauungen zumeist
natürliche und verständige Grundlagen. Beide sind von einer konservativen
Nation in jahrhundertlanger Überlieferung ausgebildet. Aber sie haben eben
hierdurch etwas Starres bekommen und engen den Durchschnittsengländer auch
der höheren Klassen in jeder Hinsicht ein. Die Interessen gehen im allgemeinen
über Familienleben und Geschüft, Sport und Politik nicht hinaus. Für die
ideale Seite des Lebens sorgt im übrigen eine sehr äußerliche und konventionelle
Kirchlichkeit. Die Weltherrschaft und die Weite der Handelsbeziehungen hat den
Blick des Engländers tatsächlich nur äußerlich erweitert, aber in keiner Weise
vertieft, und das öffentliche Leben zeigt jenes eigentümliche Gemisch von geschäft¬
lichem Weitblick und Kühnheit der Spekulationen mit pedantischen Urteil in
sittlichen Dingen und engherzigen Haften an Hergebrachten, das auch bei anderen
Handelsvölkern nicht selten charakteristisch hervortritt. Infolgedessen ist der Abstand
Zwischen den eigentlichen Kulturträgern, den Intellektuellen, und nicht etwa bloß
der Masse, sondern dem Durchschnitt der Gebildeten und herrschenden Klassen
ungemein groß, jedenfalls viel schärfer ausgeprägt als wir uns nach deutschen


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[0469] Die Engländer nirgends im Volke den rechtzeitigen Widerstand gefunden hat, der allein das Unheil hätte abwenden können, so hat sich damit zweifellos die Gesamtheit des englischen Volkes an dem Vorgehen der Regierung mit schuldig gemacht. Und dieses ist es, was wir am wenigsten verstehen: wie vereinigt sich eine solche Haltung mit dem Charakter und dem Kulturstand, den wir trotz einzelner Gegensätze dem englischen Volke zuzusprechen gewohnt sind und der uns immer wieder Vertrauen auf seine Loyalität und Friedensliebe eingeflößt hat? Zweifellos, es kann kein Land geben, in welchem der Ausländer stärker und entschiedener den Eindruck einer alten tief eingewurzelten Kultur empfängt als in England mit seinen alten Städten und modernen Landhäusern, seinen Herrensitzen und Universitäten, seinen Überlieferungen und Einrichtungen, mit der Gastlichkeit seiner oberen und der freundlichen Liebenswürdigkeit seiner unteren Volksklassen. Der Weltliteratur und Poesie ist hier eine Reihe von Genien erstanden. derTechnik und der Wissenschaft eine ganze Anzahl bahnbrechender Talente. Man braucht kein Anbeter fremder Sitten zu sein, wenn man von dem Stil des englischen Lebens ebenso unmittelbar fasziniert wird wie von der Poesie Byrons und Shelleys oder von den Lebensschilderungen der Eliot, — von Shakespeare gar nicht zu reden. Aber wenn man aus dem Zauber erwacht und mit unbefangenen Augen sieht, so wird man sich sagen müssen, daß die englische Kultur, wie sie sich dem nüchternen Blick darstellt, zwar wertvoll ist und vor allem sehr ausgeprägte Züge trägt, daß aber das Niveau, von dem sie Zeugen, in intellektueller Beziehung nicht eben hoch steht. Die englische Kultur 'se doch mehr Zivilisation, um den bekannten Gegensatz anzuwenden. Sie besteht in einer nun schon längst Überlieferung gewordenen entschiedenen Beherrschung der äußeren Lebensbedingungen und Lebensformen, mehr, als in eigentlicher Geistesbildung wie sie der Deutsche bis tief ins Volk hinein anerkennt und anstrebt. Die Formen des Lebens haben Stil und die herrschenden Anschauungen zumeist natürliche und verständige Grundlagen. Beide sind von einer konservativen Nation in jahrhundertlanger Überlieferung ausgebildet. Aber sie haben eben hierdurch etwas Starres bekommen und engen den Durchschnittsengländer auch der höheren Klassen in jeder Hinsicht ein. Die Interessen gehen im allgemeinen über Familienleben und Geschüft, Sport und Politik nicht hinaus. Für die ideale Seite des Lebens sorgt im übrigen eine sehr äußerliche und konventionelle Kirchlichkeit. Die Weltherrschaft und die Weite der Handelsbeziehungen hat den Blick des Engländers tatsächlich nur äußerlich erweitert, aber in keiner Weise vertieft, und das öffentliche Leben zeigt jenes eigentümliche Gemisch von geschäft¬ lichem Weitblick und Kühnheit der Spekulationen mit pedantischen Urteil in sittlichen Dingen und engherzigen Haften an Hergebrachten, das auch bei anderen Handelsvölkern nicht selten charakteristisch hervortritt. Infolgedessen ist der Abstand Zwischen den eigentlichen Kulturträgern, den Intellektuellen, und nicht etwa bloß der Masse, sondern dem Durchschnitt der Gebildeten und herrschenden Klassen ungemein groß, jedenfalls viel schärfer ausgeprägt als wir uns nach deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/469>, abgerufen am 28.07.2024.