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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Habslwrgs Sorgen

Armeereorganisation auch zu Ende zu führen. Heute von einem nahe bevor¬
stehenden Zerfall der Habsburgischen Monarchie sprechen und mit dieser Aussicht
politisch rechnen zu wollen, wie hier und da schon gefordert wird, dafür sind
keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Selbst wenn heute der greise Kaiser plötzlich
die Augen schlösse, hätten wir keinen ausreichenden Grund zu Pessimismus.
Seine Regierung hat in den mehr als sechs Jahrzehnten über die gekennzeich¬
neten Nationalitätenverhältnisse hinaus soviel Abhängigkeiten und Interessen¬
gemeinschaften geschaffen, die automatisch den Fortgang des Staatslebens regeln,
daß zunächst einmal alles beim alten bliebe. Der Staat käme erst in Gefahr,
wenn die Dynastie sich einem kriegerischen Imperialismus hingäbe, ehe es ihr
gelungen wäre, eine Formel für den Ausgleich der kulturellen Gegensätze der
Nationalitäten zu finden. Mich will es bedünken, daß die ganze geistige und>
moralische Kraft der Reichsregieruug sich darauf richten müßte, diese Formel
universell für alle Nationalitäten zu finden. Ob es ohne Beseitigung des
Dualismus oder durch Übergang zum reinen Föderativstaat möglich sein wird,
zu dieser Formel zu gelangen, bleibe dahingestellt.

In der Unberührtheit der Habsburgischen Politik durch den Mord zu
Serajewo liegt die schärfste Verurteilung des politischen Mordes überhaupt.
Ein politisches System sollte mitten ins Herz getroffen werden, -- in Wirklichkeit
ist nur eine Familie unglücklich geworden. Die Geschicke der Völker sind un¬
berührt geblieben; der Gang ihrer Entwicklung wird durch die Beseitigung des
bisherigen Thronfolgers nicht beeinflußt; er regelt sich nach Gesetzen, die jene
Sinnlosen nie begreifen werden.




Habslwrgs Sorgen

Armeereorganisation auch zu Ende zu führen. Heute von einem nahe bevor¬
stehenden Zerfall der Habsburgischen Monarchie sprechen und mit dieser Aussicht
politisch rechnen zu wollen, wie hier und da schon gefordert wird, dafür sind
keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Selbst wenn heute der greise Kaiser plötzlich
die Augen schlösse, hätten wir keinen ausreichenden Grund zu Pessimismus.
Seine Regierung hat in den mehr als sechs Jahrzehnten über die gekennzeich¬
neten Nationalitätenverhältnisse hinaus soviel Abhängigkeiten und Interessen¬
gemeinschaften geschaffen, die automatisch den Fortgang des Staatslebens regeln,
daß zunächst einmal alles beim alten bliebe. Der Staat käme erst in Gefahr,
wenn die Dynastie sich einem kriegerischen Imperialismus hingäbe, ehe es ihr
gelungen wäre, eine Formel für den Ausgleich der kulturellen Gegensätze der
Nationalitäten zu finden. Mich will es bedünken, daß die ganze geistige und>
moralische Kraft der Reichsregieruug sich darauf richten müßte, diese Formel
universell für alle Nationalitäten zu finden. Ob es ohne Beseitigung des
Dualismus oder durch Übergang zum reinen Föderativstaat möglich sein wird,
zu dieser Formel zu gelangen, bleibe dahingestellt.

In der Unberührtheit der Habsburgischen Politik durch den Mord zu
Serajewo liegt die schärfste Verurteilung des politischen Mordes überhaupt.
Ein politisches System sollte mitten ins Herz getroffen werden, — in Wirklichkeit
ist nur eine Familie unglücklich geworden. Die Geschicke der Völker sind un¬
berührt geblieben; der Gang ihrer Entwicklung wird durch die Beseitigung des
bisherigen Thronfolgers nicht beeinflußt; er regelt sich nach Gesetzen, die jene
Sinnlosen nie begreifen werden.




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[0016] Habslwrgs Sorgen Armeereorganisation auch zu Ende zu führen. Heute von einem nahe bevor¬ stehenden Zerfall der Habsburgischen Monarchie sprechen und mit dieser Aussicht politisch rechnen zu wollen, wie hier und da schon gefordert wird, dafür sind keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Selbst wenn heute der greise Kaiser plötzlich die Augen schlösse, hätten wir keinen ausreichenden Grund zu Pessimismus. Seine Regierung hat in den mehr als sechs Jahrzehnten über die gekennzeich¬ neten Nationalitätenverhältnisse hinaus soviel Abhängigkeiten und Interessen¬ gemeinschaften geschaffen, die automatisch den Fortgang des Staatslebens regeln, daß zunächst einmal alles beim alten bliebe. Der Staat käme erst in Gefahr, wenn die Dynastie sich einem kriegerischen Imperialismus hingäbe, ehe es ihr gelungen wäre, eine Formel für den Ausgleich der kulturellen Gegensätze der Nationalitäten zu finden. Mich will es bedünken, daß die ganze geistige und> moralische Kraft der Reichsregieruug sich darauf richten müßte, diese Formel universell für alle Nationalitäten zu finden. Ob es ohne Beseitigung des Dualismus oder durch Übergang zum reinen Föderativstaat möglich sein wird, zu dieser Formel zu gelangen, bleibe dahingestellt. In der Unberührtheit der Habsburgischen Politik durch den Mord zu Serajewo liegt die schärfste Verurteilung des politischen Mordes überhaupt. Ein politisches System sollte mitten ins Herz getroffen werden, — in Wirklichkeit ist nur eine Familie unglücklich geworden. Die Geschicke der Völker sind un¬ berührt geblieben; der Gang ihrer Entwicklung wird durch die Beseitigung des bisherigen Thronfolgers nicht beeinflußt; er regelt sich nach Gesetzen, die jene Sinnlosen nie begreifen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/16>, abgerufen am 01.09.2024.