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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie

ist für sie frei in jenem törichten Sinne der Willkür und Unberechenbarkeit, der
jeder tatsächlichen Grundlage entbehrt. Die richtige Auffassung des Sachverhalts
kann man zusammenfassen in den Begriff des Organischen. Man kann sagen:
die Gesellschaft und die Kultur haben einen organischen Charakter, oder selbst:
die Gesellschaft ist ein Organismus. Die letztere Wendung ist freilich nur ein
Bild, bei dem nur gedacht werden darf an die wechselseitige Abhängigkeit aller
Seiten der Kultur von einander und an den engen Zusammenhang alles einzelnen
mit dem Ganzen und umgekehrt.

Der zweite Widerstand gegen das Eindringen der wissenschaftlichen Denk¬
weise in unser Gebiet liegt, wie schon gesagt, im Bereich des Gefühls. Er
erwächst aus allen denjenigen Vorurteilen, die unserem praktischen Verhalten
im Bereiche der menschlichen Dinge entspringen und uns an einer sachlichen
Bewertung und Würdigung hindern. Nur im Vorbeigehen weisen wir hier
darauf hin, daß das Herausbilden einer Objektivität in der Wertbeurteilung
ebenfalls zu den Aufgaben der Ausbildung einer wissenschaftlichen Denkweise
im Bereiche der menschlichen Dinge gehört. Es ist nichts als Aberglaube,
als ein Überrest der alten mythologischen Denkweise, daß Werturteile ihrer
Natur nach notwendig subjektiv und willkürlich sein müssen. Es hat auch eine
Zeit gegeben, in der die meisten Urteile über Tatsachen, sei es der Natur, sei
es der menschlichen Welt, lediglich subjektiv und willkürlich waren. Dieser
Zustand ist zunächst im Bereich des naturwissenschaftlichen Denkens überwunden
worden und wird heute im Bereiche des Geistes schrittweise zerstört. Ebenso
gibt es eine Objektivität im Bereiche des ethischen und ästhetischen Bewertens,
wennschon diese nicht überall mit völliger Gleichheit des Urteils, das verschiedene
Personen vollziehen, identisch ist, und wenn schon vor allem heute diese Objektivität
mehr eine Ausgabe als eine Tatsache ist. -- Doch davon sollte, wie gesagt,
nur im Vorbeigehen die Rede sein. Für uns handelt es sich vielmehr um den
lähmenden Einfluß des Gefühls auf die richtige Erkenntnis bestimmter Tatsachen.
Zu diesen gehört derjenige Tatsachenkomplex, den man als Klassencharakter
unserex Zustände bezeichnet. Am bekanntesten ist der Klassencharakter der
populären Moral, der die oberen Schichten vor den unteren, die Männer vor den
Frauen und die Erwachsenen vor den Kindern bevorzugt. Diese und verwandte
Tatsachen richtig zu erfassen, vorurteilsfrei in ihrem ganzen Umfange zu erkennen,
kann nur in dem Maße gelingen, in dem wir uns von der Vorherrschaft der
Gefühle über unsern Intellekt befreien.

Die neue Denkweise, von deren Aufkommen hier die Rede ist, können wir
nun auch als die soziologische Denkweise bezeichnen, und der Leser sieht hieraus,
in welchem Sinne von einer soziologischen Bildung gesprochen werden kann.
Denn unter Bildung verstehen wir ja nicht ein bestimmtes Wissen, überhaupt
nicht bestimmte Bewußtseinsinhalte, sondern eine bestimmte Art des Denkens
und Bewertens. Diese soziologische Bildung kann sich der Leser erwerben
oder weiter ausbilden durch eine Lektüre geeigneter soziologischer Werke. Ein


Soziologie

ist für sie frei in jenem törichten Sinne der Willkür und Unberechenbarkeit, der
jeder tatsächlichen Grundlage entbehrt. Die richtige Auffassung des Sachverhalts
kann man zusammenfassen in den Begriff des Organischen. Man kann sagen:
die Gesellschaft und die Kultur haben einen organischen Charakter, oder selbst:
die Gesellschaft ist ein Organismus. Die letztere Wendung ist freilich nur ein
Bild, bei dem nur gedacht werden darf an die wechselseitige Abhängigkeit aller
Seiten der Kultur von einander und an den engen Zusammenhang alles einzelnen
mit dem Ganzen und umgekehrt.

Der zweite Widerstand gegen das Eindringen der wissenschaftlichen Denk¬
weise in unser Gebiet liegt, wie schon gesagt, im Bereich des Gefühls. Er
erwächst aus allen denjenigen Vorurteilen, die unserem praktischen Verhalten
im Bereiche der menschlichen Dinge entspringen und uns an einer sachlichen
Bewertung und Würdigung hindern. Nur im Vorbeigehen weisen wir hier
darauf hin, daß das Herausbilden einer Objektivität in der Wertbeurteilung
ebenfalls zu den Aufgaben der Ausbildung einer wissenschaftlichen Denkweise
im Bereiche der menschlichen Dinge gehört. Es ist nichts als Aberglaube,
als ein Überrest der alten mythologischen Denkweise, daß Werturteile ihrer
Natur nach notwendig subjektiv und willkürlich sein müssen. Es hat auch eine
Zeit gegeben, in der die meisten Urteile über Tatsachen, sei es der Natur, sei
es der menschlichen Welt, lediglich subjektiv und willkürlich waren. Dieser
Zustand ist zunächst im Bereich des naturwissenschaftlichen Denkens überwunden
worden und wird heute im Bereiche des Geistes schrittweise zerstört. Ebenso
gibt es eine Objektivität im Bereiche des ethischen und ästhetischen Bewertens,
wennschon diese nicht überall mit völliger Gleichheit des Urteils, das verschiedene
Personen vollziehen, identisch ist, und wenn schon vor allem heute diese Objektivität
mehr eine Ausgabe als eine Tatsache ist. — Doch davon sollte, wie gesagt,
nur im Vorbeigehen die Rede sein. Für uns handelt es sich vielmehr um den
lähmenden Einfluß des Gefühls auf die richtige Erkenntnis bestimmter Tatsachen.
Zu diesen gehört derjenige Tatsachenkomplex, den man als Klassencharakter
unserex Zustände bezeichnet. Am bekanntesten ist der Klassencharakter der
populären Moral, der die oberen Schichten vor den unteren, die Männer vor den
Frauen und die Erwachsenen vor den Kindern bevorzugt. Diese und verwandte
Tatsachen richtig zu erfassen, vorurteilsfrei in ihrem ganzen Umfange zu erkennen,
kann nur in dem Maße gelingen, in dem wir uns von der Vorherrschaft der
Gefühle über unsern Intellekt befreien.

Die neue Denkweise, von deren Aufkommen hier die Rede ist, können wir
nun auch als die soziologische Denkweise bezeichnen, und der Leser sieht hieraus,
in welchem Sinne von einer soziologischen Bildung gesprochen werden kann.
Denn unter Bildung verstehen wir ja nicht ein bestimmtes Wissen, überhaupt
nicht bestimmte Bewußtseinsinhalte, sondern eine bestimmte Art des Denkens
und Bewertens. Diese soziologische Bildung kann sich der Leser erwerben
oder weiter ausbilden durch eine Lektüre geeigneter soziologischer Werke. Ein


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[0350] Soziologie ist für sie frei in jenem törichten Sinne der Willkür und Unberechenbarkeit, der jeder tatsächlichen Grundlage entbehrt. Die richtige Auffassung des Sachverhalts kann man zusammenfassen in den Begriff des Organischen. Man kann sagen: die Gesellschaft und die Kultur haben einen organischen Charakter, oder selbst: die Gesellschaft ist ein Organismus. Die letztere Wendung ist freilich nur ein Bild, bei dem nur gedacht werden darf an die wechselseitige Abhängigkeit aller Seiten der Kultur von einander und an den engen Zusammenhang alles einzelnen mit dem Ganzen und umgekehrt. Der zweite Widerstand gegen das Eindringen der wissenschaftlichen Denk¬ weise in unser Gebiet liegt, wie schon gesagt, im Bereich des Gefühls. Er erwächst aus allen denjenigen Vorurteilen, die unserem praktischen Verhalten im Bereiche der menschlichen Dinge entspringen und uns an einer sachlichen Bewertung und Würdigung hindern. Nur im Vorbeigehen weisen wir hier darauf hin, daß das Herausbilden einer Objektivität in der Wertbeurteilung ebenfalls zu den Aufgaben der Ausbildung einer wissenschaftlichen Denkweise im Bereiche der menschlichen Dinge gehört. Es ist nichts als Aberglaube, als ein Überrest der alten mythologischen Denkweise, daß Werturteile ihrer Natur nach notwendig subjektiv und willkürlich sein müssen. Es hat auch eine Zeit gegeben, in der die meisten Urteile über Tatsachen, sei es der Natur, sei es der menschlichen Welt, lediglich subjektiv und willkürlich waren. Dieser Zustand ist zunächst im Bereich des naturwissenschaftlichen Denkens überwunden worden und wird heute im Bereiche des Geistes schrittweise zerstört. Ebenso gibt es eine Objektivität im Bereiche des ethischen und ästhetischen Bewertens, wennschon diese nicht überall mit völliger Gleichheit des Urteils, das verschiedene Personen vollziehen, identisch ist, und wenn schon vor allem heute diese Objektivität mehr eine Ausgabe als eine Tatsache ist. — Doch davon sollte, wie gesagt, nur im Vorbeigehen die Rede sein. Für uns handelt es sich vielmehr um den lähmenden Einfluß des Gefühls auf die richtige Erkenntnis bestimmter Tatsachen. Zu diesen gehört derjenige Tatsachenkomplex, den man als Klassencharakter unserex Zustände bezeichnet. Am bekanntesten ist der Klassencharakter der populären Moral, der die oberen Schichten vor den unteren, die Männer vor den Frauen und die Erwachsenen vor den Kindern bevorzugt. Diese und verwandte Tatsachen richtig zu erfassen, vorurteilsfrei in ihrem ganzen Umfange zu erkennen, kann nur in dem Maße gelingen, in dem wir uns von der Vorherrschaft der Gefühle über unsern Intellekt befreien. Die neue Denkweise, von deren Aufkommen hier die Rede ist, können wir nun auch als die soziologische Denkweise bezeichnen, und der Leser sieht hieraus, in welchem Sinne von einer soziologischen Bildung gesprochen werden kann. Denn unter Bildung verstehen wir ja nicht ein bestimmtes Wissen, überhaupt nicht bestimmte Bewußtseinsinhalte, sondern eine bestimmte Art des Denkens und Bewertens. Diese soziologische Bildung kann sich der Leser erwerben oder weiter ausbilden durch eine Lektüre geeigneter soziologischer Werke. Ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/350>, abgerufen am 28.07.2024.