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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Gouvernement Ssuwalki

die Schulverhältnisse daselbst. Es gibt im ganzen Gouvernement mit seinen
800000 Einwohnern nur ein vierklassiges Gymnasium in der Hauptstadt, das
vorwiegend den Kindern russischer Beamten und Offizieren zugute kommt, und
ein Seminar für Volksschullehrer in Wejwery. Überhaupt gehört Ssuwalki in
Schulangelegenheiten zu den vernachlässigsten Gouvernements nicht nur des
Königreichs Polen, sondern ganz Rußlands. In Dingen der Schule ist
ihm eigentlich nur das benachbarte Lomsha in diesem Sinne überlegen. So
gab es im Jahre 1903/04 in Ssuwalki nur 195 Volksschulen, davon 181 ein-
klassige. 6 zweiklassige. 7 Abend- und Sonntagsschulen; eine Volksschule kam
auf 3208 Einwohner respektive auf 521 Kinder im schulpflichtigen Alter, während
in den fünfzig Gouvernements des europäischen Nußland auf 2907 Einwohner
beziehungsweise auf 461 Kinder eine Schule entfällt. Auf eine Fläche von
55.4 Quadratwerst (annähernd 60 Quadratkilometer) kommt eine Volksschule, in
Rußland auf 116,6 Quadratwerst, wobei freilich zu beachten ist, daß das
ganze Gebiet der Tundra im Nordosten Rußlands, wo fast gar keine Be¬
völkerung ist. aus der Statistik nicht herausgenommen ist.

Auch das Lehrpersonal ist im höchsten Grade ungenügend. In den 195
Schulen gibt es 244 Lehrer oder auf 502 schulpflichtige Kinder ein Lehrer.
Im Jahre 1903 waren in Ssuwalki im ganzen nur 10073 Kinder zur Schule
zugelassen; auf eine Schule kamen somit durchschnittlich nur 51.6 Kinder.
Somit genießen von allen im schulpflichtigen Alter stehenden Kindern Schul¬
unterricht nur 9,7 Prozent, von der männlichen schulpflichtigen Jugend 13,8
Prozent, von der weiblichen 5.6 Prozent. Es ist interessant festzustellen, daß
auf einen Einwohner berechnet die Ausgaben des russischen Staates, der sich
jetzt als Kulturträger der slawischen Welt aufspielt, pro Jahr im Durchschnitt
1.9 Kopeken oder 4 Pfennig betragen! Das schulpflichtige Kind kostet dem
russischen Staate 71,41 Kopeken, der Schüler aber 7,77 Rubel oder 16 Mark
pro Jahr!

Ein wenig besser als das Gros der litauischen und polnischen Bevölkerung
stehen sich die Juden und orthodoxen Russen, die außer den Schulen des Ministeriums
für Volksaufklärung eigene Schulen haben, nämlich die Russen 30 sogenannte
Synodalschulen, in denen in Ssuwalki 469 Schüler lernen. Die Juden Ssuwalkis
haben 179 Schulen mit 137 Lehrern, wovon 168 sogenannte Cheder und Talmud
Thora find, zu denen 174 Lehrer gehören. Auf welchem Niveau diese jüdischen
Schulen stehen, möge der Hinweis zeigen, daß die Methode im sogenannten
Dabbern besteht, das ist im Auswendiglernen und nachsprechen von Talmud¬
stellen im bestimmten Tonfall.

So reizvoll es wäre, hier noch weiter in die Eigenheiten dieses verwilderten
und vernachlässigten Gebietes mit seinen um Menschenalter zurückgebliebenen
Bewohnern einzudringen, muß ich es mir doch versagen, um den Charakter
einer Skizze zu wahren. Was angedeutet werden sollte, die vielfachen
Schwierigkeiten, mit denen eine nach modernen Grundsätzen arbeitende Ver-


Das Gouvernement Ssuwalki

die Schulverhältnisse daselbst. Es gibt im ganzen Gouvernement mit seinen
800000 Einwohnern nur ein vierklassiges Gymnasium in der Hauptstadt, das
vorwiegend den Kindern russischer Beamten und Offizieren zugute kommt, und
ein Seminar für Volksschullehrer in Wejwery. Überhaupt gehört Ssuwalki in
Schulangelegenheiten zu den vernachlässigsten Gouvernements nicht nur des
Königreichs Polen, sondern ganz Rußlands. In Dingen der Schule ist
ihm eigentlich nur das benachbarte Lomsha in diesem Sinne überlegen. So
gab es im Jahre 1903/04 in Ssuwalki nur 195 Volksschulen, davon 181 ein-
klassige. 6 zweiklassige. 7 Abend- und Sonntagsschulen; eine Volksschule kam
auf 3208 Einwohner respektive auf 521 Kinder im schulpflichtigen Alter, während
in den fünfzig Gouvernements des europäischen Nußland auf 2907 Einwohner
beziehungsweise auf 461 Kinder eine Schule entfällt. Auf eine Fläche von
55.4 Quadratwerst (annähernd 60 Quadratkilometer) kommt eine Volksschule, in
Rußland auf 116,6 Quadratwerst, wobei freilich zu beachten ist, daß das
ganze Gebiet der Tundra im Nordosten Rußlands, wo fast gar keine Be¬
völkerung ist. aus der Statistik nicht herausgenommen ist.

Auch das Lehrpersonal ist im höchsten Grade ungenügend. In den 195
Schulen gibt es 244 Lehrer oder auf 502 schulpflichtige Kinder ein Lehrer.
Im Jahre 1903 waren in Ssuwalki im ganzen nur 10073 Kinder zur Schule
zugelassen; auf eine Schule kamen somit durchschnittlich nur 51.6 Kinder.
Somit genießen von allen im schulpflichtigen Alter stehenden Kindern Schul¬
unterricht nur 9,7 Prozent, von der männlichen schulpflichtigen Jugend 13,8
Prozent, von der weiblichen 5.6 Prozent. Es ist interessant festzustellen, daß
auf einen Einwohner berechnet die Ausgaben des russischen Staates, der sich
jetzt als Kulturträger der slawischen Welt aufspielt, pro Jahr im Durchschnitt
1.9 Kopeken oder 4 Pfennig betragen! Das schulpflichtige Kind kostet dem
russischen Staate 71,41 Kopeken, der Schüler aber 7,77 Rubel oder 16 Mark
pro Jahr!

Ein wenig besser als das Gros der litauischen und polnischen Bevölkerung
stehen sich die Juden und orthodoxen Russen, die außer den Schulen des Ministeriums
für Volksaufklärung eigene Schulen haben, nämlich die Russen 30 sogenannte
Synodalschulen, in denen in Ssuwalki 469 Schüler lernen. Die Juden Ssuwalkis
haben 179 Schulen mit 137 Lehrern, wovon 168 sogenannte Cheder und Talmud
Thora find, zu denen 174 Lehrer gehören. Auf welchem Niveau diese jüdischen
Schulen stehen, möge der Hinweis zeigen, daß die Methode im sogenannten
Dabbern besteht, das ist im Auswendiglernen und nachsprechen von Talmud¬
stellen im bestimmten Tonfall.

So reizvoll es wäre, hier noch weiter in die Eigenheiten dieses verwilderten
und vernachlässigten Gebietes mit seinen um Menschenalter zurückgebliebenen
Bewohnern einzudringen, muß ich es mir doch versagen, um den Charakter
einer Skizze zu wahren. Was angedeutet werden sollte, die vielfachen
Schwierigkeiten, mit denen eine nach modernen Grundsätzen arbeitende Ver-


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[0463] Das Gouvernement Ssuwalki die Schulverhältnisse daselbst. Es gibt im ganzen Gouvernement mit seinen 800000 Einwohnern nur ein vierklassiges Gymnasium in der Hauptstadt, das vorwiegend den Kindern russischer Beamten und Offizieren zugute kommt, und ein Seminar für Volksschullehrer in Wejwery. Überhaupt gehört Ssuwalki in Schulangelegenheiten zu den vernachlässigsten Gouvernements nicht nur des Königreichs Polen, sondern ganz Rußlands. In Dingen der Schule ist ihm eigentlich nur das benachbarte Lomsha in diesem Sinne überlegen. So gab es im Jahre 1903/04 in Ssuwalki nur 195 Volksschulen, davon 181 ein- klassige. 6 zweiklassige. 7 Abend- und Sonntagsschulen; eine Volksschule kam auf 3208 Einwohner respektive auf 521 Kinder im schulpflichtigen Alter, während in den fünfzig Gouvernements des europäischen Nußland auf 2907 Einwohner beziehungsweise auf 461 Kinder eine Schule entfällt. Auf eine Fläche von 55.4 Quadratwerst (annähernd 60 Quadratkilometer) kommt eine Volksschule, in Rußland auf 116,6 Quadratwerst, wobei freilich zu beachten ist, daß das ganze Gebiet der Tundra im Nordosten Rußlands, wo fast gar keine Be¬ völkerung ist. aus der Statistik nicht herausgenommen ist. Auch das Lehrpersonal ist im höchsten Grade ungenügend. In den 195 Schulen gibt es 244 Lehrer oder auf 502 schulpflichtige Kinder ein Lehrer. Im Jahre 1903 waren in Ssuwalki im ganzen nur 10073 Kinder zur Schule zugelassen; auf eine Schule kamen somit durchschnittlich nur 51.6 Kinder. Somit genießen von allen im schulpflichtigen Alter stehenden Kindern Schul¬ unterricht nur 9,7 Prozent, von der männlichen schulpflichtigen Jugend 13,8 Prozent, von der weiblichen 5.6 Prozent. Es ist interessant festzustellen, daß auf einen Einwohner berechnet die Ausgaben des russischen Staates, der sich jetzt als Kulturträger der slawischen Welt aufspielt, pro Jahr im Durchschnitt 1.9 Kopeken oder 4 Pfennig betragen! Das schulpflichtige Kind kostet dem russischen Staate 71,41 Kopeken, der Schüler aber 7,77 Rubel oder 16 Mark pro Jahr! Ein wenig besser als das Gros der litauischen und polnischen Bevölkerung stehen sich die Juden und orthodoxen Russen, die außer den Schulen des Ministeriums für Volksaufklärung eigene Schulen haben, nämlich die Russen 30 sogenannte Synodalschulen, in denen in Ssuwalki 469 Schüler lernen. Die Juden Ssuwalkis haben 179 Schulen mit 137 Lehrern, wovon 168 sogenannte Cheder und Talmud Thora find, zu denen 174 Lehrer gehören. Auf welchem Niveau diese jüdischen Schulen stehen, möge der Hinweis zeigen, daß die Methode im sogenannten Dabbern besteht, das ist im Auswendiglernen und nachsprechen von Talmud¬ stellen im bestimmten Tonfall. So reizvoll es wäre, hier noch weiter in die Eigenheiten dieses verwilderten und vernachlässigten Gebietes mit seinen um Menschenalter zurückgebliebenen Bewohnern einzudringen, muß ich es mir doch versagen, um den Charakter einer Skizze zu wahren. Was angedeutet werden sollte, die vielfachen Schwierigkeiten, mit denen eine nach modernen Grundsätzen arbeitende Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/463>, abgerufen am 28.07.2024.