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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Englische Politik

rein kontinentalen Angelegenheiten in Europa zu sichern, daß nichts ohne Englands
Mitwirkung geschehen kann, und die notwendigerweise zahlreichen Differenzpunkte
der Festlandstaaten der eigenen Politik der Seegeltung dienstbar zu machen und
zwar unter möglichst geringem Aufwand eigener Mittel und mit alleiniger
skrupelloser Berücksichtigung der englischen Interessen. Die mächtige Handhabe
für jede als zweckmäßig erachtete Einmischung in die Festlandspolitik bot die
erst durch Wilhelm den Dritten von Oranien aufgebrachte Theorie von dem
europäischen Gleichgewicht. Indem England aus ihr geradezu ein Recht her¬
leitete, über dieses zu wachen und gegen jeden zu mächtig werdenden Staat
aufzutreten, wußte es sich geschickt mit dem Nimbus des "Verteidigers der
bedrohten Freiheit Europas zu umgeben. Wilhelm der Dritte von
Oranien war der glänzendste Verfechter seiner Idee vom europäischen Gleich¬
gewicht Ludwig dem Vierzehnten gegenüber, indem er zugleich die religiösen
Gegensätze seiner Politik dienstbar machte, die darauf hinausging, Frankreich
als Seemacht zu schwächen und England den westindischen Handel unwieder-
ruflich zu sichern. Der Erfolg dieser Politik war glänzend: England hatte es
verstanden, Frankreich zu isolieren, das übrige Europa zu einem mächtigen Bund
gegen dieses zusammenzuschweißen und sich selbst mit verhältnismäßig geringen
Opfern an dem furchtbaren Ringen zu beteiligen. Eine geradezu virtuose An¬
wendung erfuhr derGrundsatz des Oraniers, der in einer fast hundertjährigen Hand¬
habung durch eine Regierung mit dem unverrückbar gebliebenen Ziel -- Ausbreitung
der Seegewalt zur alleinigen Meeresherrschaft, -- eine bis ins einzelne gehende
Ausbildung erhalten hatte, durch den jüngeren Pitt. England hatte Frankreich,
das ihm unter Ludwig dem Vierzehnten als See- und Kolonialmacht noch über¬
legen gewesen war. im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts in die zweite Stellung
zurückgedrängt. Der 1786 abgeschlossene sogenannte Edenvertrag war für die
französische Industrie ungemein nachteilig, während er für die Agrarerzeugnisse
günstig war, und diente so derAbsicht, Frankreich industriell nichtaufkommenzulassen.
Die Revolution schuf auch hierin Wandel: sie machte die wirtschaftlichen Kräfte
frei und verschärfte dadurch den Gegensatz zu England. Dieses, nicht genügend
gerüstet, verhielt sich zunächst neutral. Als aber die Franzosen Belgien besetzten
und den Scheldevertrag anullierten, fand sich England in seinen Interessen
bedroht. Es begann der denkwürdige Kampf, der erst 1815 enden sollte. Der¬
selbe Pitt, der seine Zustimmung zu der Deklaration von Pillnitz 1791, die geschlossen
war, um die Herstellung des Königtums zu erzwingen, verweigerte, fand 1793 die
Revolution "abscheulich" und bezeichnete es als unabweisbare Aufgabe Englands,
für die "Freiheit Europas, für Gesetz und Ordnung" in den Krieg gegen die
französische Republik zu treten. Den wahren Grund des Gegensatzes beider
Länder hatte schon 1763 der ältere Pitt unverhüllt ausgesprochen: "Frankreich
ist uns," äußerte dieser, "hauptsächlich als See- und Handelsmacht gefährlich.
Was wir in dieser Beziehung gewinnen, ist für uns vor allem wertvoll durch
den Schaden, den Frankreich hat." Und im Anschluß an den Frieden von


Englische Politik

rein kontinentalen Angelegenheiten in Europa zu sichern, daß nichts ohne Englands
Mitwirkung geschehen kann, und die notwendigerweise zahlreichen Differenzpunkte
der Festlandstaaten der eigenen Politik der Seegeltung dienstbar zu machen und
zwar unter möglichst geringem Aufwand eigener Mittel und mit alleiniger
skrupelloser Berücksichtigung der englischen Interessen. Die mächtige Handhabe
für jede als zweckmäßig erachtete Einmischung in die Festlandspolitik bot die
erst durch Wilhelm den Dritten von Oranien aufgebrachte Theorie von dem
europäischen Gleichgewicht. Indem England aus ihr geradezu ein Recht her¬
leitete, über dieses zu wachen und gegen jeden zu mächtig werdenden Staat
aufzutreten, wußte es sich geschickt mit dem Nimbus des "Verteidigers der
bedrohten Freiheit Europas zu umgeben. Wilhelm der Dritte von
Oranien war der glänzendste Verfechter seiner Idee vom europäischen Gleich¬
gewicht Ludwig dem Vierzehnten gegenüber, indem er zugleich die religiösen
Gegensätze seiner Politik dienstbar machte, die darauf hinausging, Frankreich
als Seemacht zu schwächen und England den westindischen Handel unwieder-
ruflich zu sichern. Der Erfolg dieser Politik war glänzend: England hatte es
verstanden, Frankreich zu isolieren, das übrige Europa zu einem mächtigen Bund
gegen dieses zusammenzuschweißen und sich selbst mit verhältnismäßig geringen
Opfern an dem furchtbaren Ringen zu beteiligen. Eine geradezu virtuose An¬
wendung erfuhr derGrundsatz des Oraniers, der in einer fast hundertjährigen Hand¬
habung durch eine Regierung mit dem unverrückbar gebliebenen Ziel — Ausbreitung
der Seegewalt zur alleinigen Meeresherrschaft, — eine bis ins einzelne gehende
Ausbildung erhalten hatte, durch den jüngeren Pitt. England hatte Frankreich,
das ihm unter Ludwig dem Vierzehnten als See- und Kolonialmacht noch über¬
legen gewesen war. im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts in die zweite Stellung
zurückgedrängt. Der 1786 abgeschlossene sogenannte Edenvertrag war für die
französische Industrie ungemein nachteilig, während er für die Agrarerzeugnisse
günstig war, und diente so derAbsicht, Frankreich industriell nichtaufkommenzulassen.
Die Revolution schuf auch hierin Wandel: sie machte die wirtschaftlichen Kräfte
frei und verschärfte dadurch den Gegensatz zu England. Dieses, nicht genügend
gerüstet, verhielt sich zunächst neutral. Als aber die Franzosen Belgien besetzten
und den Scheldevertrag anullierten, fand sich England in seinen Interessen
bedroht. Es begann der denkwürdige Kampf, der erst 1815 enden sollte. Der¬
selbe Pitt, der seine Zustimmung zu der Deklaration von Pillnitz 1791, die geschlossen
war, um die Herstellung des Königtums zu erzwingen, verweigerte, fand 1793 die
Revolution „abscheulich" und bezeichnete es als unabweisbare Aufgabe Englands,
für die „Freiheit Europas, für Gesetz und Ordnung" in den Krieg gegen die
französische Republik zu treten. Den wahren Grund des Gegensatzes beider
Länder hatte schon 1763 der ältere Pitt unverhüllt ausgesprochen: „Frankreich
ist uns," äußerte dieser, „hauptsächlich als See- und Handelsmacht gefährlich.
Was wir in dieser Beziehung gewinnen, ist für uns vor allem wertvoll durch
den Schaden, den Frankreich hat." Und im Anschluß an den Frieden von


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[0361] Englische Politik rein kontinentalen Angelegenheiten in Europa zu sichern, daß nichts ohne Englands Mitwirkung geschehen kann, und die notwendigerweise zahlreichen Differenzpunkte der Festlandstaaten der eigenen Politik der Seegeltung dienstbar zu machen und zwar unter möglichst geringem Aufwand eigener Mittel und mit alleiniger skrupelloser Berücksichtigung der englischen Interessen. Die mächtige Handhabe für jede als zweckmäßig erachtete Einmischung in die Festlandspolitik bot die erst durch Wilhelm den Dritten von Oranien aufgebrachte Theorie von dem europäischen Gleichgewicht. Indem England aus ihr geradezu ein Recht her¬ leitete, über dieses zu wachen und gegen jeden zu mächtig werdenden Staat aufzutreten, wußte es sich geschickt mit dem Nimbus des "Verteidigers der bedrohten Freiheit Europas zu umgeben. Wilhelm der Dritte von Oranien war der glänzendste Verfechter seiner Idee vom europäischen Gleich¬ gewicht Ludwig dem Vierzehnten gegenüber, indem er zugleich die religiösen Gegensätze seiner Politik dienstbar machte, die darauf hinausging, Frankreich als Seemacht zu schwächen und England den westindischen Handel unwieder- ruflich zu sichern. Der Erfolg dieser Politik war glänzend: England hatte es verstanden, Frankreich zu isolieren, das übrige Europa zu einem mächtigen Bund gegen dieses zusammenzuschweißen und sich selbst mit verhältnismäßig geringen Opfern an dem furchtbaren Ringen zu beteiligen. Eine geradezu virtuose An¬ wendung erfuhr derGrundsatz des Oraniers, der in einer fast hundertjährigen Hand¬ habung durch eine Regierung mit dem unverrückbar gebliebenen Ziel — Ausbreitung der Seegewalt zur alleinigen Meeresherrschaft, — eine bis ins einzelne gehende Ausbildung erhalten hatte, durch den jüngeren Pitt. England hatte Frankreich, das ihm unter Ludwig dem Vierzehnten als See- und Kolonialmacht noch über¬ legen gewesen war. im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts in die zweite Stellung zurückgedrängt. Der 1786 abgeschlossene sogenannte Edenvertrag war für die französische Industrie ungemein nachteilig, während er für die Agrarerzeugnisse günstig war, und diente so derAbsicht, Frankreich industriell nichtaufkommenzulassen. Die Revolution schuf auch hierin Wandel: sie machte die wirtschaftlichen Kräfte frei und verschärfte dadurch den Gegensatz zu England. Dieses, nicht genügend gerüstet, verhielt sich zunächst neutral. Als aber die Franzosen Belgien besetzten und den Scheldevertrag anullierten, fand sich England in seinen Interessen bedroht. Es begann der denkwürdige Kampf, der erst 1815 enden sollte. Der¬ selbe Pitt, der seine Zustimmung zu der Deklaration von Pillnitz 1791, die geschlossen war, um die Herstellung des Königtums zu erzwingen, verweigerte, fand 1793 die Revolution „abscheulich" und bezeichnete es als unabweisbare Aufgabe Englands, für die „Freiheit Europas, für Gesetz und Ordnung" in den Krieg gegen die französische Republik zu treten. Den wahren Grund des Gegensatzes beider Länder hatte schon 1763 der ältere Pitt unverhüllt ausgesprochen: „Frankreich ist uns," äußerte dieser, „hauptsächlich als See- und Handelsmacht gefährlich. Was wir in dieser Beziehung gewinnen, ist für uns vor allem wertvoll durch den Schaden, den Frankreich hat." Und im Anschluß an den Frieden von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/361>, abgerufen am 28.07.2024.