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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Der Krieg -- Die Umwertung aller Werte

eigentlichen Vaterlandsgefühles sein kann: nur das eigentliche Verbindende, das
seelische Medium hat sich fast völlig ins Wesenlose verflüchtigt."

Nun, die Frage am Anfang dieses Zitates hat unsere eherne Zeit laut
dröhnend beantwortet: wir alle fühlen augenblicklich, da wir uns anschicken,
unsere Grenzen zu verteidigen, mit jedem Herzschlag, wir erleben in jeder
Minute, was Vaterland ist. Und auch die letzte Behauptung, das allgemein
verbindende, das seelische Medium fehlte uns, haben die Tatsachen und Ereignisse
Lügen gestraft. Wir haben innerhalb weniger Tage, innerhalb weniger Stunden
gefühlt, wie ein Großes, über uns Stehendes, uns mit sich fortriß, wie unser
Ich. unsere so liebevoll gepflegte Persönlichkeit aufging in ein großes Ganzes.
Wir haben dabei ein Erlebnis gehabt, das in solcher Macht und Stärke, mit
solcher fortreißenden Allgewalt dem Geschlecht, das jetzt in der Blüte der Kraft
dasteht, noch nicht beschieden gewesen war. Der Begriff "Volk", der Begriff
"Vaterland" find vielleicht nicht jedeni in jedem Augenblick im Mittelpunkt des
Bewußtseins vorhanden gewesen. Aber was wir in den letzten Tagen erlebt
haben, das hat sie wieder in den Mittelpunkt unseres Gemütslebens gestellt und
läßt sie von da ausstrahlen in alle Winkel unseres Wesens, auf alle Verknüpfungen
unseres Denkens und Seins.

Der Krieg ist uns dabei zu einer Umwertung aller Werte geworden. Und
noch nie hat ein Krieg eine größere Umwertung aller Werte hervorgebracht als
gerade dieser Krieg, der nicht nur ein Krieg von Staat gegen Staat, von Volk
gegen Volk, der ein Krieg ist von Rasse gegen Rasse, von Germanen gegen
Slawen, der uns nicht nur erleben läßt, was Volk und Vaterland ist, sondern
auch was Rasse ist, uns, die Kinder einer individualistischen Zeit, die geneigt
waren die Persönlichkeitswerte über alle Gememschaftswerte zu stellen.

Wir haben innerhalb weniger Stunden und Tage umgelernt von Grund
aus. Ein instinktiver Gefühlsdrang war es, der uns zwang, hinauszujubeln,
als der stammverwandte Verbündete dem Slawentum die gepanzerte Faust
entgegenstreckte, obgleich oder gerade weil wir klar im Bewußtsein hatten, daß
auch unser eigenes Wohl davon aufs innigste berührt wurde. Jetzt ist aber
die nüchterne Überlegung nachgefolgt, nach jedeni einzelnen von uns streckt
jetzt die unabwendbare Notwendigkeit die Faust aus, jeder von uns steht jetzt
vor der Aufgabe, sein ganzes Ich unterzuordnen unter ein ganz Neues. Unerhörtes,
Großes, an das man sonst wohl gedacht, das man aber nie als wirklich gedacht hat.

Unser ganzes Ich wird herausgerissen aus dem gewohnten Kreis von
Wertungen, was gestern höchstes Gut. das eigene Wohl, die eigene Zukunft,
das Wohl, die Zukunft der Familie und der Angehörigen, das wirtschaftliche
Interesse, das kulturelle Interesse, es erscheint uns alles in einer Re¬
lativität, die uns in Erstaunen und Verwirrung setzt. Uns fehlen im
Augenblicke die Maßstäbe zur Einschätzung dessen, was mit uns geschieht,
uns fehlen die anschaulichen Vorstellungen, um >us klar zu machen, was
geschehen wird.


Der Krieg — Die Umwertung aller Werte

eigentlichen Vaterlandsgefühles sein kann: nur das eigentliche Verbindende, das
seelische Medium hat sich fast völlig ins Wesenlose verflüchtigt."

Nun, die Frage am Anfang dieses Zitates hat unsere eherne Zeit laut
dröhnend beantwortet: wir alle fühlen augenblicklich, da wir uns anschicken,
unsere Grenzen zu verteidigen, mit jedem Herzschlag, wir erleben in jeder
Minute, was Vaterland ist. Und auch die letzte Behauptung, das allgemein
verbindende, das seelische Medium fehlte uns, haben die Tatsachen und Ereignisse
Lügen gestraft. Wir haben innerhalb weniger Tage, innerhalb weniger Stunden
gefühlt, wie ein Großes, über uns Stehendes, uns mit sich fortriß, wie unser
Ich. unsere so liebevoll gepflegte Persönlichkeit aufging in ein großes Ganzes.
Wir haben dabei ein Erlebnis gehabt, das in solcher Macht und Stärke, mit
solcher fortreißenden Allgewalt dem Geschlecht, das jetzt in der Blüte der Kraft
dasteht, noch nicht beschieden gewesen war. Der Begriff „Volk", der Begriff
„Vaterland" find vielleicht nicht jedeni in jedem Augenblick im Mittelpunkt des
Bewußtseins vorhanden gewesen. Aber was wir in den letzten Tagen erlebt
haben, das hat sie wieder in den Mittelpunkt unseres Gemütslebens gestellt und
läßt sie von da ausstrahlen in alle Winkel unseres Wesens, auf alle Verknüpfungen
unseres Denkens und Seins.

Der Krieg ist uns dabei zu einer Umwertung aller Werte geworden. Und
noch nie hat ein Krieg eine größere Umwertung aller Werte hervorgebracht als
gerade dieser Krieg, der nicht nur ein Krieg von Staat gegen Staat, von Volk
gegen Volk, der ein Krieg ist von Rasse gegen Rasse, von Germanen gegen
Slawen, der uns nicht nur erleben läßt, was Volk und Vaterland ist, sondern
auch was Rasse ist, uns, die Kinder einer individualistischen Zeit, die geneigt
waren die Persönlichkeitswerte über alle Gememschaftswerte zu stellen.

Wir haben innerhalb weniger Stunden und Tage umgelernt von Grund
aus. Ein instinktiver Gefühlsdrang war es, der uns zwang, hinauszujubeln,
als der stammverwandte Verbündete dem Slawentum die gepanzerte Faust
entgegenstreckte, obgleich oder gerade weil wir klar im Bewußtsein hatten, daß
auch unser eigenes Wohl davon aufs innigste berührt wurde. Jetzt ist aber
die nüchterne Überlegung nachgefolgt, nach jedeni einzelnen von uns streckt
jetzt die unabwendbare Notwendigkeit die Faust aus, jeder von uns steht jetzt
vor der Aufgabe, sein ganzes Ich unterzuordnen unter ein ganz Neues. Unerhörtes,
Großes, an das man sonst wohl gedacht, das man aber nie als wirklich gedacht hat.

Unser ganzes Ich wird herausgerissen aus dem gewohnten Kreis von
Wertungen, was gestern höchstes Gut. das eigene Wohl, die eigene Zukunft,
das Wohl, die Zukunft der Familie und der Angehörigen, das wirtschaftliche
Interesse, das kulturelle Interesse, es erscheint uns alles in einer Re¬
lativität, die uns in Erstaunen und Verwirrung setzt. Uns fehlen im
Augenblicke die Maßstäbe zur Einschätzung dessen, was mit uns geschieht,
uns fehlen die anschaulichen Vorstellungen, um >us klar zu machen, was
geschehen wird.


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[0257] Der Krieg — Die Umwertung aller Werte eigentlichen Vaterlandsgefühles sein kann: nur das eigentliche Verbindende, das seelische Medium hat sich fast völlig ins Wesenlose verflüchtigt." Nun, die Frage am Anfang dieses Zitates hat unsere eherne Zeit laut dröhnend beantwortet: wir alle fühlen augenblicklich, da wir uns anschicken, unsere Grenzen zu verteidigen, mit jedem Herzschlag, wir erleben in jeder Minute, was Vaterland ist. Und auch die letzte Behauptung, das allgemein verbindende, das seelische Medium fehlte uns, haben die Tatsachen und Ereignisse Lügen gestraft. Wir haben innerhalb weniger Tage, innerhalb weniger Stunden gefühlt, wie ein Großes, über uns Stehendes, uns mit sich fortriß, wie unser Ich. unsere so liebevoll gepflegte Persönlichkeit aufging in ein großes Ganzes. Wir haben dabei ein Erlebnis gehabt, das in solcher Macht und Stärke, mit solcher fortreißenden Allgewalt dem Geschlecht, das jetzt in der Blüte der Kraft dasteht, noch nicht beschieden gewesen war. Der Begriff „Volk", der Begriff „Vaterland" find vielleicht nicht jedeni in jedem Augenblick im Mittelpunkt des Bewußtseins vorhanden gewesen. Aber was wir in den letzten Tagen erlebt haben, das hat sie wieder in den Mittelpunkt unseres Gemütslebens gestellt und läßt sie von da ausstrahlen in alle Winkel unseres Wesens, auf alle Verknüpfungen unseres Denkens und Seins. Der Krieg ist uns dabei zu einer Umwertung aller Werte geworden. Und noch nie hat ein Krieg eine größere Umwertung aller Werte hervorgebracht als gerade dieser Krieg, der nicht nur ein Krieg von Staat gegen Staat, von Volk gegen Volk, der ein Krieg ist von Rasse gegen Rasse, von Germanen gegen Slawen, der uns nicht nur erleben läßt, was Volk und Vaterland ist, sondern auch was Rasse ist, uns, die Kinder einer individualistischen Zeit, die geneigt waren die Persönlichkeitswerte über alle Gememschaftswerte zu stellen. Wir haben innerhalb weniger Stunden und Tage umgelernt von Grund aus. Ein instinktiver Gefühlsdrang war es, der uns zwang, hinauszujubeln, als der stammverwandte Verbündete dem Slawentum die gepanzerte Faust entgegenstreckte, obgleich oder gerade weil wir klar im Bewußtsein hatten, daß auch unser eigenes Wohl davon aufs innigste berührt wurde. Jetzt ist aber die nüchterne Überlegung nachgefolgt, nach jedeni einzelnen von uns streckt jetzt die unabwendbare Notwendigkeit die Faust aus, jeder von uns steht jetzt vor der Aufgabe, sein ganzes Ich unterzuordnen unter ein ganz Neues. Unerhörtes, Großes, an das man sonst wohl gedacht, das man aber nie als wirklich gedacht hat. Unser ganzes Ich wird herausgerissen aus dem gewohnten Kreis von Wertungen, was gestern höchstes Gut. das eigene Wohl, die eigene Zukunft, das Wohl, die Zukunft der Familie und der Angehörigen, das wirtschaftliche Interesse, das kulturelle Interesse, es erscheint uns alles in einer Re¬ lativität, die uns in Erstaunen und Verwirrung setzt. Uns fehlen im Augenblicke die Maßstäbe zur Einschätzung dessen, was mit uns geschieht, uns fehlen die anschaulichen Vorstellungen, um >us klar zu machen, was geschehen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/257>, abgerufen am 27.07.2024.