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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die energetische Naturauffassung

kleinere Masse besitzt, als dieses, bezeichnet man seither als Elektron und nennt
die ganze Theorie die Elektronentheorie. Die gegensätzliche Stellung dieser
Theorie gegenüber der überlieferten mechanistischen Naturauffassung und ihre
Bedeutung für unsere naturwissenschaftliche "Weltanschauung" überhaupt, leuchtet
ein, wenn wir bedenken, daß durch sie jenes alte Dogma dahinsinkt, das zwei¬
tausend Jahre lang, von Lucrez bis Lavoisier, das naturwissenschaftliche Denken
der Menschen beherrscht hatte, der Satz von der Unwandelbarkeit der Atome.
Die Lehre von der Unveränderlichkeit der chemischen Elemente, der Glaube,
daß deren Atome ganz einfacher, irreduzibler und unzerstörbarer Konstitution
seien, jedes Element von bestimmter Qualität, von denen keine auf die andere
zurückführbar sei, diese Grundüberzeugung unserer auf die mechanistische Natur¬
auffassung sich aufbauenden Chemie, muß dahinfallen! Wir haben bis vor
kurzem die Bestrebungen der alten Alchymisten verlacht, die aus anderen Stoffen
Gold machen wollten. Heute dürfen wir nicht mehr lachen. Denn wir be¬
haupten heute sehr viel mehr. Die Alchymisten wollten ein Element in ein
anderes überführen, wir aber erklären, daß alle, vermeintlich irreduziblcn,
chemischen Elemente sich auf ein einheitliches Urelement, die Elektronen, zurück¬
führen lassen. Unser Erkenntnistrieb erscheint durch diese "monistische" Natur¬
erklärung, der zufolge es nur ein Urelement gibt, besser befriedigt, als durch
den "Pluralismus" der alten Chemie mit ihren fünfundachtzig oder sechsund¬
achtzig chemischen Elementen.

Die Anhänger der Elektronentheorie behaupten nun, daß es sich nicht
nur bei der Elektrolyse, bei den radioaktiven Erscheinungen usw., sondern
bei allen Vorgängen in der Körperwelt um Bewegungen von Elektronen
handle. Und zwar ergibt die Theorie, daß es eine sehr merkwürdige Art von
Bewegung ist, die wir hier voraussetzen müssen. Wir müssen nämlich annehmen,
daß bei den Elektronen, die sich z. B. in den Kathodenstrahlen mit ungeheurer
Geschwindigkeit durch den Raum bewegen, die Trägheit mit der Beschleunigung
der Bewegung wächst. Die Trägheit der Elektronen und damit auch ihre Masse,
müßte also eine Funktion der Geschwindigkeit ihrer Bewegung sein. Die Masse
der Elektronen müßte zunehmen, wenn ich sie schneller bewegte. Das ist aber
eine unmögliche Annahme! Daß ein Ding lediglich dadurch, daß ich es schneller
bewege, an Materienmenge zunehmen sollte, ist ein unvollziehbarcr Gedanke.
Wenn uns also die Erscheinungen, die wir bei den Kathodenstrahlen beobachten,
zwingen, die Masse der Elektronen als mit deren Geschwindigkeit wachsend an¬
zunehmen, so folgt daraus, daß diese Masse nur eine scheinbare ist. Die Theorie
vermag diese Folgerung zu stützen. Sie zeigt nämlich, daß sich alle Erscheinungen,
zu deren Erklärung wir bisher Elektronen (also Elektrizitätseinheiten plus Masse)
angenommen haben, vollständig erklären lassen, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten
dabei zugrunde legen, wie sie zwischen masselosen reinen Elektrizitätsmengen¬
einheiten obwalten würden. Aus den anziehenden und abstoßenden Kräften,
die zwischen solchen reinen Elektrizitätsmengen wirksam sind, lassen sich alle jene


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Die energetische Naturauffassung

kleinere Masse besitzt, als dieses, bezeichnet man seither als Elektron und nennt
die ganze Theorie die Elektronentheorie. Die gegensätzliche Stellung dieser
Theorie gegenüber der überlieferten mechanistischen Naturauffassung und ihre
Bedeutung für unsere naturwissenschaftliche „Weltanschauung" überhaupt, leuchtet
ein, wenn wir bedenken, daß durch sie jenes alte Dogma dahinsinkt, das zwei¬
tausend Jahre lang, von Lucrez bis Lavoisier, das naturwissenschaftliche Denken
der Menschen beherrscht hatte, der Satz von der Unwandelbarkeit der Atome.
Die Lehre von der Unveränderlichkeit der chemischen Elemente, der Glaube,
daß deren Atome ganz einfacher, irreduzibler und unzerstörbarer Konstitution
seien, jedes Element von bestimmter Qualität, von denen keine auf die andere
zurückführbar sei, diese Grundüberzeugung unserer auf die mechanistische Natur¬
auffassung sich aufbauenden Chemie, muß dahinfallen! Wir haben bis vor
kurzem die Bestrebungen der alten Alchymisten verlacht, die aus anderen Stoffen
Gold machen wollten. Heute dürfen wir nicht mehr lachen. Denn wir be¬
haupten heute sehr viel mehr. Die Alchymisten wollten ein Element in ein
anderes überführen, wir aber erklären, daß alle, vermeintlich irreduziblcn,
chemischen Elemente sich auf ein einheitliches Urelement, die Elektronen, zurück¬
führen lassen. Unser Erkenntnistrieb erscheint durch diese „monistische" Natur¬
erklärung, der zufolge es nur ein Urelement gibt, besser befriedigt, als durch
den „Pluralismus" der alten Chemie mit ihren fünfundachtzig oder sechsund¬
achtzig chemischen Elementen.

Die Anhänger der Elektronentheorie behaupten nun, daß es sich nicht
nur bei der Elektrolyse, bei den radioaktiven Erscheinungen usw., sondern
bei allen Vorgängen in der Körperwelt um Bewegungen von Elektronen
handle. Und zwar ergibt die Theorie, daß es eine sehr merkwürdige Art von
Bewegung ist, die wir hier voraussetzen müssen. Wir müssen nämlich annehmen,
daß bei den Elektronen, die sich z. B. in den Kathodenstrahlen mit ungeheurer
Geschwindigkeit durch den Raum bewegen, die Trägheit mit der Beschleunigung
der Bewegung wächst. Die Trägheit der Elektronen und damit auch ihre Masse,
müßte also eine Funktion der Geschwindigkeit ihrer Bewegung sein. Die Masse
der Elektronen müßte zunehmen, wenn ich sie schneller bewegte. Das ist aber
eine unmögliche Annahme! Daß ein Ding lediglich dadurch, daß ich es schneller
bewege, an Materienmenge zunehmen sollte, ist ein unvollziehbarcr Gedanke.
Wenn uns also die Erscheinungen, die wir bei den Kathodenstrahlen beobachten,
zwingen, die Masse der Elektronen als mit deren Geschwindigkeit wachsend an¬
zunehmen, so folgt daraus, daß diese Masse nur eine scheinbare ist. Die Theorie
vermag diese Folgerung zu stützen. Sie zeigt nämlich, daß sich alle Erscheinungen,
zu deren Erklärung wir bisher Elektronen (also Elektrizitätseinheiten plus Masse)
angenommen haben, vollständig erklären lassen, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten
dabei zugrunde legen, wie sie zwischen masselosen reinen Elektrizitätsmengen¬
einheiten obwalten würden. Aus den anziehenden und abstoßenden Kräften,
die zwischen solchen reinen Elektrizitätsmengen wirksam sind, lassen sich alle jene


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[0127] Die energetische Naturauffassung kleinere Masse besitzt, als dieses, bezeichnet man seither als Elektron und nennt die ganze Theorie die Elektronentheorie. Die gegensätzliche Stellung dieser Theorie gegenüber der überlieferten mechanistischen Naturauffassung und ihre Bedeutung für unsere naturwissenschaftliche „Weltanschauung" überhaupt, leuchtet ein, wenn wir bedenken, daß durch sie jenes alte Dogma dahinsinkt, das zwei¬ tausend Jahre lang, von Lucrez bis Lavoisier, das naturwissenschaftliche Denken der Menschen beherrscht hatte, der Satz von der Unwandelbarkeit der Atome. Die Lehre von der Unveränderlichkeit der chemischen Elemente, der Glaube, daß deren Atome ganz einfacher, irreduzibler und unzerstörbarer Konstitution seien, jedes Element von bestimmter Qualität, von denen keine auf die andere zurückführbar sei, diese Grundüberzeugung unserer auf die mechanistische Natur¬ auffassung sich aufbauenden Chemie, muß dahinfallen! Wir haben bis vor kurzem die Bestrebungen der alten Alchymisten verlacht, die aus anderen Stoffen Gold machen wollten. Heute dürfen wir nicht mehr lachen. Denn wir be¬ haupten heute sehr viel mehr. Die Alchymisten wollten ein Element in ein anderes überführen, wir aber erklären, daß alle, vermeintlich irreduziblcn, chemischen Elemente sich auf ein einheitliches Urelement, die Elektronen, zurück¬ führen lassen. Unser Erkenntnistrieb erscheint durch diese „monistische" Natur¬ erklärung, der zufolge es nur ein Urelement gibt, besser befriedigt, als durch den „Pluralismus" der alten Chemie mit ihren fünfundachtzig oder sechsund¬ achtzig chemischen Elementen. Die Anhänger der Elektronentheorie behaupten nun, daß es sich nicht nur bei der Elektrolyse, bei den radioaktiven Erscheinungen usw., sondern bei allen Vorgängen in der Körperwelt um Bewegungen von Elektronen handle. Und zwar ergibt die Theorie, daß es eine sehr merkwürdige Art von Bewegung ist, die wir hier voraussetzen müssen. Wir müssen nämlich annehmen, daß bei den Elektronen, die sich z. B. in den Kathodenstrahlen mit ungeheurer Geschwindigkeit durch den Raum bewegen, die Trägheit mit der Beschleunigung der Bewegung wächst. Die Trägheit der Elektronen und damit auch ihre Masse, müßte also eine Funktion der Geschwindigkeit ihrer Bewegung sein. Die Masse der Elektronen müßte zunehmen, wenn ich sie schneller bewegte. Das ist aber eine unmögliche Annahme! Daß ein Ding lediglich dadurch, daß ich es schneller bewege, an Materienmenge zunehmen sollte, ist ein unvollziehbarcr Gedanke. Wenn uns also die Erscheinungen, die wir bei den Kathodenstrahlen beobachten, zwingen, die Masse der Elektronen als mit deren Geschwindigkeit wachsend an¬ zunehmen, so folgt daraus, daß diese Masse nur eine scheinbare ist. Die Theorie vermag diese Folgerung zu stützen. Sie zeigt nämlich, daß sich alle Erscheinungen, zu deren Erklärung wir bisher Elektronen (also Elektrizitätseinheiten plus Masse) angenommen haben, vollständig erklären lassen, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten dabei zugrunde legen, wie sie zwischen masselosen reinen Elektrizitätsmengen¬ einheiten obwalten würden. Aus den anziehenden und abstoßenden Kräften, die zwischen solchen reinen Elektrizitätsmengen wirksam sind, lassen sich alle jene 8*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/127>, abgerufen am 27.07.2024.