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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Franz Liszt

neue Befruchtung durch ihre Verbindung mit dem Wort: es entsteht die moderne
programmatische Musik, zu der im weitesten Sinne auch das Lied zu rechnen
ist, und die moderne Oper, die schließlich zu dem Musikdrama sich entwickelte.

Über die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Programmustk ist soviel
geschrieben worden*), daß es sich an dieser Stelle erübrigt, näher darauf ein¬
zugehen. Nur wer, rückwärts gewendet, noch an der Hanslickschen Definition
von der Musik als tönend bewegter Form festhält, mag angesichts jenes Wortes
von "gegeigten und geblasenen Bilderbüchern" reden: im Grunde ist die
Programmusik so alt als die Musik selbst und vielleicht deren bestes Teil, sie ist
überall da vorhanden, wo eine außermusikalische Vorstellung, eine poetische oder
sonst irgendwelche das formgebende Prinzip ist: einzig aus der Art der Be¬
handlung jener wird der Maßstab für den künstlerischen Wert der programm-
matischen Tondichtung zu entnehmen sein. Nach den tastenden, meist im
Äußerlichen steckenbleibenden Versuchen früherer Zeiten, die Erscheinungswelt
musikalisch darzustellen, hat auch hier Beethoven die Pforten zu einem neuen
Reiche aufgerissen. Auch er gewinnt seine Anregung vielfach aus dieser, aber
er sublimiert aus aller Erscheinung ihre letzte Idee, ihr An - sich, und diese
musikalische Abstraktion ist von so elementarer Kraft, daß dem Hörer aus ihr
wiederum die Erscheinung, der Vorgang selbst entgegentritt -- man denke bloß
an seine Koriolanouvertüre. Hier liegt der Ausgangspunkt für alle moderne
Programmusik, welchen Namen sie im einzelnen auch trage, hier knüpfen
Schumann und Mendelssohn an. vor allem aber Franz Liszt in seinen Klavier¬
kompositionen wie in seinen sinfonischen Dichtungen, um so mehr, als seiner
Phantasie dank seinem umfassenden Aufnahmevermögen, der Kraft seiner
dichterischen Anschauung, seiner vielseitigen, tiefen Bildung und seinem bewegten
äußeren Leben von allen Seiten die Anregungen zuströmen mußten: "Sein
eigenes Leben steht in seiner Musik," hat Robert Schumann verständnisvoll von
ihm geurteilt. Die weitaus größte Mehrzahl seiner Kompositionen sind dem
Klavier gewidmet, dem Instrument, dem er seinen Weltruhm verdankt, dessen
Ausdrucksmittel er in einer Weise bereichert hat. daß die gesamte Klavierkunst
fürder unter seinem Einfluß steht: was das Instrument mit seinen sieben Oktaven
überhaupt zu leisten imstande ist. das hat letzten Endes doch er erst bewiesen,
so weit ihm auch Chopin hier vorgearbeitet hatte. Doppeltriller. Triller mit
abwechselnden Händen und in Oktaven, dröhnende Tremolos, riesenhafte
Arpeggien, Auflösung langwertiger Töne in nachschlagende Oktaven mit anderen
Tönen dazwischen, weitgriffige Akkorde, Glissandos über die ganze Tastatur.
Terzenglissandos. glitzernde Kadenzen aus dem Rankenwerk flatternder Zwei¬
unddreißigstel, wilde chromatische Gänge, kurz, alles was die moderne Klavier¬
kunst dem Instrument zumuten kann, das ist hier in zahllosen Originalwerken



*) z- B. W, Kladde. Geschichte der Progrmmnusik in der Sammlung "Die Musik".
Bd. VII.
Franz Liszt

neue Befruchtung durch ihre Verbindung mit dem Wort: es entsteht die moderne
programmatische Musik, zu der im weitesten Sinne auch das Lied zu rechnen
ist, und die moderne Oper, die schließlich zu dem Musikdrama sich entwickelte.

Über die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Programmustk ist soviel
geschrieben worden*), daß es sich an dieser Stelle erübrigt, näher darauf ein¬
zugehen. Nur wer, rückwärts gewendet, noch an der Hanslickschen Definition
von der Musik als tönend bewegter Form festhält, mag angesichts jenes Wortes
von „gegeigten und geblasenen Bilderbüchern" reden: im Grunde ist die
Programmusik so alt als die Musik selbst und vielleicht deren bestes Teil, sie ist
überall da vorhanden, wo eine außermusikalische Vorstellung, eine poetische oder
sonst irgendwelche das formgebende Prinzip ist: einzig aus der Art der Be¬
handlung jener wird der Maßstab für den künstlerischen Wert der programm-
matischen Tondichtung zu entnehmen sein. Nach den tastenden, meist im
Äußerlichen steckenbleibenden Versuchen früherer Zeiten, die Erscheinungswelt
musikalisch darzustellen, hat auch hier Beethoven die Pforten zu einem neuen
Reiche aufgerissen. Auch er gewinnt seine Anregung vielfach aus dieser, aber
er sublimiert aus aller Erscheinung ihre letzte Idee, ihr An - sich, und diese
musikalische Abstraktion ist von so elementarer Kraft, daß dem Hörer aus ihr
wiederum die Erscheinung, der Vorgang selbst entgegentritt — man denke bloß
an seine Koriolanouvertüre. Hier liegt der Ausgangspunkt für alle moderne
Programmusik, welchen Namen sie im einzelnen auch trage, hier knüpfen
Schumann und Mendelssohn an. vor allem aber Franz Liszt in seinen Klavier¬
kompositionen wie in seinen sinfonischen Dichtungen, um so mehr, als seiner
Phantasie dank seinem umfassenden Aufnahmevermögen, der Kraft seiner
dichterischen Anschauung, seiner vielseitigen, tiefen Bildung und seinem bewegten
äußeren Leben von allen Seiten die Anregungen zuströmen mußten: „Sein
eigenes Leben steht in seiner Musik," hat Robert Schumann verständnisvoll von
ihm geurteilt. Die weitaus größte Mehrzahl seiner Kompositionen sind dem
Klavier gewidmet, dem Instrument, dem er seinen Weltruhm verdankt, dessen
Ausdrucksmittel er in einer Weise bereichert hat. daß die gesamte Klavierkunst
fürder unter seinem Einfluß steht: was das Instrument mit seinen sieben Oktaven
überhaupt zu leisten imstande ist. das hat letzten Endes doch er erst bewiesen,
so weit ihm auch Chopin hier vorgearbeitet hatte. Doppeltriller. Triller mit
abwechselnden Händen und in Oktaven, dröhnende Tremolos, riesenhafte
Arpeggien, Auflösung langwertiger Töne in nachschlagende Oktaven mit anderen
Tönen dazwischen, weitgriffige Akkorde, Glissandos über die ganze Tastatur.
Terzenglissandos. glitzernde Kadenzen aus dem Rankenwerk flatternder Zwei¬
unddreißigstel, wilde chromatische Gänge, kurz, alles was die moderne Klavier¬
kunst dem Instrument zumuten kann, das ist hier in zahllosen Originalwerken



*) z- B. W, Kladde. Geschichte der Progrmmnusik in der Sammlung „Die Musik".
Bd. VII.
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[0037] Franz Liszt neue Befruchtung durch ihre Verbindung mit dem Wort: es entsteht die moderne programmatische Musik, zu der im weitesten Sinne auch das Lied zu rechnen ist, und die moderne Oper, die schließlich zu dem Musikdrama sich entwickelte. Über die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Programmustk ist soviel geschrieben worden*), daß es sich an dieser Stelle erübrigt, näher darauf ein¬ zugehen. Nur wer, rückwärts gewendet, noch an der Hanslickschen Definition von der Musik als tönend bewegter Form festhält, mag angesichts jenes Wortes von „gegeigten und geblasenen Bilderbüchern" reden: im Grunde ist die Programmusik so alt als die Musik selbst und vielleicht deren bestes Teil, sie ist überall da vorhanden, wo eine außermusikalische Vorstellung, eine poetische oder sonst irgendwelche das formgebende Prinzip ist: einzig aus der Art der Be¬ handlung jener wird der Maßstab für den künstlerischen Wert der programm- matischen Tondichtung zu entnehmen sein. Nach den tastenden, meist im Äußerlichen steckenbleibenden Versuchen früherer Zeiten, die Erscheinungswelt musikalisch darzustellen, hat auch hier Beethoven die Pforten zu einem neuen Reiche aufgerissen. Auch er gewinnt seine Anregung vielfach aus dieser, aber er sublimiert aus aller Erscheinung ihre letzte Idee, ihr An - sich, und diese musikalische Abstraktion ist von so elementarer Kraft, daß dem Hörer aus ihr wiederum die Erscheinung, der Vorgang selbst entgegentritt — man denke bloß an seine Koriolanouvertüre. Hier liegt der Ausgangspunkt für alle moderne Programmusik, welchen Namen sie im einzelnen auch trage, hier knüpfen Schumann und Mendelssohn an. vor allem aber Franz Liszt in seinen Klavier¬ kompositionen wie in seinen sinfonischen Dichtungen, um so mehr, als seiner Phantasie dank seinem umfassenden Aufnahmevermögen, der Kraft seiner dichterischen Anschauung, seiner vielseitigen, tiefen Bildung und seinem bewegten äußeren Leben von allen Seiten die Anregungen zuströmen mußten: „Sein eigenes Leben steht in seiner Musik," hat Robert Schumann verständnisvoll von ihm geurteilt. Die weitaus größte Mehrzahl seiner Kompositionen sind dem Klavier gewidmet, dem Instrument, dem er seinen Weltruhm verdankt, dessen Ausdrucksmittel er in einer Weise bereichert hat. daß die gesamte Klavierkunst fürder unter seinem Einfluß steht: was das Instrument mit seinen sieben Oktaven überhaupt zu leisten imstande ist. das hat letzten Endes doch er erst bewiesen, so weit ihm auch Chopin hier vorgearbeitet hatte. Doppeltriller. Triller mit abwechselnden Händen und in Oktaven, dröhnende Tremolos, riesenhafte Arpeggien, Auflösung langwertiger Töne in nachschlagende Oktaven mit anderen Tönen dazwischen, weitgriffige Akkorde, Glissandos über die ganze Tastatur. Terzenglissandos. glitzernde Kadenzen aus dem Rankenwerk flatternder Zwei¬ unddreißigstel, wilde chromatische Gänge, kurz, alles was die moderne Klavier¬ kunst dem Instrument zumuten kann, das ist hier in zahllosen Originalwerken *) z- B. W, Kladde. Geschichte der Progrmmnusik in der Sammlung „Die Musik". Bd. VII.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/37>, abgerufen am 27.07.2024.