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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

das Bestreben, die Organisation zu vereinheitlichen, der Idee vom Staat gemäß
straff zusammenzuspannen, zentralistisch zu gestalten.

Im politischen und wirtschaftlichen Leben der Nation hat dieser Grundsatz
zur Ausschaltung aller eigenen Initiative in den konzentrischen Kreisen des
Landes geführt. Soweit der Staat Einfluß auf das geistige Leben hat, ist er
auch hier zur Vereinfachung und Gleichmacherei, die die Persönlichkeit zu ver¬
nichten droht, geschritten. Nicht nur, daß Museen und Bildungsanstalten in
Paris konzentriert sind, daß die Sorbonne die am besten ausgestattete Uni¬
versität Frankreichs ist. daß einzig und allein Pariser Theater subventioniert
werden; er dringt mit seiner Methode viel tiefer. So hat z. B. die Schule,
nach der Auffassung der offiziellen Pädagogik, naturgemäß die Aufgabe, brauch¬
bare Staatsbürger heranzuziehen. Auf welche Weise aber dieses Ziel erstrebt
zu werden pflegt und wie das Ergebnis letzteren Endes aussieht, hat Maurice
Barros in seinem Roman "I^es vöracinös" erzählt. Er gibt uns darin die
psychische Analyse einer lothringischen Prima. Die Jungen erscheinen nicht
mehr verwachsen mit dem Lande, mit ihrer Familie (InternatI), der Geschichte
ihrer Rasse; sie sind gebildet und geformt von dem staatlichen Institut der
Schule, die "zu allen Zeiten die Aufgabe hatte, die bestehende Ordnung, d. h.
den Staat der gleichmachenden Verwaltung, zu ehren". Sie werden von einem
gewissen Bouteiller unterrichtet, der "ein Kantianer und eine Persönlichkeit,
ihnen die Ergebung in den Nutzen der Allgemeinheit predigt, die Notwendigkeit,
sich als Werkzeug des Staates zu betrachten". Er selbst, frühzeitig seinem
Lebenskreis, seinem engeren Vaterlande entzogen, fühlt sich als Sohn "der
ganzen Menschheit, der Vernunft". Er trägt kein Bedenken, die Knaben von
ihrem Boden, ihrer gesellschaftlichen Schicht loszulösen, um sie unter die Herr-
schüft der abstrakten Vernunft zu stellen. Er unterrichtet nach einem festen, end¬
gültig ausgearbeiteten System, "in Unkenntnis der Rechte der Persönlichkeit,
des mannigfaltigen und wenig gleichartigen Lebens". Er sieht in seinen Schülern
nur für die Gesellschaft ausnutzbare Werte und keine entwicklungsfähige Einzel¬
wesen. Zu Menschheitsbürgern taugen aber nur wenige Auserwählte, meint
Barrss dazu; die Mehrzahl brauche eine Stütze in der Rasse und Heimat. So
sendet Bouteiller Kräfte in die Welt hinaus, denen er einen Antrieb ohne Halt
gibt. Nur einige von ihnen spüren noch die Schwingungen einer .,Grenz¬
seele", das lebendige Gesetz der Umgebung in ihrer Brust. Sie gehen alle nach
Paris; denn nur als Pariser können sie etwas in der Heimat gelten. Hier
werden sie nach dem jesuitischen Ausdruck "Kadaver"; sie verlieren ihre pro¬
vinzielle Individualität. Sie versinken im Studeutenproletariat, werden zu Ver¬
brechern, zu journalistischen Abenteurern, oder gehen als Teile elementarer
Kräfte des Landes unter.

Auch die Individualitäten unter den Studenten drängt der Staat in die
offizielle Bahn. Er schreibt allen Universitäten den Stoff vor, den sie im Laufe
des Schuljahres zu verarbeiten haben; er gibt allen französischen Examinanden


Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

das Bestreben, die Organisation zu vereinheitlichen, der Idee vom Staat gemäß
straff zusammenzuspannen, zentralistisch zu gestalten.

Im politischen und wirtschaftlichen Leben der Nation hat dieser Grundsatz
zur Ausschaltung aller eigenen Initiative in den konzentrischen Kreisen des
Landes geführt. Soweit der Staat Einfluß auf das geistige Leben hat, ist er
auch hier zur Vereinfachung und Gleichmacherei, die die Persönlichkeit zu ver¬
nichten droht, geschritten. Nicht nur, daß Museen und Bildungsanstalten in
Paris konzentriert sind, daß die Sorbonne die am besten ausgestattete Uni¬
versität Frankreichs ist. daß einzig und allein Pariser Theater subventioniert
werden; er dringt mit seiner Methode viel tiefer. So hat z. B. die Schule,
nach der Auffassung der offiziellen Pädagogik, naturgemäß die Aufgabe, brauch¬
bare Staatsbürger heranzuziehen. Auf welche Weise aber dieses Ziel erstrebt
zu werden pflegt und wie das Ergebnis letzteren Endes aussieht, hat Maurice
Barros in seinem Roman „I^es vöracinös" erzählt. Er gibt uns darin die
psychische Analyse einer lothringischen Prima. Die Jungen erscheinen nicht
mehr verwachsen mit dem Lande, mit ihrer Familie (InternatI), der Geschichte
ihrer Rasse; sie sind gebildet und geformt von dem staatlichen Institut der
Schule, die „zu allen Zeiten die Aufgabe hatte, die bestehende Ordnung, d. h.
den Staat der gleichmachenden Verwaltung, zu ehren". Sie werden von einem
gewissen Bouteiller unterrichtet, der „ein Kantianer und eine Persönlichkeit,
ihnen die Ergebung in den Nutzen der Allgemeinheit predigt, die Notwendigkeit,
sich als Werkzeug des Staates zu betrachten". Er selbst, frühzeitig seinem
Lebenskreis, seinem engeren Vaterlande entzogen, fühlt sich als Sohn „der
ganzen Menschheit, der Vernunft". Er trägt kein Bedenken, die Knaben von
ihrem Boden, ihrer gesellschaftlichen Schicht loszulösen, um sie unter die Herr-
schüft der abstrakten Vernunft zu stellen. Er unterrichtet nach einem festen, end¬
gültig ausgearbeiteten System, „in Unkenntnis der Rechte der Persönlichkeit,
des mannigfaltigen und wenig gleichartigen Lebens". Er sieht in seinen Schülern
nur für die Gesellschaft ausnutzbare Werte und keine entwicklungsfähige Einzel¬
wesen. Zu Menschheitsbürgern taugen aber nur wenige Auserwählte, meint
Barrss dazu; die Mehrzahl brauche eine Stütze in der Rasse und Heimat. So
sendet Bouteiller Kräfte in die Welt hinaus, denen er einen Antrieb ohne Halt
gibt. Nur einige von ihnen spüren noch die Schwingungen einer .,Grenz¬
seele", das lebendige Gesetz der Umgebung in ihrer Brust. Sie gehen alle nach
Paris; denn nur als Pariser können sie etwas in der Heimat gelten. Hier
werden sie nach dem jesuitischen Ausdruck „Kadaver"; sie verlieren ihre pro¬
vinzielle Individualität. Sie versinken im Studeutenproletariat, werden zu Ver¬
brechern, zu journalistischen Abenteurern, oder gehen als Teile elementarer
Kräfte des Landes unter.

Auch die Individualitäten unter den Studenten drängt der Staat in die
offizielle Bahn. Er schreibt allen Universitäten den Stoff vor, den sie im Laufe
des Schuljahres zu verarbeiten haben; er gibt allen französischen Examinanden


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[0025] Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris das Bestreben, die Organisation zu vereinheitlichen, der Idee vom Staat gemäß straff zusammenzuspannen, zentralistisch zu gestalten. Im politischen und wirtschaftlichen Leben der Nation hat dieser Grundsatz zur Ausschaltung aller eigenen Initiative in den konzentrischen Kreisen des Landes geführt. Soweit der Staat Einfluß auf das geistige Leben hat, ist er auch hier zur Vereinfachung und Gleichmacherei, die die Persönlichkeit zu ver¬ nichten droht, geschritten. Nicht nur, daß Museen und Bildungsanstalten in Paris konzentriert sind, daß die Sorbonne die am besten ausgestattete Uni¬ versität Frankreichs ist. daß einzig und allein Pariser Theater subventioniert werden; er dringt mit seiner Methode viel tiefer. So hat z. B. die Schule, nach der Auffassung der offiziellen Pädagogik, naturgemäß die Aufgabe, brauch¬ bare Staatsbürger heranzuziehen. Auf welche Weise aber dieses Ziel erstrebt zu werden pflegt und wie das Ergebnis letzteren Endes aussieht, hat Maurice Barros in seinem Roman „I^es vöracinös" erzählt. Er gibt uns darin die psychische Analyse einer lothringischen Prima. Die Jungen erscheinen nicht mehr verwachsen mit dem Lande, mit ihrer Familie (InternatI), der Geschichte ihrer Rasse; sie sind gebildet und geformt von dem staatlichen Institut der Schule, die „zu allen Zeiten die Aufgabe hatte, die bestehende Ordnung, d. h. den Staat der gleichmachenden Verwaltung, zu ehren". Sie werden von einem gewissen Bouteiller unterrichtet, der „ein Kantianer und eine Persönlichkeit, ihnen die Ergebung in den Nutzen der Allgemeinheit predigt, die Notwendigkeit, sich als Werkzeug des Staates zu betrachten". Er selbst, frühzeitig seinem Lebenskreis, seinem engeren Vaterlande entzogen, fühlt sich als Sohn „der ganzen Menschheit, der Vernunft". Er trägt kein Bedenken, die Knaben von ihrem Boden, ihrer gesellschaftlichen Schicht loszulösen, um sie unter die Herr- schüft der abstrakten Vernunft zu stellen. Er unterrichtet nach einem festen, end¬ gültig ausgearbeiteten System, „in Unkenntnis der Rechte der Persönlichkeit, des mannigfaltigen und wenig gleichartigen Lebens". Er sieht in seinen Schülern nur für die Gesellschaft ausnutzbare Werte und keine entwicklungsfähige Einzel¬ wesen. Zu Menschheitsbürgern taugen aber nur wenige Auserwählte, meint Barrss dazu; die Mehrzahl brauche eine Stütze in der Rasse und Heimat. So sendet Bouteiller Kräfte in die Welt hinaus, denen er einen Antrieb ohne Halt gibt. Nur einige von ihnen spüren noch die Schwingungen einer .,Grenz¬ seele", das lebendige Gesetz der Umgebung in ihrer Brust. Sie gehen alle nach Paris; denn nur als Pariser können sie etwas in der Heimat gelten. Hier werden sie nach dem jesuitischen Ausdruck „Kadaver"; sie verlieren ihre pro¬ vinzielle Individualität. Sie versinken im Studeutenproletariat, werden zu Ver¬ brechern, zu journalistischen Abenteurern, oder gehen als Teile elementarer Kräfte des Landes unter. Auch die Individualitäten unter den Studenten drängt der Staat in die offizielle Bahn. Er schreibt allen Universitäten den Stoff vor, den sie im Laufe des Schuljahres zu verarbeiten haben; er gibt allen französischen Examinanden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/25>, abgerufen am 01.09.2024.