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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Herbert George Wells

muß darin bestehen, daß die Gemeinde ohne Gewalttat und ohne Aufschub nach
und nach ordnungsgemäß allen Grundbesitz zurücknimmt, daß Verkehrswesen,
Nahrungsausteilung nebst allen allgemeinen menschlichen Bedürfnissen ihr ob¬
liegen, gleichzeitig auch die Erziehung der heranwachsenden Generation, soweit
sich die Eltern hierzu untauglich erweisen." Wells denkt an einen langsamen,
organischen Übergang, durch den sich der durch unlauteren Wettbewerb zur
Herrschaft gekommene "Geist der Gewinnsucht" (8pirit ok Min) in den "Geist
der Dienstwilligkeit" (Spint ok service) umwandeln soll. Jegliche Gedanken
des jähen Umsturzes, die sich in der bei uns herrschenden Richtung unwill¬
kürlich mit dem Begriff Sozialismus verbinden, lehnt Wells aufs entschiedenste
ab; er bringt auch eine scharfe Kritik der Theorien Marx' und Bebels, denen
er dauernde Lebensfähigkeit abspricht. Das Dogma des Klassenkampfes und
alles, was damit zusammenhängt, verlegt den Schwerpunkt seines Wirkens zu
sehr auf das destruktive Element. Es hat keine klaren aufbauenden Prinzipien,
die ihm die rechte Stoßkraft geben könnten. Dennoch kann man sich der Wahr¬
nehmung nicht verschließen, daß trotz der betonten Milde das neue Regierungs¬
system ohne Zwangsmaßregeln nicht wird bestehen können. Dieser Zwang wird
hauptsächlich diejenigen treffen, die, in der Starrheit eigensüchtiger Zwecke ver¬
schlossen, das Grundprinzip "einer sür alle" nicht annehmen wollen. Denn
dieses ist Fundament und Krone des Wellsschen Staatsgebäudes.

Um seiner Entstehung bis in die Wurzeln nachzugehen, dürfen wir nicht
in neueren oder älteren sozialistischen Systemen nachforschen. Vielmehr gibt
darüber ein späteres Buch Wells' Aufschluß -- eine Zusammenstellung seines
philosophischen, sozialen und religiösen Glaubensbekenntnisses, das er "t^irst
Alla I^äst l'dlliM" genannt hat. Dort findet sich die Vertiefung des vorher
charakterisierten Gedankens des wirkenden guten Willens in der Annahme eines
"collective mira c>5 mariana", eines Menschheitsgeistes, dessen Analogie wir
verstreut da und dort begegnen, ich erinnere nur an die vergessene Philosophie
Gustav Theodor Fechners. Solche Analogien dürfen uns hier nicht kümmern,
weil die Synthesis von Wells' Gesamtwert deutlich zeigt, daß er diesen
Gesichtspunkt zur Betrachtung und Wertung der Menschheitsgeschicke selbst ge¬
funden hat:

"Die wesentliche Tatsache in der Geschichte des Menschen ist das langsame
Entfalten eines Bewußtseins der Gemeinschaft mit seinesgleichen, der Möglich¬
keiten eines Zusammenwirkens, die zu kaum geahnter Kollektivkrast führt. Es
zeigt sich so das werdende Verständnis sür eine Snnthesis der Gattung, für
einen allgemeinen Zweckgedanken, der sich aus der gegenwärtigen Verwirrung
heraushebt. In diesem Erwachen der Gattung lebt und webt unser persön¬
liches Dasein -- ein Teil davon, der unaufhörlich dazu beisteuert. Unser in¬
dividuelles Sein ist nicht so ganz in sich verschlossen, wie es den Anschein hat.
Zwischen dir und mir, die wir unser Denken verschmelzen, sowie zwischen uns
und dem Rest der Menschheit ist ein Etwas, ein Wirkliches, das sich durch uns


Herbert George Wells

muß darin bestehen, daß die Gemeinde ohne Gewalttat und ohne Aufschub nach
und nach ordnungsgemäß allen Grundbesitz zurücknimmt, daß Verkehrswesen,
Nahrungsausteilung nebst allen allgemeinen menschlichen Bedürfnissen ihr ob¬
liegen, gleichzeitig auch die Erziehung der heranwachsenden Generation, soweit
sich die Eltern hierzu untauglich erweisen." Wells denkt an einen langsamen,
organischen Übergang, durch den sich der durch unlauteren Wettbewerb zur
Herrschaft gekommene „Geist der Gewinnsucht" (8pirit ok Min) in den „Geist
der Dienstwilligkeit" (Spint ok service) umwandeln soll. Jegliche Gedanken
des jähen Umsturzes, die sich in der bei uns herrschenden Richtung unwill¬
kürlich mit dem Begriff Sozialismus verbinden, lehnt Wells aufs entschiedenste
ab; er bringt auch eine scharfe Kritik der Theorien Marx' und Bebels, denen
er dauernde Lebensfähigkeit abspricht. Das Dogma des Klassenkampfes und
alles, was damit zusammenhängt, verlegt den Schwerpunkt seines Wirkens zu
sehr auf das destruktive Element. Es hat keine klaren aufbauenden Prinzipien,
die ihm die rechte Stoßkraft geben könnten. Dennoch kann man sich der Wahr¬
nehmung nicht verschließen, daß trotz der betonten Milde das neue Regierungs¬
system ohne Zwangsmaßregeln nicht wird bestehen können. Dieser Zwang wird
hauptsächlich diejenigen treffen, die, in der Starrheit eigensüchtiger Zwecke ver¬
schlossen, das Grundprinzip „einer sür alle" nicht annehmen wollen. Denn
dieses ist Fundament und Krone des Wellsschen Staatsgebäudes.

Um seiner Entstehung bis in die Wurzeln nachzugehen, dürfen wir nicht
in neueren oder älteren sozialistischen Systemen nachforschen. Vielmehr gibt
darüber ein späteres Buch Wells' Aufschluß — eine Zusammenstellung seines
philosophischen, sozialen und religiösen Glaubensbekenntnisses, das er „t^irst
Alla I^äst l'dlliM" genannt hat. Dort findet sich die Vertiefung des vorher
charakterisierten Gedankens des wirkenden guten Willens in der Annahme eines
„collective mira c>5 mariana", eines Menschheitsgeistes, dessen Analogie wir
verstreut da und dort begegnen, ich erinnere nur an die vergessene Philosophie
Gustav Theodor Fechners. Solche Analogien dürfen uns hier nicht kümmern,
weil die Synthesis von Wells' Gesamtwert deutlich zeigt, daß er diesen
Gesichtspunkt zur Betrachtung und Wertung der Menschheitsgeschicke selbst ge¬
funden hat:

„Die wesentliche Tatsache in der Geschichte des Menschen ist das langsame
Entfalten eines Bewußtseins der Gemeinschaft mit seinesgleichen, der Möglich¬
keiten eines Zusammenwirkens, die zu kaum geahnter Kollektivkrast führt. Es
zeigt sich so das werdende Verständnis sür eine Snnthesis der Gattung, für
einen allgemeinen Zweckgedanken, der sich aus der gegenwärtigen Verwirrung
heraushebt. In diesem Erwachen der Gattung lebt und webt unser persön¬
liches Dasein — ein Teil davon, der unaufhörlich dazu beisteuert. Unser in¬
dividuelles Sein ist nicht so ganz in sich verschlossen, wie es den Anschein hat.
Zwischen dir und mir, die wir unser Denken verschmelzen, sowie zwischen uns
und dem Rest der Menschheit ist ein Etwas, ein Wirkliches, das sich durch uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/188>, abgerufen am 01.09.2024.