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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner

"Alles, was von russischer Seite nach diesen beiden ersten Niederlagen
bis Liaovan geschah," sagen die Kriegsgeschichtlichen Einzelschriften, "war im
Grunde immer dasselbe. Auf der Süd- wie auf der Ostfront werden Stellungen
bezogen, den Generalen aber wird zugleich eingeschärft, daß sie sich in ihnen
nicht größeren Verlusten aussetzen sollen. Die Führung zeigt sich diesen Auf¬
gaben durchaus gewachsen. Sie entwickelt ein bemerkenswertes Geschick in der
Einleitung und Durchführung der rückgängiger Bewegungen; die Haltung der
Truppen hierbei ist bewundernswert. . . . Wie sich zeigte, blieb indessen selbst
der russische Soldat von der niederdrückenden Einwirkung solcher fortgesetzten
Rückzüge nicht unberührt. Wie sollte er auch zu seinen Führern und den von
ihnen gewählten Stellungen Vertrauen fassen, wenn diese stets geräumt wurden,
sobald der Feind Miene machte, sie ernsthaft anzugreifen. Allzu nahe lag es
da. daß der Soldat sich schließlich zu dem gleichen Verfahren für berechtigt hielt
und eigenmächtig den Kampfplatz verließ, sobald ihm die Gefahr näher rückte."

Als dann bei Liaovan zwischen dem 30. August und 3. September in stark
verschanzten Stellungen den Japanern ernstlich Widerstand geleistet wurde,
geschah es mit einer Überlegenheit von 50000 Mann Infanterie und 240
Geschützen, wobei allerdings auf russischer Seite die Kräfte der Japaner, wie
fast stets in diesem Kriege, überschätzt wurden, hier um 37000 Mann Infanterie.
Der Angriff der Überlegenheit gegen die starken ausgebauten russischen Stellungen
südlich Liaovan scheiterten vollkommen. Oberstleutnant von Tettau schreibt über
die Stimmung der russischen Truppen am 31. August abends: "Die von allen
Seiten eingehenden Nachrichten erweckten das Gefühl, daß man -- wenn auch
mit großen Opfern -- den ersten Erfolg errungen habe." Einer der komman¬
dierender Generale telegraphierte seinem Nachbar: "Die Verluste sind ungeheure,
aber auch die Tapferkeit ist ungeheuer. Alle sind überzeugt, daß wir niemals
zurückgehen werden. Alle rufen Hurra, auch ich rufe Hurra."

Ein solches in den Stellungen ausgebrachtes Hurra konnte freilich niemals
ein Hurra im Angriff ersetzen. Die Überzeugung "aller", daß man niemals
zurückgehen würde, istAenn auch geopfert worden. General Kuropatkin entschloß
sich, während der Nacht zum 1. September die erfolgreich behaupteten Stellungen
südlich Liaovan zu räumen, um mit einer Masse von über 90 Bataillonen die
seine linke Flanke und seine Nückzugsstraße bedrohende Umfassung durch die
japanische Erste Armee zurückzuweisen. Dieser Gegenangriff, obwohl er mit
dreifacher Überlegenheit geführt werden konnte, erfolgte nicht einheitlich und
ohne Nachdruck. Durch Verluste in zweitägiger Abwehr geschwächt, auf das
äußerste ermüdet, bei Nacht zurückgeführt, besaßen die Truppen der bisherigen
Südfront keine eigentliche Angriffskraft mehr. Entsprechend aus der Reserve
verstärkt, hätten sie dagegen in dem bisher behaupteten Gelände südlich Liaovan
gegen die zu Boden gerungenen Angreifer sehr wohl zu einem Siege fortgerissen
werden können, den sie jetzt an anderer Stelle nicht mehr zu erringen imstande
waren.


Die russische Armee als Gegner

„Alles, was von russischer Seite nach diesen beiden ersten Niederlagen
bis Liaovan geschah," sagen die Kriegsgeschichtlichen Einzelschriften, „war im
Grunde immer dasselbe. Auf der Süd- wie auf der Ostfront werden Stellungen
bezogen, den Generalen aber wird zugleich eingeschärft, daß sie sich in ihnen
nicht größeren Verlusten aussetzen sollen. Die Führung zeigt sich diesen Auf¬
gaben durchaus gewachsen. Sie entwickelt ein bemerkenswertes Geschick in der
Einleitung und Durchführung der rückgängiger Bewegungen; die Haltung der
Truppen hierbei ist bewundernswert. . . . Wie sich zeigte, blieb indessen selbst
der russische Soldat von der niederdrückenden Einwirkung solcher fortgesetzten
Rückzüge nicht unberührt. Wie sollte er auch zu seinen Führern und den von
ihnen gewählten Stellungen Vertrauen fassen, wenn diese stets geräumt wurden,
sobald der Feind Miene machte, sie ernsthaft anzugreifen. Allzu nahe lag es
da. daß der Soldat sich schließlich zu dem gleichen Verfahren für berechtigt hielt
und eigenmächtig den Kampfplatz verließ, sobald ihm die Gefahr näher rückte."

Als dann bei Liaovan zwischen dem 30. August und 3. September in stark
verschanzten Stellungen den Japanern ernstlich Widerstand geleistet wurde,
geschah es mit einer Überlegenheit von 50000 Mann Infanterie und 240
Geschützen, wobei allerdings auf russischer Seite die Kräfte der Japaner, wie
fast stets in diesem Kriege, überschätzt wurden, hier um 37000 Mann Infanterie.
Der Angriff der Überlegenheit gegen die starken ausgebauten russischen Stellungen
südlich Liaovan scheiterten vollkommen. Oberstleutnant von Tettau schreibt über
die Stimmung der russischen Truppen am 31. August abends: „Die von allen
Seiten eingehenden Nachrichten erweckten das Gefühl, daß man — wenn auch
mit großen Opfern — den ersten Erfolg errungen habe." Einer der komman¬
dierender Generale telegraphierte seinem Nachbar: „Die Verluste sind ungeheure,
aber auch die Tapferkeit ist ungeheuer. Alle sind überzeugt, daß wir niemals
zurückgehen werden. Alle rufen Hurra, auch ich rufe Hurra."

Ein solches in den Stellungen ausgebrachtes Hurra konnte freilich niemals
ein Hurra im Angriff ersetzen. Die Überzeugung „aller", daß man niemals
zurückgehen würde, istAenn auch geopfert worden. General Kuropatkin entschloß
sich, während der Nacht zum 1. September die erfolgreich behaupteten Stellungen
südlich Liaovan zu räumen, um mit einer Masse von über 90 Bataillonen die
seine linke Flanke und seine Nückzugsstraße bedrohende Umfassung durch die
japanische Erste Armee zurückzuweisen. Dieser Gegenangriff, obwohl er mit
dreifacher Überlegenheit geführt werden konnte, erfolgte nicht einheitlich und
ohne Nachdruck. Durch Verluste in zweitägiger Abwehr geschwächt, auf das
äußerste ermüdet, bei Nacht zurückgeführt, besaßen die Truppen der bisherigen
Südfront keine eigentliche Angriffskraft mehr. Entsprechend aus der Reserve
verstärkt, hätten sie dagegen in dem bisher behaupteten Gelände südlich Liaovan
gegen die zu Boden gerungenen Angreifer sehr wohl zu einem Siege fortgerissen
werden können, den sie jetzt an anderer Stelle nicht mehr zu erringen imstande
waren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/291>, abgerufen am 01.09.2024.