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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vorstellung hat. Es treibt ihn zum Drama eben doch nicht die tiefste
Leidenschaft; der dramatische Urtrieb, Menschen rein zu gestalten, nicht
etwa nur durch erzählenden Bericht sich der Gestaltung anzunähern: dieser
Trieb ist ihm trotz seinen Beteuerungen fremd. Es gelingt ihm in der
Regel besser, Menschen individuell zu zeichnen, wenn er die umschreibenden
Mittel der Erzählung zu Hilfe nehmen kann. Das Hinundherüberlegen, auf
das er sich beruft, ist keineswegs ein Zeichen unmittelbarer Sicherheit. Und
wenn Heyse gar betont, daß er jahrelang zwei seiner theaterkundigsten Freunde,
Ernst Wiehert und Ludwig Schneegans, um ihre Meinung und ihre Ratschläge
für dramatische Pläne befragt habe, so kann es uns vollends nicht zweifelhaft
sein, daß dieser Poet ein eigentlicher Dramatiker doch nicht war. Gleichwohl
hat Heyse unter seinen Tragödien mehrere schöne Dichtungen: "Hadrian" (1865),
"Elfride" (1877; der Schluß freilich fällt ab), "Die Tochter der Semiramis"
(1897). Diese Werke überwältigen und bezwingen nicht, aber sie ergreifen doch.
Und im nichttragischen Schauspiel ist dem Dichter mindestens einmal ein voller
Wurf gelungen: "Hans Lange" (1864) -- hier bietet Heyse das für die
Bühne, was etwa Willibald Alexis im vaterländischen Roman gibt. Freilich
-- wenn irgendwo, so hat Heyse auf dramatischem Gebiet zu sehr dem Spiel¬
trieb Raum gegeben und zu Vielfaches schaffen wollen. Seine jugendliche
Tragödie "Meleager" ist in der Diktion ganz und gar von Goethe inspiriert,
und selbst das lebensvolle antikisierende Puppenspiel "Perseus" trägt allzusehr
die Zeichen der gleichen Abkunft. Das Schauspiel "Ludwig der Baier" (1862)
steht deutlich unter dem Einfluß von Grillparzers "König Ottokar", und diese
Abhängigkeit schädigt auch die selbständigen Teile des Stückes, die Auseinander¬
setzungen zwischen den beiden Rivalen Ludwig von Baiern und Friedrich von
Österreich. "Colberg" ist gewiß ein gutes vaterländisches Festspiel, aber die
Wirkung wird beeinträchtigt durch die spielerische- plötzliche Einfügung des Knittel¬
verses nach Wallensteinischem Muster. Und ein in der Anlage nicht schlechtes
Stück wie "Mutter und Tochter" (aus den letzten Jahren Heyses) wirkt nur
wie die Skizze zu einem Drama. Wenn irgendwo, so hätte Heyse auf
dramatischem Gebiet durch Beschränkung der Produktion seine Kraft konzentrieren
sollen.

Das ist ihm nicht gelungen, und am ehesten wird man unter seinen Dramen
Werke herausfinden, die epigonisch im schlechten Sinne genannt werden können.
Gleichwohl wäre es ganz falsch und ungerecht, bei diesem Tadel beharren zu
wollen. Paul Heyse war eine der unendlich produktiven Begabungen unseres
Volkes, die, wie vor ihm besonders Wieland und Tieck, eine Höhe der Kultur
darstellen. Als geistige Macht war er den beiden eben Genannten gewiß
nicht überlegen, aber er war als poetischer Schöpfer auf seinen Gebieten
selbständiger als Wieland und in der formellen Geschlossenheit seiner Werke
Tieck bei weitem voraus. Was er in der Geschichte unserer Dichtung bedeute,
empfindet heute jeder Kritiker, welcher Partei er auch angehöre. Heyses Be-


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Vorstellung hat. Es treibt ihn zum Drama eben doch nicht die tiefste
Leidenschaft; der dramatische Urtrieb, Menschen rein zu gestalten, nicht
etwa nur durch erzählenden Bericht sich der Gestaltung anzunähern: dieser
Trieb ist ihm trotz seinen Beteuerungen fremd. Es gelingt ihm in der
Regel besser, Menschen individuell zu zeichnen, wenn er die umschreibenden
Mittel der Erzählung zu Hilfe nehmen kann. Das Hinundherüberlegen, auf
das er sich beruft, ist keineswegs ein Zeichen unmittelbarer Sicherheit. Und
wenn Heyse gar betont, daß er jahrelang zwei seiner theaterkundigsten Freunde,
Ernst Wiehert und Ludwig Schneegans, um ihre Meinung und ihre Ratschläge
für dramatische Pläne befragt habe, so kann es uns vollends nicht zweifelhaft
sein, daß dieser Poet ein eigentlicher Dramatiker doch nicht war. Gleichwohl
hat Heyse unter seinen Tragödien mehrere schöne Dichtungen: „Hadrian" (1865),
„Elfride" (1877; der Schluß freilich fällt ab), „Die Tochter der Semiramis"
(1897). Diese Werke überwältigen und bezwingen nicht, aber sie ergreifen doch.
Und im nichttragischen Schauspiel ist dem Dichter mindestens einmal ein voller
Wurf gelungen: „Hans Lange" (1864) — hier bietet Heyse das für die
Bühne, was etwa Willibald Alexis im vaterländischen Roman gibt. Freilich
— wenn irgendwo, so hat Heyse auf dramatischem Gebiet zu sehr dem Spiel¬
trieb Raum gegeben und zu Vielfaches schaffen wollen. Seine jugendliche
Tragödie „Meleager" ist in der Diktion ganz und gar von Goethe inspiriert,
und selbst das lebensvolle antikisierende Puppenspiel „Perseus" trägt allzusehr
die Zeichen der gleichen Abkunft. Das Schauspiel „Ludwig der Baier" (1862)
steht deutlich unter dem Einfluß von Grillparzers „König Ottokar", und diese
Abhängigkeit schädigt auch die selbständigen Teile des Stückes, die Auseinander¬
setzungen zwischen den beiden Rivalen Ludwig von Baiern und Friedrich von
Österreich. „Colberg" ist gewiß ein gutes vaterländisches Festspiel, aber die
Wirkung wird beeinträchtigt durch die spielerische- plötzliche Einfügung des Knittel¬
verses nach Wallensteinischem Muster. Und ein in der Anlage nicht schlechtes
Stück wie „Mutter und Tochter" (aus den letzten Jahren Heyses) wirkt nur
wie die Skizze zu einem Drama. Wenn irgendwo, so hätte Heyse auf
dramatischem Gebiet durch Beschränkung der Produktion seine Kraft konzentrieren
sollen.

Das ist ihm nicht gelungen, und am ehesten wird man unter seinen Dramen
Werke herausfinden, die epigonisch im schlechten Sinne genannt werden können.
Gleichwohl wäre es ganz falsch und ungerecht, bei diesem Tadel beharren zu
wollen. Paul Heyse war eine der unendlich produktiven Begabungen unseres
Volkes, die, wie vor ihm besonders Wieland und Tieck, eine Höhe der Kultur
darstellen. Als geistige Macht war er den beiden eben Genannten gewiß
nicht überlegen, aber er war als poetischer Schöpfer auf seinen Gebieten
selbständiger als Wieland und in der formellen Geschlossenheit seiner Werke
Tieck bei weitem voraus. Was er in der Geschichte unserer Dichtung bedeute,
empfindet heute jeder Kritiker, welcher Partei er auch angehöre. Heyses Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/50>, abgerufen am 24.07.2024.