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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das slawische Anlturproblem

kennen zu lernen. Er ist es auch, der den Gedanken großgezogen hat, der
Slawe sei der Seele nach mit dem Franzosen verwandt...!

Diese Meinung stützt sich hauptsächlich aus Mickiewicz' Pariser Vorlesungen
über die polnische Literatur. Von Mickiewicz stammt die Idee der slawisch¬
romanischen Verwandtschaft. Diese Idee erwuchs aus politischen Motiven,
Napoleon, "dem Erretter Polens" zuliebe und nicht auf Grund einer wissen¬
schaftlichen oder dichterischen Erkenntnis. Heute ist die Frage unserer Rassen¬
bestimmtheit wieder brennender geworden. Es zeigt sich ungefähr folgende
Nassengruppierung: Der englisch-französische Block, der deutsch-magyarisch¬
rumänisch-italienische, oder kurz der Block Deutschlands und der slawische Block.
Man sah, daß Franzosen und Engländer in ihren Sympathien für die Slawen
sofort nachlassen, sobald sie nur das geringste Opfer kosten und bemerkte, daß
ein großer politischer Haß zwischen Slawen und Deutschen im Ausbruch ist. In
der Vierteljahrsschrift für Sozialwirtschaftsgeschichte (1912) veröffentlichte
E. Hanslick einen Artikel, in dem er behauptete, daß die westliche Kultur dort
aufhört, wo sich die Deutschen und die Slawen begegnen. Ein anderer Mit¬
arbeiter dieser Zeitschrift verbesserte teilweise diese Ansicht und betonte, daß es
Erscheinungen der Unkultur auch unter Romanen gibt. Nach ihm wären die
Deutschen nicht nur kultivierter als die Slawen, sondern auch den Romanen
kulturell überlegen. Kein Zweifel, daß diese beiden Herren deutsch empfinden.
Was bedeutet aber kulturelle Grenze, Grenze der Kultur? Was ist Kultur?
Das große Wort der heutigen Zeit!

Ich werde im folgenden kritische Anschauungen über die Bestimmung der
slawischen Völker nach solchen Schriftstellern bringen, die nicht der Tagespolitik
dienen wollen, sondern nach wissenschaftlicher Erkenntnis streben. Hierdurch
wird der Blick sich klären und vielleicht findet sich dann der rechte Weg für
die Politik der Slawen. Es ist daraus zu achten, welche Bestrebungen bei den
slawischen Völkern der Gegenwart die aufrichtigsten und besten sind und welchen
Ausdruck sie finden; hieraus werden wir Schlüsse bezüglich ihrer gemeinsamen
Ziele ableiten, und eine Bestimmung des Sinnes des Panslawismus und seiner
Stellung zur deutschen Welt gewinnen.


II.
Der tschechische Nationalcharakter

"Das humanistische Ideal, das Dobrowski und Kolür aufgestellt haben,
das Ideal unserer Wiedergeburt, hat sür uns Tschechen einen tiefen nationalen
und historischen Sinn. Mit dem voll erfaßten Begriff der Humanität, knüpfen
wir wieder an unsere beste Zeit in der Vergangenheit an, mit Humanität
überbrücken wir den geistigen und moralischen Schlaf mehrerer Jahrhunderte,
im Dienste der Humanität haben wir an die Spitze des menschlichen Fortschrittes
zu treten."


Das slawische Anlturproblem

kennen zu lernen. Er ist es auch, der den Gedanken großgezogen hat, der
Slawe sei der Seele nach mit dem Franzosen verwandt...!

Diese Meinung stützt sich hauptsächlich aus Mickiewicz' Pariser Vorlesungen
über die polnische Literatur. Von Mickiewicz stammt die Idee der slawisch¬
romanischen Verwandtschaft. Diese Idee erwuchs aus politischen Motiven,
Napoleon, „dem Erretter Polens" zuliebe und nicht auf Grund einer wissen¬
schaftlichen oder dichterischen Erkenntnis. Heute ist die Frage unserer Rassen¬
bestimmtheit wieder brennender geworden. Es zeigt sich ungefähr folgende
Nassengruppierung: Der englisch-französische Block, der deutsch-magyarisch¬
rumänisch-italienische, oder kurz der Block Deutschlands und der slawische Block.
Man sah, daß Franzosen und Engländer in ihren Sympathien für die Slawen
sofort nachlassen, sobald sie nur das geringste Opfer kosten und bemerkte, daß
ein großer politischer Haß zwischen Slawen und Deutschen im Ausbruch ist. In
der Vierteljahrsschrift für Sozialwirtschaftsgeschichte (1912) veröffentlichte
E. Hanslick einen Artikel, in dem er behauptete, daß die westliche Kultur dort
aufhört, wo sich die Deutschen und die Slawen begegnen. Ein anderer Mit¬
arbeiter dieser Zeitschrift verbesserte teilweise diese Ansicht und betonte, daß es
Erscheinungen der Unkultur auch unter Romanen gibt. Nach ihm wären die
Deutschen nicht nur kultivierter als die Slawen, sondern auch den Romanen
kulturell überlegen. Kein Zweifel, daß diese beiden Herren deutsch empfinden.
Was bedeutet aber kulturelle Grenze, Grenze der Kultur? Was ist Kultur?
Das große Wort der heutigen Zeit!

Ich werde im folgenden kritische Anschauungen über die Bestimmung der
slawischen Völker nach solchen Schriftstellern bringen, die nicht der Tagespolitik
dienen wollen, sondern nach wissenschaftlicher Erkenntnis streben. Hierdurch
wird der Blick sich klären und vielleicht findet sich dann der rechte Weg für
die Politik der Slawen. Es ist daraus zu achten, welche Bestrebungen bei den
slawischen Völkern der Gegenwart die aufrichtigsten und besten sind und welchen
Ausdruck sie finden; hieraus werden wir Schlüsse bezüglich ihrer gemeinsamen
Ziele ableiten, und eine Bestimmung des Sinnes des Panslawismus und seiner
Stellung zur deutschen Welt gewinnen.


II.
Der tschechische Nationalcharakter

„Das humanistische Ideal, das Dobrowski und Kolür aufgestellt haben,
das Ideal unserer Wiedergeburt, hat sür uns Tschechen einen tiefen nationalen
und historischen Sinn. Mit dem voll erfaßten Begriff der Humanität, knüpfen
wir wieder an unsere beste Zeit in der Vergangenheit an, mit Humanität
überbrücken wir den geistigen und moralischen Schlaf mehrerer Jahrhunderte,
im Dienste der Humanität haben wir an die Spitze des menschlichen Fortschrittes
zu treten."


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[0398] Das slawische Anlturproblem kennen zu lernen. Er ist es auch, der den Gedanken großgezogen hat, der Slawe sei der Seele nach mit dem Franzosen verwandt...! Diese Meinung stützt sich hauptsächlich aus Mickiewicz' Pariser Vorlesungen über die polnische Literatur. Von Mickiewicz stammt die Idee der slawisch¬ romanischen Verwandtschaft. Diese Idee erwuchs aus politischen Motiven, Napoleon, „dem Erretter Polens" zuliebe und nicht auf Grund einer wissen¬ schaftlichen oder dichterischen Erkenntnis. Heute ist die Frage unserer Rassen¬ bestimmtheit wieder brennender geworden. Es zeigt sich ungefähr folgende Nassengruppierung: Der englisch-französische Block, der deutsch-magyarisch¬ rumänisch-italienische, oder kurz der Block Deutschlands und der slawische Block. Man sah, daß Franzosen und Engländer in ihren Sympathien für die Slawen sofort nachlassen, sobald sie nur das geringste Opfer kosten und bemerkte, daß ein großer politischer Haß zwischen Slawen und Deutschen im Ausbruch ist. In der Vierteljahrsschrift für Sozialwirtschaftsgeschichte (1912) veröffentlichte E. Hanslick einen Artikel, in dem er behauptete, daß die westliche Kultur dort aufhört, wo sich die Deutschen und die Slawen begegnen. Ein anderer Mit¬ arbeiter dieser Zeitschrift verbesserte teilweise diese Ansicht und betonte, daß es Erscheinungen der Unkultur auch unter Romanen gibt. Nach ihm wären die Deutschen nicht nur kultivierter als die Slawen, sondern auch den Romanen kulturell überlegen. Kein Zweifel, daß diese beiden Herren deutsch empfinden. Was bedeutet aber kulturelle Grenze, Grenze der Kultur? Was ist Kultur? Das große Wort der heutigen Zeit! Ich werde im folgenden kritische Anschauungen über die Bestimmung der slawischen Völker nach solchen Schriftstellern bringen, die nicht der Tagespolitik dienen wollen, sondern nach wissenschaftlicher Erkenntnis streben. Hierdurch wird der Blick sich klären und vielleicht findet sich dann der rechte Weg für die Politik der Slawen. Es ist daraus zu achten, welche Bestrebungen bei den slawischen Völkern der Gegenwart die aufrichtigsten und besten sind und welchen Ausdruck sie finden; hieraus werden wir Schlüsse bezüglich ihrer gemeinsamen Ziele ableiten, und eine Bestimmung des Sinnes des Panslawismus und seiner Stellung zur deutschen Welt gewinnen. II. Der tschechische Nationalcharakter „Das humanistische Ideal, das Dobrowski und Kolür aufgestellt haben, das Ideal unserer Wiedergeburt, hat sür uns Tschechen einen tiefen nationalen und historischen Sinn. Mit dem voll erfaßten Begriff der Humanität, knüpfen wir wieder an unsere beste Zeit in der Vergangenheit an, mit Humanität überbrücken wir den geistigen und moralischen Schlaf mehrerer Jahrhunderte, im Dienste der Humanität haben wir an die Spitze des menschlichen Fortschrittes zu treten."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/398>, abgerufen am 28.07.2024.