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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs Provinzen im Aampf gegen Paris

lichen Föderalismus wittert, den man nur durch Staatsdespotismus abwenden
zu können glaubt. Das Abhängigkeitsverhältnis der Provinz tritt am krassesten
bei dem natürlichsten Selbstverwaltungskörper, der Kommune, in Erscheinung.
In Deutschland ist der Gemeindevorsteher das "Organ des Landrath für die
Polizeiverwaltung", d. h. er hat rechtlich nur dessen polizeiliche Verfügungen in
der Gemeinde weiterzugehen. Der maire dagegen ist nicht nur Vertreter der
Gemeinde, an den sich die Regierung zwecks Ausführung ihrer Erlasse wendet,
sondern er ist selbst Regierungsbeamter, Glied des zentralistischen Bureau¬
kratismus und von dessen Spitzen abhängig. Und daß die Regierung ihre
Machtmittel benutzt und wirklich eingreift, das zeigen Hunderte von Beispielen:
das Verbot der Errichtung einer städtischen Apotheke in Roubatx durch den
Staatsrat, der Beschluß des Senats gegen die Verstaatlichung des Pariser
Wasserwerks usw.

Gewiß ist die politische Einheit die Daseinsbedingung für jeden Staat;
das Gefühl der Zusammengehörigkeit muß in einer gleichmäßigen politischen
Ordnung und Verwaltung zum Ausdruck kommen. Das Deutschland des
siebzehnten, achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhunderts hat den
Mangel an politischer Größe und Stoßkraft sicherlich seiner Abneigung gegen
die Idee einer uneigennützigen, nationalen Gemeinschaft zu verdanken. Sicher¬
lich kommt auch der nach klarer, systematischer Ordnung strebende Sinn des
Franzosen der zentralistischen Tendenz entgegen, und niemals hat es in Frank¬
reich an Männern gefehlt, die in diesem System die höchste politische Weisheit
sahen. Gleichwohl bleibt auch für Frankreich die Tatsache bestehen, daß jede
Provinz, jede "Landschaft" infolge gemeinsamer Sprache, Nasse, Geschichte, ge¬
ographischer Lage eigene Interessen, Gewohnheiten, Anschauungen, geistiges und
seelisches Leben besitzt. Diese Verschiedenheiten müssen berücksichtigt werden,
wenn alle Kräfte der Nation ausgenutzt werden sollen. Die gleichmäßige Ver¬
waltung darf nicht in formalistische Gleichmacherei ausarten, sondern nur auf
ein Zusammenfassen, ein Sammeln verschiedenartiger Kräfte zu einem gemein¬
samen Ziel hinstreben.'

Die Zentralisation, d. h. die unnatürliche und ungerechte Überspannung
des Begriffes der Staatseinheit, hat im Verlaufe ihrer Herrschaft eine Anzahl
von Mißbräuchen und Hemmnissen verursacht, gegen die sich die bewußte Pro¬
vinz aufzulehnen beginnt. Man wirft der zentralistischen Gewalt vor: sie
begünstigt Revolutionen und Staatsstreiche -- denn die Provinz, gewöhnt, den
Blick starr auf Paris zu richten, ergibt sich jedem, der Paris in der Hand hat;
sie lähmt die Landesverteidigung, wenn der Feind bereits im Zentrum sitzt;
sie hemmt die private und lokale Initiative -- denn der Staat, d. h. die Pariser
Verwaltungsbehörde, hat den Unternehmungsgeist für sich gepachtet; sie erstickt
die Urteilsfähigkeit durch die hauptstädtische Presse -- denn, wo die Behörden
sitzen, wird doch wohl die richtige Meinung zu finden sein; sie überstrahlt die
Heimatkultur durch den Glanz, den sie dem literarischen und künstlerischen Leben


Frankreichs Provinzen im Aampf gegen Paris

lichen Föderalismus wittert, den man nur durch Staatsdespotismus abwenden
zu können glaubt. Das Abhängigkeitsverhältnis der Provinz tritt am krassesten
bei dem natürlichsten Selbstverwaltungskörper, der Kommune, in Erscheinung.
In Deutschland ist der Gemeindevorsteher das „Organ des Landrath für die
Polizeiverwaltung", d. h. er hat rechtlich nur dessen polizeiliche Verfügungen in
der Gemeinde weiterzugehen. Der maire dagegen ist nicht nur Vertreter der
Gemeinde, an den sich die Regierung zwecks Ausführung ihrer Erlasse wendet,
sondern er ist selbst Regierungsbeamter, Glied des zentralistischen Bureau¬
kratismus und von dessen Spitzen abhängig. Und daß die Regierung ihre
Machtmittel benutzt und wirklich eingreift, das zeigen Hunderte von Beispielen:
das Verbot der Errichtung einer städtischen Apotheke in Roubatx durch den
Staatsrat, der Beschluß des Senats gegen die Verstaatlichung des Pariser
Wasserwerks usw.

Gewiß ist die politische Einheit die Daseinsbedingung für jeden Staat;
das Gefühl der Zusammengehörigkeit muß in einer gleichmäßigen politischen
Ordnung und Verwaltung zum Ausdruck kommen. Das Deutschland des
siebzehnten, achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhunderts hat den
Mangel an politischer Größe und Stoßkraft sicherlich seiner Abneigung gegen
die Idee einer uneigennützigen, nationalen Gemeinschaft zu verdanken. Sicher¬
lich kommt auch der nach klarer, systematischer Ordnung strebende Sinn des
Franzosen der zentralistischen Tendenz entgegen, und niemals hat es in Frank¬
reich an Männern gefehlt, die in diesem System die höchste politische Weisheit
sahen. Gleichwohl bleibt auch für Frankreich die Tatsache bestehen, daß jede
Provinz, jede „Landschaft" infolge gemeinsamer Sprache, Nasse, Geschichte, ge¬
ographischer Lage eigene Interessen, Gewohnheiten, Anschauungen, geistiges und
seelisches Leben besitzt. Diese Verschiedenheiten müssen berücksichtigt werden,
wenn alle Kräfte der Nation ausgenutzt werden sollen. Die gleichmäßige Ver¬
waltung darf nicht in formalistische Gleichmacherei ausarten, sondern nur auf
ein Zusammenfassen, ein Sammeln verschiedenartiger Kräfte zu einem gemein¬
samen Ziel hinstreben.'

Die Zentralisation, d. h. die unnatürliche und ungerechte Überspannung
des Begriffes der Staatseinheit, hat im Verlaufe ihrer Herrschaft eine Anzahl
von Mißbräuchen und Hemmnissen verursacht, gegen die sich die bewußte Pro¬
vinz aufzulehnen beginnt. Man wirft der zentralistischen Gewalt vor: sie
begünstigt Revolutionen und Staatsstreiche — denn die Provinz, gewöhnt, den
Blick starr auf Paris zu richten, ergibt sich jedem, der Paris in der Hand hat;
sie lähmt die Landesverteidigung, wenn der Feind bereits im Zentrum sitzt;
sie hemmt die private und lokale Initiative — denn der Staat, d. h. die Pariser
Verwaltungsbehörde, hat den Unternehmungsgeist für sich gepachtet; sie erstickt
die Urteilsfähigkeit durch die hauptstädtische Presse — denn, wo die Behörden
sitzen, wird doch wohl die richtige Meinung zu finden sein; sie überstrahlt die
Heimatkultur durch den Glanz, den sie dem literarischen und künstlerischen Leben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/20>, abgerufen am 01.09.2024.