Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

das Vaterland in Gefahr bringen wollte. Sie behaupteten, der Negionalismus
zerstöre den Patriotismus, das Gefühl der Zusammengehörigkeit (lies: die
Machtstellung ihrer Partei im Staate). Es ist doch leicht einzusehen, daß gerade
die Liebe zur Scholle, zur engeren Heimat, I'amour an clocker. den Patriotismus
großzieht; es ist leichter, sein Baterland zu lieben, wenn man es als die Er¬
weiterung seiner gewohnten Umgebung ansieht, als wenn es einem in der ab¬
strakten Staatsidee entgegentritt. Nach dem Ausspruch von Paul Deschanel
find es dagegen die oppositionellen Parteien, die der Dezentralisation anhangen.
Es ist kein Wunder, daß Charles Maurras. des Führer der Neuronalisten,
gleichzeitig einer der Hauptvertreter der Regionalismus ist. Bei ihm kommt
außerdem der Haß gegen das Verwaltungswerk der Revolution hinzu. Von
dem Parlament wird man also nicht die Vertretung der berechtigten Interessen
der Provinz erwarten können, solange die nationale Politik hinter der Partei¬
politik zurückstehen muß.

Da die staatliche Initiative ans politischen Gründen noch zu versagen scheint,
müssen die Landschaften ihre Sache selbst in die Hand nehmen, Erfahrungen
sammeln und austauschen. Versuche anstellen und schließlich die praktischste Ein¬
teilung vornehmen. Das Parlament hätte in diesem Falle die Entscheidungen
nur zu bestätigen. Als Basis werden die vierzehn Jnteressenbezirke der ver¬
einigten landwirtschaftlichen Verbünde (Unions cle8 Z^nelicats sMiLoIeV), die
Verteilung der Armeekorps usw. vorgeschlagen. Gleichzeitig müßten die Befug¬
nisse und das Ansehen der Provinzialbehörden erhöht, im besonderen die Selb¬
ständigkeit der Landschaften so verstärkt werden, daß sie ihre Finanzverhältnisse
selbst regeln könnten. Das könnte natürlich auch nur wieder auf dem Wege
der Gesetzgebung geschehen; Voraussetzung dabei ist, daß die dann praktisch
bereits zur Tatsache gewordene Selbständigkeit die Regierung zwingt, bestehende
Zustände gesetzlich anzuerkennen. Nach der Durchführung der Dezentralisation
würden auch die Abgeordnetenwahlen eine ganz neue nationale Bedeutung
gewinnen und Teile der Bürgerschaft zur öffentlichen Arbeit anregen, die bei dem
jetzigen Verfahren gleichgültig beiseite stehen. Jetzt sind mit der Wahrnehmung
der Lokalinteressen vielfach die Deputierten beauftragt, die dadurch den großen
allgemeinen Fragen entzogen werden. Besitzt aber erst jede Landschaft einen
geeigneten Vertreter, der über Vollmacht und gesetzlichen Einfluß genug verfügt,
um den Bedürfnissen seiner Provinz zu seinem Rechte zu verhelfen, so könnte die
Wahl der Abgeordneten von einem höheren Standpunkt aus vorgenommen
werden, zu einer politischen Erziehung der vernachlässigten Provinzler führen
und ihren Blick für große nationale Fragen schärfen.

Die Theoretiker eilen ihrer Zeit weit voraus. Aber es ist nicht zu ver-
kennen, daß eine mehr oder minder bewußte, mehr oder weniger praktische
Entwicklung den gezeichneten Weg einzuschlagen beginnt. Ich erwähnte bereits
die landwirtschaftlichen Verbände. Dann bemüht sich der Touring-Club frau?ais
auf die Schönheiten der Provinz aufmerksam zu machen und in einige Land-


Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

das Vaterland in Gefahr bringen wollte. Sie behaupteten, der Negionalismus
zerstöre den Patriotismus, das Gefühl der Zusammengehörigkeit (lies: die
Machtstellung ihrer Partei im Staate). Es ist doch leicht einzusehen, daß gerade
die Liebe zur Scholle, zur engeren Heimat, I'amour an clocker. den Patriotismus
großzieht; es ist leichter, sein Baterland zu lieben, wenn man es als die Er¬
weiterung seiner gewohnten Umgebung ansieht, als wenn es einem in der ab¬
strakten Staatsidee entgegentritt. Nach dem Ausspruch von Paul Deschanel
find es dagegen die oppositionellen Parteien, die der Dezentralisation anhangen.
Es ist kein Wunder, daß Charles Maurras. des Führer der Neuronalisten,
gleichzeitig einer der Hauptvertreter der Regionalismus ist. Bei ihm kommt
außerdem der Haß gegen das Verwaltungswerk der Revolution hinzu. Von
dem Parlament wird man also nicht die Vertretung der berechtigten Interessen
der Provinz erwarten können, solange die nationale Politik hinter der Partei¬
politik zurückstehen muß.

Da die staatliche Initiative ans politischen Gründen noch zu versagen scheint,
müssen die Landschaften ihre Sache selbst in die Hand nehmen, Erfahrungen
sammeln und austauschen. Versuche anstellen und schließlich die praktischste Ein¬
teilung vornehmen. Das Parlament hätte in diesem Falle die Entscheidungen
nur zu bestätigen. Als Basis werden die vierzehn Jnteressenbezirke der ver¬
einigten landwirtschaftlichen Verbünde (Unions cle8 Z^nelicats sMiLoIeV), die
Verteilung der Armeekorps usw. vorgeschlagen. Gleichzeitig müßten die Befug¬
nisse und das Ansehen der Provinzialbehörden erhöht, im besonderen die Selb¬
ständigkeit der Landschaften so verstärkt werden, daß sie ihre Finanzverhältnisse
selbst regeln könnten. Das könnte natürlich auch nur wieder auf dem Wege
der Gesetzgebung geschehen; Voraussetzung dabei ist, daß die dann praktisch
bereits zur Tatsache gewordene Selbständigkeit die Regierung zwingt, bestehende
Zustände gesetzlich anzuerkennen. Nach der Durchführung der Dezentralisation
würden auch die Abgeordnetenwahlen eine ganz neue nationale Bedeutung
gewinnen und Teile der Bürgerschaft zur öffentlichen Arbeit anregen, die bei dem
jetzigen Verfahren gleichgültig beiseite stehen. Jetzt sind mit der Wahrnehmung
der Lokalinteressen vielfach die Deputierten beauftragt, die dadurch den großen
allgemeinen Fragen entzogen werden. Besitzt aber erst jede Landschaft einen
geeigneten Vertreter, der über Vollmacht und gesetzlichen Einfluß genug verfügt,
um den Bedürfnissen seiner Provinz zu seinem Rechte zu verhelfen, so könnte die
Wahl der Abgeordneten von einem höheren Standpunkt aus vorgenommen
werden, zu einer politischen Erziehung der vernachlässigten Provinzler führen
und ihren Blick für große nationale Fragen schärfen.

Die Theoretiker eilen ihrer Zeit weit voraus. Aber es ist nicht zu ver-
kennen, daß eine mehr oder minder bewußte, mehr oder weniger praktische
Entwicklung den gezeichneten Weg einzuschlagen beginnt. Ich erwähnte bereits
die landwirtschaftlichen Verbände. Dann bemüht sich der Touring-Club frau?ais
auf die Schönheiten der Provinz aufmerksam zu machen und in einige Land-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0023" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328757"/>
            <fw type="header" place="top"> Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_29" prev="#ID_28"> das Vaterland in Gefahr bringen wollte. Sie behaupteten, der Negionalismus<lb/>
zerstöre den Patriotismus, das Gefühl der Zusammengehörigkeit (lies: die<lb/>
Machtstellung ihrer Partei im Staate). Es ist doch leicht einzusehen, daß gerade<lb/>
die Liebe zur Scholle, zur engeren Heimat, I'amour an clocker. den Patriotismus<lb/>
großzieht; es ist leichter, sein Baterland zu lieben, wenn man es als die Er¬<lb/>
weiterung seiner gewohnten Umgebung ansieht, als wenn es einem in der ab¬<lb/>
strakten Staatsidee entgegentritt. Nach dem Ausspruch von Paul Deschanel<lb/>
find es dagegen die oppositionellen Parteien, die der Dezentralisation anhangen.<lb/>
Es ist kein Wunder, daß Charles Maurras. des Führer der Neuronalisten,<lb/>
gleichzeitig einer der Hauptvertreter der Regionalismus ist. Bei ihm kommt<lb/>
außerdem der Haß gegen das Verwaltungswerk der Revolution hinzu. Von<lb/>
dem Parlament wird man also nicht die Vertretung der berechtigten Interessen<lb/>
der Provinz erwarten können, solange die nationale Politik hinter der Partei¬<lb/>
politik zurückstehen muß.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_30"> Da die staatliche Initiative ans politischen Gründen noch zu versagen scheint,<lb/>
müssen die Landschaften ihre Sache selbst in die Hand nehmen, Erfahrungen<lb/>
sammeln und austauschen. Versuche anstellen und schließlich die praktischste Ein¬<lb/>
teilung vornehmen. Das Parlament hätte in diesem Falle die Entscheidungen<lb/>
nur zu bestätigen. Als Basis werden die vierzehn Jnteressenbezirke der ver¬<lb/>
einigten landwirtschaftlichen Verbünde (Unions cle8 Z^nelicats sMiLoIeV), die<lb/>
Verteilung der Armeekorps usw. vorgeschlagen. Gleichzeitig müßten die Befug¬<lb/>
nisse und das Ansehen der Provinzialbehörden erhöht, im besonderen die Selb¬<lb/>
ständigkeit der Landschaften so verstärkt werden, daß sie ihre Finanzverhältnisse<lb/>
selbst regeln könnten. Das könnte natürlich auch nur wieder auf dem Wege<lb/>
der Gesetzgebung geschehen; Voraussetzung dabei ist, daß die dann praktisch<lb/>
bereits zur Tatsache gewordene Selbständigkeit die Regierung zwingt, bestehende<lb/>
Zustände gesetzlich anzuerkennen. Nach der Durchführung der Dezentralisation<lb/>
würden auch die Abgeordnetenwahlen eine ganz neue nationale Bedeutung<lb/>
gewinnen und Teile der Bürgerschaft zur öffentlichen Arbeit anregen, die bei dem<lb/>
jetzigen Verfahren gleichgültig beiseite stehen. Jetzt sind mit der Wahrnehmung<lb/>
der Lokalinteressen vielfach die Deputierten beauftragt, die dadurch den großen<lb/>
allgemeinen Fragen entzogen werden. Besitzt aber erst jede Landschaft einen<lb/>
geeigneten Vertreter, der über Vollmacht und gesetzlichen Einfluß genug verfügt,<lb/>
um den Bedürfnissen seiner Provinz zu seinem Rechte zu verhelfen, so könnte die<lb/>
Wahl der Abgeordneten von einem höheren Standpunkt aus vorgenommen<lb/>
werden, zu einer politischen Erziehung der vernachlässigten Provinzler führen<lb/>
und ihren Blick für große nationale Fragen schärfen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_31" next="#ID_32"> Die Theoretiker eilen ihrer Zeit weit voraus. Aber es ist nicht zu ver-<lb/>
kennen, daß eine mehr oder minder bewußte, mehr oder weniger praktische<lb/>
Entwicklung den gezeichneten Weg einzuschlagen beginnt. Ich erwähnte bereits<lb/>
die landwirtschaftlichen Verbände. Dann bemüht sich der Touring-Club frau?ais<lb/>
auf die Schönheiten der Provinz aufmerksam zu machen und in einige Land-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0023] Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris das Vaterland in Gefahr bringen wollte. Sie behaupteten, der Negionalismus zerstöre den Patriotismus, das Gefühl der Zusammengehörigkeit (lies: die Machtstellung ihrer Partei im Staate). Es ist doch leicht einzusehen, daß gerade die Liebe zur Scholle, zur engeren Heimat, I'amour an clocker. den Patriotismus großzieht; es ist leichter, sein Baterland zu lieben, wenn man es als die Er¬ weiterung seiner gewohnten Umgebung ansieht, als wenn es einem in der ab¬ strakten Staatsidee entgegentritt. Nach dem Ausspruch von Paul Deschanel find es dagegen die oppositionellen Parteien, die der Dezentralisation anhangen. Es ist kein Wunder, daß Charles Maurras. des Führer der Neuronalisten, gleichzeitig einer der Hauptvertreter der Regionalismus ist. Bei ihm kommt außerdem der Haß gegen das Verwaltungswerk der Revolution hinzu. Von dem Parlament wird man also nicht die Vertretung der berechtigten Interessen der Provinz erwarten können, solange die nationale Politik hinter der Partei¬ politik zurückstehen muß. Da die staatliche Initiative ans politischen Gründen noch zu versagen scheint, müssen die Landschaften ihre Sache selbst in die Hand nehmen, Erfahrungen sammeln und austauschen. Versuche anstellen und schließlich die praktischste Ein¬ teilung vornehmen. Das Parlament hätte in diesem Falle die Entscheidungen nur zu bestätigen. Als Basis werden die vierzehn Jnteressenbezirke der ver¬ einigten landwirtschaftlichen Verbünde (Unions cle8 Z^nelicats sMiLoIeV), die Verteilung der Armeekorps usw. vorgeschlagen. Gleichzeitig müßten die Befug¬ nisse und das Ansehen der Provinzialbehörden erhöht, im besonderen die Selb¬ ständigkeit der Landschaften so verstärkt werden, daß sie ihre Finanzverhältnisse selbst regeln könnten. Das könnte natürlich auch nur wieder auf dem Wege der Gesetzgebung geschehen; Voraussetzung dabei ist, daß die dann praktisch bereits zur Tatsache gewordene Selbständigkeit die Regierung zwingt, bestehende Zustände gesetzlich anzuerkennen. Nach der Durchführung der Dezentralisation würden auch die Abgeordnetenwahlen eine ganz neue nationale Bedeutung gewinnen und Teile der Bürgerschaft zur öffentlichen Arbeit anregen, die bei dem jetzigen Verfahren gleichgültig beiseite stehen. Jetzt sind mit der Wahrnehmung der Lokalinteressen vielfach die Deputierten beauftragt, die dadurch den großen allgemeinen Fragen entzogen werden. Besitzt aber erst jede Landschaft einen geeigneten Vertreter, der über Vollmacht und gesetzlichen Einfluß genug verfügt, um den Bedürfnissen seiner Provinz zu seinem Rechte zu verhelfen, so könnte die Wahl der Abgeordneten von einem höheren Standpunkt aus vorgenommen werden, zu einer politischen Erziehung der vernachlässigten Provinzler führen und ihren Blick für große nationale Fragen schärfen. Die Theoretiker eilen ihrer Zeit weit voraus. Aber es ist nicht zu ver- kennen, daß eine mehr oder minder bewußte, mehr oder weniger praktische Entwicklung den gezeichneten Weg einzuschlagen beginnt. Ich erwähnte bereits die landwirtschaftlichen Verbände. Dann bemüht sich der Touring-Club frau?ais auf die Schönheiten der Provinz aufmerksam zu machen und in einige Land-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/23
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/23>, abgerufen am 27.07.2024.