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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Wandern

weiter, der abnehmende Mond steht hinter einem Campanile und lugt verständig
um die Ecke. Und der Wanderer pfeift leise dem Hund, und sie wandern fort,
von dem Häusel fort, den Weinberg hinab. Da sind hundert weiße Straßen
offen, ziellos, namenlos, rätselhaft, hundertfach lockt die Welt, stumme Rufe,
schweigende Romanzen klingen herüber, die Freiheit streicht als Wind über die
Felder, der Mais duftet, ein Nachttier pfeift. Sie schläft noch, die Liebende;
wenn sie die Sonne weckt, ist sie allein. Und der Wanderer lächelt einer anderen
zu. Auf seinen Lippen singt ein neuer Name. Und er denkt an die Dichter der Liebe.

Aber ist er nicht selber Dichter und Maler, der Wanderer? Sieht er die
Welt nicht neu, empfindet er nicht einziges und bleibt doch stumm? O seliges
Schweigen der Wanderschaft! Man lernt die Sprache der Vögel und versteht
die stummen Gedanken der Natur, den Sinn der Pflanzen und die Seele der
Landschaft.

Als schon der Neuschnee in den Alpen fiel, kehrte ich um. Ich stieg über
den Sankt Gotthard in den Norden zurück. Es war ein kalter, trüber, windiger
Abend. Airolo war leer, leer der Paß. Soldaten wachten vor den Kase¬
matten, und einzelne Arbeiter ruhten vom Tage, und der Sturm trocknete ihren
Schweiß. Wie einsam, wie schauervoll ist dieser Berg, so kahl, immer von
Lawinenresten bedeckt. Val Tremola, Val Tremola, Stätte unserer Sorgen.
Aller Gram, der je uns verlassen, scheint hierher geflüchtet, in diese Gotthard-
schlucht, wo nichts sonst lebt, und sucht uns hier wieder auf. Alle Geister,
die je in uns tobten, überfallen uns hier. Die Welt ist nackt im Val Tremola,
ein Schneebach durchrauscht sie. hier hat Gott verzweifelt, als er die Welt schuf.

Ich erreichte die Paßhöhe, dieses öde schmale Hochtal, es war später Abend,
Frost, und der dunkle See war bedeckt vom Eishauch. Aber das Hotel war
voll, die Ställe voll, die Hospize voll. Es war ein Samstag, und aus Airolo
und Hospental waren Vereine mit Kindern, Frauen, Liedern aufgebrochen, sich
gegenseitig zu besuchen. Man gab mir ein Lager in der Autogarage mit zwanzig
trunkenen Knechten. Da stand ich lieber auf und ging hinaus, um den See
herum, und fand eine Nische im Fels; da legte ich mich hin, und der Hund
wärmte mich. So lag ich in meiner letzten Wandernacht. Die Lichter in den
Häusern erloschen, Lärm und Lieder verstummten, unter mir glänzte der See
und oben Sterne, Sterne und ringsum der nackte Fels mit Schnee, der wie
Tücher zur Mondbleiche dalag. An was alles dachte ich! O Nächte im Heu,
Nachtigallen im Flieder, Mond zwischen Kastanien, Küsse im Weinberg, Blicke
an Gartenzäunen, Sehnsucht, Sehnsucht auf allen Wegen. Nun lag ich da,
mehr als zweitausend Meter über dem Tal, in einem Felsengrab, mit einem
tief atmenden Hund. Wer wußte, wo ich bin? Keines liebenden Menschen
Gedanke konnte mich hier erreichen. Ich war allein, ganz einsam. Und da
erfand ich einen neuen Namen für das große Glück des Menschen: Einsamkeit.
O Glück, o Glück, du Einsamkeit!




Wandern

weiter, der abnehmende Mond steht hinter einem Campanile und lugt verständig
um die Ecke. Und der Wanderer pfeift leise dem Hund, und sie wandern fort,
von dem Häusel fort, den Weinberg hinab. Da sind hundert weiße Straßen
offen, ziellos, namenlos, rätselhaft, hundertfach lockt die Welt, stumme Rufe,
schweigende Romanzen klingen herüber, die Freiheit streicht als Wind über die
Felder, der Mais duftet, ein Nachttier pfeift. Sie schläft noch, die Liebende;
wenn sie die Sonne weckt, ist sie allein. Und der Wanderer lächelt einer anderen
zu. Auf seinen Lippen singt ein neuer Name. Und er denkt an die Dichter der Liebe.

Aber ist er nicht selber Dichter und Maler, der Wanderer? Sieht er die
Welt nicht neu, empfindet er nicht einziges und bleibt doch stumm? O seliges
Schweigen der Wanderschaft! Man lernt die Sprache der Vögel und versteht
die stummen Gedanken der Natur, den Sinn der Pflanzen und die Seele der
Landschaft.

Als schon der Neuschnee in den Alpen fiel, kehrte ich um. Ich stieg über
den Sankt Gotthard in den Norden zurück. Es war ein kalter, trüber, windiger
Abend. Airolo war leer, leer der Paß. Soldaten wachten vor den Kase¬
matten, und einzelne Arbeiter ruhten vom Tage, und der Sturm trocknete ihren
Schweiß. Wie einsam, wie schauervoll ist dieser Berg, so kahl, immer von
Lawinenresten bedeckt. Val Tremola, Val Tremola, Stätte unserer Sorgen.
Aller Gram, der je uns verlassen, scheint hierher geflüchtet, in diese Gotthard-
schlucht, wo nichts sonst lebt, und sucht uns hier wieder auf. Alle Geister,
die je in uns tobten, überfallen uns hier. Die Welt ist nackt im Val Tremola,
ein Schneebach durchrauscht sie. hier hat Gott verzweifelt, als er die Welt schuf.

Ich erreichte die Paßhöhe, dieses öde schmale Hochtal, es war später Abend,
Frost, und der dunkle See war bedeckt vom Eishauch. Aber das Hotel war
voll, die Ställe voll, die Hospize voll. Es war ein Samstag, und aus Airolo
und Hospental waren Vereine mit Kindern, Frauen, Liedern aufgebrochen, sich
gegenseitig zu besuchen. Man gab mir ein Lager in der Autogarage mit zwanzig
trunkenen Knechten. Da stand ich lieber auf und ging hinaus, um den See
herum, und fand eine Nische im Fels; da legte ich mich hin, und der Hund
wärmte mich. So lag ich in meiner letzten Wandernacht. Die Lichter in den
Häusern erloschen, Lärm und Lieder verstummten, unter mir glänzte der See
und oben Sterne, Sterne und ringsum der nackte Fels mit Schnee, der wie
Tücher zur Mondbleiche dalag. An was alles dachte ich! O Nächte im Heu,
Nachtigallen im Flieder, Mond zwischen Kastanien, Küsse im Weinberg, Blicke
an Gartenzäunen, Sehnsucht, Sehnsucht auf allen Wegen. Nun lag ich da,
mehr als zweitausend Meter über dem Tal, in einem Felsengrab, mit einem
tief atmenden Hund. Wer wußte, wo ich bin? Keines liebenden Menschen
Gedanke konnte mich hier erreichen. Ich war allein, ganz einsam. Und da
erfand ich einen neuen Namen für das große Glück des Menschen: Einsamkeit.
O Glück, o Glück, du Einsamkeit!




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[0145] Wandern weiter, der abnehmende Mond steht hinter einem Campanile und lugt verständig um die Ecke. Und der Wanderer pfeift leise dem Hund, und sie wandern fort, von dem Häusel fort, den Weinberg hinab. Da sind hundert weiße Straßen offen, ziellos, namenlos, rätselhaft, hundertfach lockt die Welt, stumme Rufe, schweigende Romanzen klingen herüber, die Freiheit streicht als Wind über die Felder, der Mais duftet, ein Nachttier pfeift. Sie schläft noch, die Liebende; wenn sie die Sonne weckt, ist sie allein. Und der Wanderer lächelt einer anderen zu. Auf seinen Lippen singt ein neuer Name. Und er denkt an die Dichter der Liebe. Aber ist er nicht selber Dichter und Maler, der Wanderer? Sieht er die Welt nicht neu, empfindet er nicht einziges und bleibt doch stumm? O seliges Schweigen der Wanderschaft! Man lernt die Sprache der Vögel und versteht die stummen Gedanken der Natur, den Sinn der Pflanzen und die Seele der Landschaft. Als schon der Neuschnee in den Alpen fiel, kehrte ich um. Ich stieg über den Sankt Gotthard in den Norden zurück. Es war ein kalter, trüber, windiger Abend. Airolo war leer, leer der Paß. Soldaten wachten vor den Kase¬ matten, und einzelne Arbeiter ruhten vom Tage, und der Sturm trocknete ihren Schweiß. Wie einsam, wie schauervoll ist dieser Berg, so kahl, immer von Lawinenresten bedeckt. Val Tremola, Val Tremola, Stätte unserer Sorgen. Aller Gram, der je uns verlassen, scheint hierher geflüchtet, in diese Gotthard- schlucht, wo nichts sonst lebt, und sucht uns hier wieder auf. Alle Geister, die je in uns tobten, überfallen uns hier. Die Welt ist nackt im Val Tremola, ein Schneebach durchrauscht sie. hier hat Gott verzweifelt, als er die Welt schuf. Ich erreichte die Paßhöhe, dieses öde schmale Hochtal, es war später Abend, Frost, und der dunkle See war bedeckt vom Eishauch. Aber das Hotel war voll, die Ställe voll, die Hospize voll. Es war ein Samstag, und aus Airolo und Hospental waren Vereine mit Kindern, Frauen, Liedern aufgebrochen, sich gegenseitig zu besuchen. Man gab mir ein Lager in der Autogarage mit zwanzig trunkenen Knechten. Da stand ich lieber auf und ging hinaus, um den See herum, und fand eine Nische im Fels; da legte ich mich hin, und der Hund wärmte mich. So lag ich in meiner letzten Wandernacht. Die Lichter in den Häusern erloschen, Lärm und Lieder verstummten, unter mir glänzte der See und oben Sterne, Sterne und ringsum der nackte Fels mit Schnee, der wie Tücher zur Mondbleiche dalag. An was alles dachte ich! O Nächte im Heu, Nachtigallen im Flieder, Mond zwischen Kastanien, Küsse im Weinberg, Blicke an Gartenzäunen, Sehnsucht, Sehnsucht auf allen Wegen. Nun lag ich da, mehr als zweitausend Meter über dem Tal, in einem Felsengrab, mit einem tief atmenden Hund. Wer wußte, wo ich bin? Keines liebenden Menschen Gedanke konnte mich hier erreichen. Ich war allein, ganz einsam. Und da erfand ich einen neuen Namen für das große Glück des Menschen: Einsamkeit. O Glück, o Glück, du Einsamkeit!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/145>, abgerufen am 27.07.2024.