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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie

Ordnung, der Einheitlichkeit und Regelmäßigkeit, Und darum ist sie der in¬
tellektuellen Arbeit zugänglich: es ist möglich, auf ihre Fülle einheitliche Begriffe
anzuwenden und in ihr einheitliche Gesetze zu entdecken. Eben diese Auffassung
beginnt nun heute im Denken der ganzen Nation auch für die Welt des Geistes,
für die Welt der menschlichen Geschichte, Gesellschaft und Kultur zur Geltung
zu kommen. Freilich darf bei dieser Vergleichung zwischen der Welt der Natur
und der Welt des Geistes nur von einer Übereinstimmung der letzten formalen
Prinzipien die Rede sein; sowie man daraus eine Übereinstimmung in den
konkreten Inhalten dieser Grundsätze macht, d. h, also die Prinzipien der Natur¬
wissenschaften einfach unmittelbar auf die Geisteswissenschaften übertragen will --
in dem Sinne etwa, in dem dies Vertreter des bekannten Monismus wollen --,
verfällt man einem blinden Dogmatismus. Von dieser Verirrung, die mit
dem Wesen einer echten soziologischen Bildung unverträglich ist, werden wir
noch später zu sprechen haben.

Eine große gewaltige Arbeit ist es, die sich in der Ausgestaltung dieser
neuen Denkweise vollzieht, und sie stößt auf dieselben Widerstände, wie damals
das Aufkommen der naturwissenschaftlichen Denkweise. Es sind ihrer namentlich
zwei, eine von negativen! und eine von positivem Charakter: die Macht der
Gewohnheit und gewisse Gefühlswiderstände.

Die Denkweise, an die wir von früh an für den Bereich der menschlichen
Dinge gewohnt sind, kann man unter den Begriff der Zufallskausalität zu¬
sammenfassen. Wodurch entsteht irgendein Krieg? Nach der populären Denk¬
weise durch den Ehrgeiz eines Staatsmannes oder einiger Kriegsmänner oder
vielleicht durch die Intrigen einer Frau. -- Wie kam es, daß Karl der Große
in Rom zum Kaiser gekrönt wurde? Weil er zufällig gerade über die Alpen
gegangen war und zufällig am Weihnachtsabend den Gottesdienst besuchte und der
damalige Papst den Einfall bekam, ihm eine Ehre zu erweisen. So ungefähr
sind die Dinge in dem Lehrbuch der Geschichte dargestellt, aus dem der Ver¬
fasser als junger Gymnasiast seine ersten geschichtlichen "Kenntnisse" bezog.
Auch in den Geisteswissenschaften sind die Erklärungsweisen noch lange
nicht verstummt, die das Aufkommen neuer Wörter, neuer Ornamente
oder sonstiger kultureller Neuerungen von mehr oder weniger wesenhaften
Charakter auf Launen oder' Einfälle einzelner Personen, auf zufällige
Irrtümer oder sonstige zufällige Begebenheiten zurückführen. Es schimmert
durch alle diese Vorstellungen immer wieder die uralte mythologische Denk¬
weise hindurch, die nichts als zufällige und unberechenbare Regungen, unvor¬
hergesehene Einfülle in den Menschen oder den Geistern, unberechenbare Hand¬
lungen durch Zaubecgemalt kennt. Für diese Denkweise ist wie erwähnt die
Welt ein Chaos, eine Summe von wirren und zusammenhanglosen Einzelheiten,
über die sich nichts Einheitliches und Allgemeines erhebt. Die naive Denkweise
des täglichen Lebens ist noch heute nicht viel weiter gekommen. Alles Geschehen
in der Welt sührt sie auf einzelne Menschen zurück, und jeder einzelne Mensch


Soziologie

Ordnung, der Einheitlichkeit und Regelmäßigkeit, Und darum ist sie der in¬
tellektuellen Arbeit zugänglich: es ist möglich, auf ihre Fülle einheitliche Begriffe
anzuwenden und in ihr einheitliche Gesetze zu entdecken. Eben diese Auffassung
beginnt nun heute im Denken der ganzen Nation auch für die Welt des Geistes,
für die Welt der menschlichen Geschichte, Gesellschaft und Kultur zur Geltung
zu kommen. Freilich darf bei dieser Vergleichung zwischen der Welt der Natur
und der Welt des Geistes nur von einer Übereinstimmung der letzten formalen
Prinzipien die Rede sein; sowie man daraus eine Übereinstimmung in den
konkreten Inhalten dieser Grundsätze macht, d. h, also die Prinzipien der Natur¬
wissenschaften einfach unmittelbar auf die Geisteswissenschaften übertragen will —
in dem Sinne etwa, in dem dies Vertreter des bekannten Monismus wollen —,
verfällt man einem blinden Dogmatismus. Von dieser Verirrung, die mit
dem Wesen einer echten soziologischen Bildung unverträglich ist, werden wir
noch später zu sprechen haben.

Eine große gewaltige Arbeit ist es, die sich in der Ausgestaltung dieser
neuen Denkweise vollzieht, und sie stößt auf dieselben Widerstände, wie damals
das Aufkommen der naturwissenschaftlichen Denkweise. Es sind ihrer namentlich
zwei, eine von negativen! und eine von positivem Charakter: die Macht der
Gewohnheit und gewisse Gefühlswiderstände.

Die Denkweise, an die wir von früh an für den Bereich der menschlichen
Dinge gewohnt sind, kann man unter den Begriff der Zufallskausalität zu¬
sammenfassen. Wodurch entsteht irgendein Krieg? Nach der populären Denk¬
weise durch den Ehrgeiz eines Staatsmannes oder einiger Kriegsmänner oder
vielleicht durch die Intrigen einer Frau. — Wie kam es, daß Karl der Große
in Rom zum Kaiser gekrönt wurde? Weil er zufällig gerade über die Alpen
gegangen war und zufällig am Weihnachtsabend den Gottesdienst besuchte und der
damalige Papst den Einfall bekam, ihm eine Ehre zu erweisen. So ungefähr
sind die Dinge in dem Lehrbuch der Geschichte dargestellt, aus dem der Ver¬
fasser als junger Gymnasiast seine ersten geschichtlichen „Kenntnisse" bezog.
Auch in den Geisteswissenschaften sind die Erklärungsweisen noch lange
nicht verstummt, die das Aufkommen neuer Wörter, neuer Ornamente
oder sonstiger kultureller Neuerungen von mehr oder weniger wesenhaften
Charakter auf Launen oder' Einfälle einzelner Personen, auf zufällige
Irrtümer oder sonstige zufällige Begebenheiten zurückführen. Es schimmert
durch alle diese Vorstellungen immer wieder die uralte mythologische Denk¬
weise hindurch, die nichts als zufällige und unberechenbare Regungen, unvor¬
hergesehene Einfülle in den Menschen oder den Geistern, unberechenbare Hand¬
lungen durch Zaubecgemalt kennt. Für diese Denkweise ist wie erwähnt die
Welt ein Chaos, eine Summe von wirren und zusammenhanglosen Einzelheiten,
über die sich nichts Einheitliches und Allgemeines erhebt. Die naive Denkweise
des täglichen Lebens ist noch heute nicht viel weiter gekommen. Alles Geschehen
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[0349] Soziologie Ordnung, der Einheitlichkeit und Regelmäßigkeit, Und darum ist sie der in¬ tellektuellen Arbeit zugänglich: es ist möglich, auf ihre Fülle einheitliche Begriffe anzuwenden und in ihr einheitliche Gesetze zu entdecken. Eben diese Auffassung beginnt nun heute im Denken der ganzen Nation auch für die Welt des Geistes, für die Welt der menschlichen Geschichte, Gesellschaft und Kultur zur Geltung zu kommen. Freilich darf bei dieser Vergleichung zwischen der Welt der Natur und der Welt des Geistes nur von einer Übereinstimmung der letzten formalen Prinzipien die Rede sein; sowie man daraus eine Übereinstimmung in den konkreten Inhalten dieser Grundsätze macht, d. h, also die Prinzipien der Natur¬ wissenschaften einfach unmittelbar auf die Geisteswissenschaften übertragen will — in dem Sinne etwa, in dem dies Vertreter des bekannten Monismus wollen —, verfällt man einem blinden Dogmatismus. Von dieser Verirrung, die mit dem Wesen einer echten soziologischen Bildung unverträglich ist, werden wir noch später zu sprechen haben. Eine große gewaltige Arbeit ist es, die sich in der Ausgestaltung dieser neuen Denkweise vollzieht, und sie stößt auf dieselben Widerstände, wie damals das Aufkommen der naturwissenschaftlichen Denkweise. Es sind ihrer namentlich zwei, eine von negativen! und eine von positivem Charakter: die Macht der Gewohnheit und gewisse Gefühlswiderstände. Die Denkweise, an die wir von früh an für den Bereich der menschlichen Dinge gewohnt sind, kann man unter den Begriff der Zufallskausalität zu¬ sammenfassen. Wodurch entsteht irgendein Krieg? Nach der populären Denk¬ weise durch den Ehrgeiz eines Staatsmannes oder einiger Kriegsmänner oder vielleicht durch die Intrigen einer Frau. — Wie kam es, daß Karl der Große in Rom zum Kaiser gekrönt wurde? Weil er zufällig gerade über die Alpen gegangen war und zufällig am Weihnachtsabend den Gottesdienst besuchte und der damalige Papst den Einfall bekam, ihm eine Ehre zu erweisen. So ungefähr sind die Dinge in dem Lehrbuch der Geschichte dargestellt, aus dem der Ver¬ fasser als junger Gymnasiast seine ersten geschichtlichen „Kenntnisse" bezog. Auch in den Geisteswissenschaften sind die Erklärungsweisen noch lange nicht verstummt, die das Aufkommen neuer Wörter, neuer Ornamente oder sonstiger kultureller Neuerungen von mehr oder weniger wesenhaften Charakter auf Launen oder' Einfälle einzelner Personen, auf zufällige Irrtümer oder sonstige zufällige Begebenheiten zurückführen. Es schimmert durch alle diese Vorstellungen immer wieder die uralte mythologische Denk¬ weise hindurch, die nichts als zufällige und unberechenbare Regungen, unvor¬ hergesehene Einfülle in den Menschen oder den Geistern, unberechenbare Hand¬ lungen durch Zaubecgemalt kennt. Für diese Denkweise ist wie erwähnt die Welt ein Chaos, eine Summe von wirren und zusammenhanglosen Einzelheiten, über die sich nichts Einheitliches und Allgemeines erhebt. Die naive Denkweise des täglichen Lebens ist noch heute nicht viel weiter gekommen. Alles Geschehen in der Welt sührt sie auf einzelne Menschen zurück, und jeder einzelne Mensch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/349>, abgerufen am 01.09.2024.