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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Der große Krieg

die russischen Werte sind die sichersten der WeltI" Welches praktische Interesse
kaun Rußland daran haben, gerade Deutschland finanziell zu ruinieren, das
sein größter Getreideabnehmer ist? Genug, dank den englischen Verleumdungen
entstand schließlich eine solche Situation auf dem Kontinent, daß seit etwa zwei
Jahren die Entscheidung über Krieg und Frieden in Petersburg lag und daß seit dem
April dieses Jahres, wie ich es in meinen russischen Briefen aus Petersburg dar¬
gestellt habe, nur noch die Frage war, ob der Zar, wie einst Alexander der Zweite,
von den Kriegstreibern zur Mobilmachung gezwungen werden würde oder nicht.

Professor Theodor Schiemann, unser ausgezeichneter Historiker, dessen An¬
gaben über russische Politik stets aus den sichersten Quellen stammen und sich
bisher immer als zutreffend erwiesen haben dank seiner tiefen Kenntnis Ru߬
lands und der Russen, veröffentlicht in der Kreuzzeitung folgende Mitteilung,
die das eben gesagte grell beleuchtet: "Nachdem König Georg der Fünfte am
21. April d. I. in Paris eingetroffen war, haben Verhandlungen zwischen Sir
Edward Grey und dem russischen Botschafter in Paris, Jswolski, stattgefunden.
Die Russen schlugen vor, die Entente in ein Bündnis zu verwandeln, was Sir
Edward Grey zwar ablehnte, aber die Grundlagen zu einer russisch - englischen
Marinekonvention wurden gelegt. Sir Edward Grey gab seine Zustimmung
dazu, daß die Beratungen zur Feststellung dieser Vereinbarung von den beider¬
seitigen Marinestäben ausgearbeitet werden sollten.

Der russische Marinegeneralstab stellte darauf folgende Anträge: Als Kom¬
pensation dafür, daß für den Fall eines Krieges zwischen dem Dreibund und
den Ententemächten ein Teil der deutschen Flotte auf Rußland abgezogen werde,
soll England vor Ausbruch des Krieges eine ausreichende Zahl von Handels¬
schiffen in die Ostseehäfen schicken und diese englischen Fahrzeuge dazu benutzt
werden, russische Truppen in Pommern zu landen. Die Verhandlungen darüber
wurden dem zweiten Sekretär und Marmebeoollmächtigten Wolkow übertragen
und der Botschafter von Benkendorff über den ganzen Plan unterrichtet.

Der Abschluß der Konvention sollte erfolgen, wenn Prinz Ludwig von
Ballenberg im August in Petersburg eintreffe."

Gegenüber dieser "Einkreisungspolitik" war die Lage der deutschen Negierung
äußerst schwierig. Den Ratschlägen jener deutschen Patrioten, die den Präventiv¬
krieg forderten, durfte sie auf keinen Fall folgen. Im Zeitalter der Massen¬
heere muß eine zum Kriege entschlossene Regierung die Massen vor Anfang des
Krieges hinter sich haben. Nur in Rußland scheint man noch in dem Wahn
zu leben, daß Kabinettskriege siegreich durchgeführt zu werden vermögen. Wer die
Verantwortung auf sich nimmt, einen Weltbrand zu entfesseln, muß ein großes
Ziel haben, für das das gesamte einige Volk sein Letztes einzusetzen bereit ist.
Ein solches Ziel hatten wir bis zum 1. August dieses Jahres nicht. Die
Erwerbung Marokkos war kein den voraussichtlichen Opfern entsprechendes Ziel;
selbständige Staaten gründen, um Rußland zu schwächen, war allein für sich
auch keine des teuern Einsatzes würdige Aufgabe. So tat die Regierung,


Der große Krieg

die russischen Werte sind die sichersten der WeltI" Welches praktische Interesse
kaun Rußland daran haben, gerade Deutschland finanziell zu ruinieren, das
sein größter Getreideabnehmer ist? Genug, dank den englischen Verleumdungen
entstand schließlich eine solche Situation auf dem Kontinent, daß seit etwa zwei
Jahren die Entscheidung über Krieg und Frieden in Petersburg lag und daß seit dem
April dieses Jahres, wie ich es in meinen russischen Briefen aus Petersburg dar¬
gestellt habe, nur noch die Frage war, ob der Zar, wie einst Alexander der Zweite,
von den Kriegstreibern zur Mobilmachung gezwungen werden würde oder nicht.

Professor Theodor Schiemann, unser ausgezeichneter Historiker, dessen An¬
gaben über russische Politik stets aus den sichersten Quellen stammen und sich
bisher immer als zutreffend erwiesen haben dank seiner tiefen Kenntnis Ru߬
lands und der Russen, veröffentlicht in der Kreuzzeitung folgende Mitteilung,
die das eben gesagte grell beleuchtet: „Nachdem König Georg der Fünfte am
21. April d. I. in Paris eingetroffen war, haben Verhandlungen zwischen Sir
Edward Grey und dem russischen Botschafter in Paris, Jswolski, stattgefunden.
Die Russen schlugen vor, die Entente in ein Bündnis zu verwandeln, was Sir
Edward Grey zwar ablehnte, aber die Grundlagen zu einer russisch - englischen
Marinekonvention wurden gelegt. Sir Edward Grey gab seine Zustimmung
dazu, daß die Beratungen zur Feststellung dieser Vereinbarung von den beider¬
seitigen Marinestäben ausgearbeitet werden sollten.

Der russische Marinegeneralstab stellte darauf folgende Anträge: Als Kom¬
pensation dafür, daß für den Fall eines Krieges zwischen dem Dreibund und
den Ententemächten ein Teil der deutschen Flotte auf Rußland abgezogen werde,
soll England vor Ausbruch des Krieges eine ausreichende Zahl von Handels¬
schiffen in die Ostseehäfen schicken und diese englischen Fahrzeuge dazu benutzt
werden, russische Truppen in Pommern zu landen. Die Verhandlungen darüber
wurden dem zweiten Sekretär und Marmebeoollmächtigten Wolkow übertragen
und der Botschafter von Benkendorff über den ganzen Plan unterrichtet.

Der Abschluß der Konvention sollte erfolgen, wenn Prinz Ludwig von
Ballenberg im August in Petersburg eintreffe."

Gegenüber dieser „Einkreisungspolitik" war die Lage der deutschen Negierung
äußerst schwierig. Den Ratschlägen jener deutschen Patrioten, die den Präventiv¬
krieg forderten, durfte sie auf keinen Fall folgen. Im Zeitalter der Massen¬
heere muß eine zum Kriege entschlossene Regierung die Massen vor Anfang des
Krieges hinter sich haben. Nur in Rußland scheint man noch in dem Wahn
zu leben, daß Kabinettskriege siegreich durchgeführt zu werden vermögen. Wer die
Verantwortung auf sich nimmt, einen Weltbrand zu entfesseln, muß ein großes
Ziel haben, für das das gesamte einige Volk sein Letztes einzusetzen bereit ist.
Ein solches Ziel hatten wir bis zum 1. August dieses Jahres nicht. Die
Erwerbung Marokkos war kein den voraussichtlichen Opfern entsprechendes Ziel;
selbständige Staaten gründen, um Rußland zu schwächen, war allein für sich
auch keine des teuern Einsatzes würdige Aufgabe. So tat die Regierung,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/306>, abgerufen am 22.12.2024.