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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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I^s, Zranäe Nation

Zeitungen haben jetzt angefangen, mit den französischen zu wetteifern, ja sogar
ihnen den Rang abzugewinnen. Wenigstens hat man aus Paris davon noch
nichts gehört, daß dort, wie in London, vor den besuchtesten Restaurationen
auf dem Pflaster aufgeklebte Extrablätter in fußhohen Buchstaben melden: "Zwei
deutsche Armeekorps an der lothringischen Grenze gefangen genommen!"*) So
bezeugt aus eigener Wahrnehmung eine am 6. August von der Insel Wight
ausgewiesene, über London heimgekehrte Dame, und setzt hinzu: "was die
englischen Zeitungen in jetziger Zeit auf Grund ihrer Preßfreiheit alles an Lüge
und Gehässigkeit gegen Deutschland ausgespieen haben, läßt sich hier in Kürze
gar nicht erzählen . . . Das Volk ist weit entfernt von jeder Kriegsbegeisterung."

Aus russischen Blättern der Gegenwart stehen ähnliche Belege augenblicklich
nicht zu Gebote; was unsere Zeitungen aus ihnen reserieren, läßt Schlimmes
annehmen. In meiner Erinnerung lebt aber noch ein Faktum aus fast hundert¬
jähriger Vergangenheit, das eine Familientradition weiter trug. Eine Anzahl
Kosaken Tschernischeffs, die in Kassel nicht als Feinde, sondern als Freunde
einquartiert wurden, lagen in unserem Hause der Oberneustadt. Zwei
andere unweit davon gelegene Häuser waren ebenfalls Familienbesitz. Reichliche
Einquartierung gab es darauf, aber Mietgelder, die eingehen sollten, fehlten,
fo daß der jungen Generation größte Sparsamkeit empfohlen wurde; denn --
so hieß es -- an den drei Häusern ist der Wohlstand der Familie zugrunde
gegangen. Kurz vorher war von König Jerome eine Zwangsanleihe für denBau der
noch in der alten Wilhelmshöher Allee befindlichen Kaserne ausgeschrieben worden.
Mehrere auf je 1000 Franken lautende Obligationen habe ich selbst im Besitz gehabt.
Schwärmer hielten, zumal als der Sohn Jeromes, Prinz Plombion, zu Zeiten
Louis Napoleons Kassel und Umgegend mit seinem Besuche beglückte, es für
möglich, daß er die Rückzahlung der vom Vater in Kassel hinterlassenen Schuld
durchsetzen würde. Aber es geschah nichts dergleichen; meine wie anderer Leute
Obligationen wanderten in das Feuer des Herdes, auf dem einst den russischen
Kosaken die Suppe gekocht worden war. Solche Herde damaliger Zeit nahmen einen
gewaltigen Raum ein; ein riesiger gemauerter Rauchfang überdachte sie, der von
reichlichen Schwaben oder Schaben bevölkert zu sein pflegte. In der Mitte flammte
nun, als die Kosaken gefüttert werden mußten, unter einem gewaltigen Kessel
ein besonders starkes Feuer, das die Schwaben aus den Ritzen des Rauchfangs
herauslockte. Sie stürzten alsbald bei der ersten Speisung der Kosaken reichlich
in die Suppe und wurden mitserviert; bei der zweiten Speisung hielten sie sich
klüglichst zurück, sehr zur Unzufriedenheit der Kosaken. Diese hatten die Suppe
vom Tage vorher besonders belobt, jetzt aber rügten sie, daß die "guten Krebschen"
fehlten. So erzählte man in Kassel noch lange nachher. Wie es heute mit derKosaken-
liebhaberei bei uns stehen würde, brauchen wir hoffentlich nicht näher zu erproben;
mögen die Russen selbst ihren Kosaken die Suppe mit oder ohne Schwaben bereiten.





*) Unterhaltungsbeilage des "Tag" vom 23. August.
I^s, Zranäe Nation

Zeitungen haben jetzt angefangen, mit den französischen zu wetteifern, ja sogar
ihnen den Rang abzugewinnen. Wenigstens hat man aus Paris davon noch
nichts gehört, daß dort, wie in London, vor den besuchtesten Restaurationen
auf dem Pflaster aufgeklebte Extrablätter in fußhohen Buchstaben melden: „Zwei
deutsche Armeekorps an der lothringischen Grenze gefangen genommen!"*) So
bezeugt aus eigener Wahrnehmung eine am 6. August von der Insel Wight
ausgewiesene, über London heimgekehrte Dame, und setzt hinzu: „was die
englischen Zeitungen in jetziger Zeit auf Grund ihrer Preßfreiheit alles an Lüge
und Gehässigkeit gegen Deutschland ausgespieen haben, läßt sich hier in Kürze
gar nicht erzählen . . . Das Volk ist weit entfernt von jeder Kriegsbegeisterung."

Aus russischen Blättern der Gegenwart stehen ähnliche Belege augenblicklich
nicht zu Gebote; was unsere Zeitungen aus ihnen reserieren, läßt Schlimmes
annehmen. In meiner Erinnerung lebt aber noch ein Faktum aus fast hundert¬
jähriger Vergangenheit, das eine Familientradition weiter trug. Eine Anzahl
Kosaken Tschernischeffs, die in Kassel nicht als Feinde, sondern als Freunde
einquartiert wurden, lagen in unserem Hause der Oberneustadt. Zwei
andere unweit davon gelegene Häuser waren ebenfalls Familienbesitz. Reichliche
Einquartierung gab es darauf, aber Mietgelder, die eingehen sollten, fehlten,
fo daß der jungen Generation größte Sparsamkeit empfohlen wurde; denn —
so hieß es — an den drei Häusern ist der Wohlstand der Familie zugrunde
gegangen. Kurz vorher war von König Jerome eine Zwangsanleihe für denBau der
noch in der alten Wilhelmshöher Allee befindlichen Kaserne ausgeschrieben worden.
Mehrere auf je 1000 Franken lautende Obligationen habe ich selbst im Besitz gehabt.
Schwärmer hielten, zumal als der Sohn Jeromes, Prinz Plombion, zu Zeiten
Louis Napoleons Kassel und Umgegend mit seinem Besuche beglückte, es für
möglich, daß er die Rückzahlung der vom Vater in Kassel hinterlassenen Schuld
durchsetzen würde. Aber es geschah nichts dergleichen; meine wie anderer Leute
Obligationen wanderten in das Feuer des Herdes, auf dem einst den russischen
Kosaken die Suppe gekocht worden war. Solche Herde damaliger Zeit nahmen einen
gewaltigen Raum ein; ein riesiger gemauerter Rauchfang überdachte sie, der von
reichlichen Schwaben oder Schaben bevölkert zu sein pflegte. In der Mitte flammte
nun, als die Kosaken gefüttert werden mußten, unter einem gewaltigen Kessel
ein besonders starkes Feuer, das die Schwaben aus den Ritzen des Rauchfangs
herauslockte. Sie stürzten alsbald bei der ersten Speisung der Kosaken reichlich
in die Suppe und wurden mitserviert; bei der zweiten Speisung hielten sie sich
klüglichst zurück, sehr zur Unzufriedenheit der Kosaken. Diese hatten die Suppe
vom Tage vorher besonders belobt, jetzt aber rügten sie, daß die „guten Krebschen"
fehlten. So erzählte man in Kassel noch lange nachher. Wie es heute mit derKosaken-
liebhaberei bei uns stehen würde, brauchen wir hoffentlich nicht näher zu erproben;
mögen die Russen selbst ihren Kosaken die Suppe mit oder ohne Schwaben bereiten.





*) Unterhaltungsbeilage des „Tag" vom 23. August.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/370>, abgerufen am 22.12.2024.