Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Engländer

Herrenhaus gar nicht zu reden) keine Volksvertretung im demokratischen Sinne,
sondern eine Klassenvertretung in engster Bedeutung des Wortes ist. auch
nach den mehrfachen Reformen, die das 19. Jahrhundert gebracht hat. noch ist.
Es sind freilich die geistig führenden Klassen der Nation, die hier regieren, und
solange die von diesen gebildeten Parteien großzügige, geschichtlich gefestigte
Programme verfolgen, wie das in England lange Zeit geschah, wird das
parlamentarische Regime eine gewisse, wenn auch im einzelnen nicht immer
gleichmäßige Höhe behaupten. Überall aber, wo das noch nicht oder nicht mehr der
Fall ist, da verwirklicht sich unvermeidlich die Gefahr, die ein für alle Mal die
Begleiterscheinung des Parlamentarismus bildet: die Oligarchie, die Herrschaft
der Kliquen, die sich der parlamentarischen Formen bedienen, um ihre selbstischen
und zumeist rein persönlichen Interessen durchzusetzen. -- am schlimmsten da.
wo das Hauptziel der Machthaber kein anderes ist, als sich an der Macht
zu erhalten. Denn in diesem Fall pflegen ihnen keine Mittel zu schlecht
Zu sein, um ihren Zweck zu erreichen. Dieses Schauspiel bieten uns in
grotesker Verzerrung die kleineren Staaten, besonders auf dem Balkan, die
zumeist unter englischem Einfluß mit parlamentarischer Verfassung beglückt
worden sind. Aber ähnliches zeigt sich wie vorhin schon angedeutet, in der
Geschichte der dritten französischen Republik, und es ist nunmehr als ein aus¬
gesprochenes Verfallsymptom auch in England in die Erscheinung getreten. Die
inneren Verhältnisse haben sich durch die Arbeiterbewegung einerseits, durch die
Homerulefrage andererseits so kompliziert, daß die einfache Geschlossenheit der
geschichtlichen Parteien und ihrer Programme unmöglich geworden ist. Und
eben jetzt stand die Regierung vor einer Verwirrung, die jeden Augenblick in
offenen Bürgerkrieg umzuschlagen drohte. Daß der Gegensatz der feindlichen
Parteien in der irischen Frage durch einen Krieg gegen Deutschland, der
wesentlich als Handels- und Kaperkrieg gedacht ist, mehr als bloß vertagt, daß
er durch ein solches Mittel dauernd überbrückt werden könnte, glaubt auch das
jetzige Ministerium schwerlich. Aber es wollte wenigstens nicht selber verzichten,
weder aus sein Programm, noch auf die Macht, und der europäische Krieg
erscheint ihm als rettende Fristung.

Wenn die innere Politik Englands verwickelt und schwierig geworden ist.
so ist die äußere seit einigen Jahren völlig desorientiert und zwar durch die
Einkreisungsidee Eduards des Siebenten. Was auch die letzte" Beweggründe
des Königs gewesen sein mögen, persönlicher Haß oder rechnerische Gewinnsucht,
sein Einfluß hat zu einem vollständigen Bruch mit den traditionell leitenden
Ideen der englischen Politik geführt. Diese Politik war seit hundert Jahren
auf die Erhaltung des indischen Reiches gerichtet. Als Voraussetzung dafür
galt die unbedingte Beherrschung der Meereswege und Länder, die das Mutier¬
land mit diesem Reiche verband. Darüber hinaus und zum größten Teil da¬
durch genötigt, mußte der Einfluß Englands im nahen Osten ein selbständiger
und umfassender, im fernen wenigstens ein alles andere überwiegender sein.


Die Engländer

Herrenhaus gar nicht zu reden) keine Volksvertretung im demokratischen Sinne,
sondern eine Klassenvertretung in engster Bedeutung des Wortes ist. auch
nach den mehrfachen Reformen, die das 19. Jahrhundert gebracht hat. noch ist.
Es sind freilich die geistig führenden Klassen der Nation, die hier regieren, und
solange die von diesen gebildeten Parteien großzügige, geschichtlich gefestigte
Programme verfolgen, wie das in England lange Zeit geschah, wird das
parlamentarische Regime eine gewisse, wenn auch im einzelnen nicht immer
gleichmäßige Höhe behaupten. Überall aber, wo das noch nicht oder nicht mehr der
Fall ist, da verwirklicht sich unvermeidlich die Gefahr, die ein für alle Mal die
Begleiterscheinung des Parlamentarismus bildet: die Oligarchie, die Herrschaft
der Kliquen, die sich der parlamentarischen Formen bedienen, um ihre selbstischen
und zumeist rein persönlichen Interessen durchzusetzen. — am schlimmsten da.
wo das Hauptziel der Machthaber kein anderes ist, als sich an der Macht
zu erhalten. Denn in diesem Fall pflegen ihnen keine Mittel zu schlecht
Zu sein, um ihren Zweck zu erreichen. Dieses Schauspiel bieten uns in
grotesker Verzerrung die kleineren Staaten, besonders auf dem Balkan, die
zumeist unter englischem Einfluß mit parlamentarischer Verfassung beglückt
worden sind. Aber ähnliches zeigt sich wie vorhin schon angedeutet, in der
Geschichte der dritten französischen Republik, und es ist nunmehr als ein aus¬
gesprochenes Verfallsymptom auch in England in die Erscheinung getreten. Die
inneren Verhältnisse haben sich durch die Arbeiterbewegung einerseits, durch die
Homerulefrage andererseits so kompliziert, daß die einfache Geschlossenheit der
geschichtlichen Parteien und ihrer Programme unmöglich geworden ist. Und
eben jetzt stand die Regierung vor einer Verwirrung, die jeden Augenblick in
offenen Bürgerkrieg umzuschlagen drohte. Daß der Gegensatz der feindlichen
Parteien in der irischen Frage durch einen Krieg gegen Deutschland, der
wesentlich als Handels- und Kaperkrieg gedacht ist, mehr als bloß vertagt, daß
er durch ein solches Mittel dauernd überbrückt werden könnte, glaubt auch das
jetzige Ministerium schwerlich. Aber es wollte wenigstens nicht selber verzichten,
weder aus sein Programm, noch auf die Macht, und der europäische Krieg
erscheint ihm als rettende Fristung.

Wenn die innere Politik Englands verwickelt und schwierig geworden ist.
so ist die äußere seit einigen Jahren völlig desorientiert und zwar durch die
Einkreisungsidee Eduards des Siebenten. Was auch die letzte« Beweggründe
des Königs gewesen sein mögen, persönlicher Haß oder rechnerische Gewinnsucht,
sein Einfluß hat zu einem vollständigen Bruch mit den traditionell leitenden
Ideen der englischen Politik geführt. Diese Politik war seit hundert Jahren
auf die Erhaltung des indischen Reiches gerichtet. Als Voraussetzung dafür
galt die unbedingte Beherrschung der Meereswege und Länder, die das Mutier¬
land mit diesem Reiche verband. Darüber hinaus und zum größten Teil da¬
durch genötigt, mußte der Einfluß Englands im nahen Osten ein selbständiger
und umfassender, im fernen wenigstens ein alles andere überwiegender sein.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0467" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329201"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Engländer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1561" prev="#ID_1560"> Herrenhaus gar nicht zu reden) keine Volksvertretung im demokratischen Sinne,<lb/>
sondern eine Klassenvertretung in engster Bedeutung des Wortes ist. auch<lb/>
nach den mehrfachen Reformen, die das 19. Jahrhundert gebracht hat. noch ist.<lb/>
Es sind freilich die geistig führenden Klassen der Nation, die hier regieren, und<lb/>
solange die von diesen gebildeten Parteien großzügige, geschichtlich gefestigte<lb/>
Programme verfolgen, wie das in England lange Zeit geschah, wird das<lb/>
parlamentarische Regime eine gewisse, wenn auch im einzelnen nicht immer<lb/>
gleichmäßige Höhe behaupten. Überall aber, wo das noch nicht oder nicht mehr der<lb/>
Fall ist, da verwirklicht sich unvermeidlich die Gefahr, die ein für alle Mal die<lb/>
Begleiterscheinung des Parlamentarismus bildet: die Oligarchie, die Herrschaft<lb/>
der Kliquen, die sich der parlamentarischen Formen bedienen, um ihre selbstischen<lb/>
und zumeist rein persönlichen Interessen durchzusetzen. &#x2014; am schlimmsten da.<lb/>
wo das Hauptziel der Machthaber kein anderes ist, als sich an der Macht<lb/>
zu erhalten. Denn in diesem Fall pflegen ihnen keine Mittel zu schlecht<lb/>
Zu sein, um ihren Zweck zu erreichen. Dieses Schauspiel bieten uns in<lb/>
grotesker Verzerrung die kleineren Staaten, besonders auf dem Balkan, die<lb/>
zumeist unter englischem Einfluß mit parlamentarischer Verfassung beglückt<lb/>
worden sind. Aber ähnliches zeigt sich wie vorhin schon angedeutet, in der<lb/>
Geschichte der dritten französischen Republik, und es ist nunmehr als ein aus¬<lb/>
gesprochenes Verfallsymptom auch in England in die Erscheinung getreten. Die<lb/>
inneren Verhältnisse haben sich durch die Arbeiterbewegung einerseits, durch die<lb/>
Homerulefrage andererseits so kompliziert, daß die einfache Geschlossenheit der<lb/>
geschichtlichen Parteien und ihrer Programme unmöglich geworden ist. Und<lb/>
eben jetzt stand die Regierung vor einer Verwirrung, die jeden Augenblick in<lb/>
offenen Bürgerkrieg umzuschlagen drohte. Daß der Gegensatz der feindlichen<lb/>
Parteien in der irischen Frage durch einen Krieg gegen Deutschland, der<lb/>
wesentlich als Handels- und Kaperkrieg gedacht ist, mehr als bloß vertagt, daß<lb/>
er durch ein solches Mittel dauernd überbrückt werden könnte, glaubt auch das<lb/>
jetzige Ministerium schwerlich. Aber es wollte wenigstens nicht selber verzichten,<lb/>
weder aus sein Programm, noch auf die Macht, und der europäische Krieg<lb/>
erscheint ihm als rettende Fristung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1562" next="#ID_1563"> Wenn die innere Politik Englands verwickelt und schwierig geworden ist.<lb/>
so ist die äußere seit einigen Jahren völlig desorientiert und zwar durch die<lb/>
Einkreisungsidee Eduards des Siebenten. Was auch die letzte« Beweggründe<lb/>
des Königs gewesen sein mögen, persönlicher Haß oder rechnerische Gewinnsucht,<lb/>
sein Einfluß hat zu einem vollständigen Bruch mit den traditionell leitenden<lb/>
Ideen der englischen Politik geführt. Diese Politik war seit hundert Jahren<lb/>
auf die Erhaltung des indischen Reiches gerichtet. Als Voraussetzung dafür<lb/>
galt die unbedingte Beherrschung der Meereswege und Länder, die das Mutier¬<lb/>
land mit diesem Reiche verband. Darüber hinaus und zum größten Teil da¬<lb/>
durch genötigt, mußte der Einfluß Englands im nahen Osten ein selbständiger<lb/>
und umfassender, im fernen wenigstens ein alles andere überwiegender sein.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0467] Die Engländer Herrenhaus gar nicht zu reden) keine Volksvertretung im demokratischen Sinne, sondern eine Klassenvertretung in engster Bedeutung des Wortes ist. auch nach den mehrfachen Reformen, die das 19. Jahrhundert gebracht hat. noch ist. Es sind freilich die geistig führenden Klassen der Nation, die hier regieren, und solange die von diesen gebildeten Parteien großzügige, geschichtlich gefestigte Programme verfolgen, wie das in England lange Zeit geschah, wird das parlamentarische Regime eine gewisse, wenn auch im einzelnen nicht immer gleichmäßige Höhe behaupten. Überall aber, wo das noch nicht oder nicht mehr der Fall ist, da verwirklicht sich unvermeidlich die Gefahr, die ein für alle Mal die Begleiterscheinung des Parlamentarismus bildet: die Oligarchie, die Herrschaft der Kliquen, die sich der parlamentarischen Formen bedienen, um ihre selbstischen und zumeist rein persönlichen Interessen durchzusetzen. — am schlimmsten da. wo das Hauptziel der Machthaber kein anderes ist, als sich an der Macht zu erhalten. Denn in diesem Fall pflegen ihnen keine Mittel zu schlecht Zu sein, um ihren Zweck zu erreichen. Dieses Schauspiel bieten uns in grotesker Verzerrung die kleineren Staaten, besonders auf dem Balkan, die zumeist unter englischem Einfluß mit parlamentarischer Verfassung beglückt worden sind. Aber ähnliches zeigt sich wie vorhin schon angedeutet, in der Geschichte der dritten französischen Republik, und es ist nunmehr als ein aus¬ gesprochenes Verfallsymptom auch in England in die Erscheinung getreten. Die inneren Verhältnisse haben sich durch die Arbeiterbewegung einerseits, durch die Homerulefrage andererseits so kompliziert, daß die einfache Geschlossenheit der geschichtlichen Parteien und ihrer Programme unmöglich geworden ist. Und eben jetzt stand die Regierung vor einer Verwirrung, die jeden Augenblick in offenen Bürgerkrieg umzuschlagen drohte. Daß der Gegensatz der feindlichen Parteien in der irischen Frage durch einen Krieg gegen Deutschland, der wesentlich als Handels- und Kaperkrieg gedacht ist, mehr als bloß vertagt, daß er durch ein solches Mittel dauernd überbrückt werden könnte, glaubt auch das jetzige Ministerium schwerlich. Aber es wollte wenigstens nicht selber verzichten, weder aus sein Programm, noch auf die Macht, und der europäische Krieg erscheint ihm als rettende Fristung. Wenn die innere Politik Englands verwickelt und schwierig geworden ist. so ist die äußere seit einigen Jahren völlig desorientiert und zwar durch die Einkreisungsidee Eduards des Siebenten. Was auch die letzte« Beweggründe des Königs gewesen sein mögen, persönlicher Haß oder rechnerische Gewinnsucht, sein Einfluß hat zu einem vollständigen Bruch mit den traditionell leitenden Ideen der englischen Politik geführt. Diese Politik war seit hundert Jahren auf die Erhaltung des indischen Reiches gerichtet. Als Voraussetzung dafür galt die unbedingte Beherrschung der Meereswege und Länder, die das Mutier¬ land mit diesem Reiche verband. Darüber hinaus und zum größten Teil da¬ durch genötigt, mußte der Einfluß Englands im nahen Osten ein selbständiger und umfassender, im fernen wenigstens ein alles andere überwiegender sein.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/467
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/467>, abgerufen am 23.12.2024.