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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Der bekämpfte Nietzsche

Simmel zufrieden ist und deutet: "Der Übermensch ist nichts als die Kristall¬
form des Gedankens, daß der Mensch sich über sein Gegenwartsstadium hinauf¬
entwickeln kann und also soll", da zitiert Otto Ernst hohnlächelnd das Sprich¬
wort von den kreißenden Bergen und fährt mit kostbarer Ahnungslosigkeit fort:
"Man kann Simmeln keinen Vorwurf daraus machen; es ist beim besten Willen
nicht mehr herauszukriegen. Keiner wird mehr herausbringen" (S. 92). Der
gesunde Menschenverstand will klar sehen; er will Bescheid wissen, er will die
Nutzanwendung auf sein eigenes praktisches Leben machen. Gebt ihr euch einmal
als Propheten, so sagt mir, was ich tun soll, sagt es genau, bestimmt, ein¬
deutig; sagt es mit der Klarheit des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder einer preußischen
Dienstvorschrift!

Mit dieser Methode kann man von Buddha bis Tolstoi alle Propheten
der Menschheit als unklare Köpfe und Scharlatane erweisen. Aber gesetzt selbst,
sämtliche Resultate Nietzsches wären unhaltbar; was will das besagen? Nietzsches
Bedeutung -- wir andern wissen es, aber Otto Ernst muß man es sagen --
beruht gar nicht auf seinen Antworten, sondern auf seinen Fragen. Die Pro¬
bleme, die er aufgerissen hat wie blutende Wunden, sind nun einmal unsere
Probleme und werden die Probleme der nächsten Jahrhunderte sein. In ihnen
allein, und nicht in den Lösungsversuchen, liegt Nietzsches Höhe und Tiefe, in
ihnen seine Logik und Konsequenz, in ihnen Klarheit und Bestimmtheit, in
ihnen vor allem, trotz der "amoralistischen" Tendenz, das ethisch Aufrüttelnde
und stärkende. Aber freilich, wer die Angst dieser Fragen niemals selbst
empfunden hat, zu wem diese dröhnenden Rufe nicht gedrungen sind, der hat
keine Ahnung, weder warum Nietzsche einer der Größten seines Jahrhunderts,
noch warum er ein tragischer Mensch ist, noch endlich, warum wir ihn mit¬
samt seinen Widersprüchen. Übertreibungen, Unklarheiten verehren und diese
große Scheu am Rande des Abgrundes so inbrünstig lieben.

Wenn Otto Ernst sich neben dem Hauptthema seines Buches gegen un¬
berufene Anhänger Nietzsches wendet, so würde man ihm gerne beistimmen.
Daß unser literarisches, und nicht nur unser literarisches Leben an Erscheinungen
der Kulturlosigkeit, der Roheit, der Unehrlichkeit, der aufgeblasenen Unwichtig-
keit einen bösen Überfluß hat, wissen wir alle. Ein Strafgericht täte not, und
Zarathustra von der üblen Gefolgschaft der Kaffeehausritter zu befreien, wäre
verdienstlich. Aber diese Tat muß nicht gegen Nietzsche, sondern im Namen
Nietzsches vollbracht werden, von einem, der Ehrfurcht vor dem Meister hat,
und der nicht keifend und scheltend hinter seinem Zuge dreinläuft, sondern ihm
voranschreitet, weil auch er einen Hauch der ungeheuren Stärkung und Be¬
lehrung empfindet, mit der dieser eine, kranke, kurzsichtige, einsame Mann die
ganze europäische Jugend durchdrungen hat.




Der bekämpfte Nietzsche

Simmel zufrieden ist und deutet: „Der Übermensch ist nichts als die Kristall¬
form des Gedankens, daß der Mensch sich über sein Gegenwartsstadium hinauf¬
entwickeln kann und also soll", da zitiert Otto Ernst hohnlächelnd das Sprich¬
wort von den kreißenden Bergen und fährt mit kostbarer Ahnungslosigkeit fort:
„Man kann Simmeln keinen Vorwurf daraus machen; es ist beim besten Willen
nicht mehr herauszukriegen. Keiner wird mehr herausbringen" (S. 92). Der
gesunde Menschenverstand will klar sehen; er will Bescheid wissen, er will die
Nutzanwendung auf sein eigenes praktisches Leben machen. Gebt ihr euch einmal
als Propheten, so sagt mir, was ich tun soll, sagt es genau, bestimmt, ein¬
deutig; sagt es mit der Klarheit des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder einer preußischen
Dienstvorschrift!

Mit dieser Methode kann man von Buddha bis Tolstoi alle Propheten
der Menschheit als unklare Köpfe und Scharlatane erweisen. Aber gesetzt selbst,
sämtliche Resultate Nietzsches wären unhaltbar; was will das besagen? Nietzsches
Bedeutung — wir andern wissen es, aber Otto Ernst muß man es sagen —
beruht gar nicht auf seinen Antworten, sondern auf seinen Fragen. Die Pro¬
bleme, die er aufgerissen hat wie blutende Wunden, sind nun einmal unsere
Probleme und werden die Probleme der nächsten Jahrhunderte sein. In ihnen
allein, und nicht in den Lösungsversuchen, liegt Nietzsches Höhe und Tiefe, in
ihnen seine Logik und Konsequenz, in ihnen Klarheit und Bestimmtheit, in
ihnen vor allem, trotz der „amoralistischen" Tendenz, das ethisch Aufrüttelnde
und stärkende. Aber freilich, wer die Angst dieser Fragen niemals selbst
empfunden hat, zu wem diese dröhnenden Rufe nicht gedrungen sind, der hat
keine Ahnung, weder warum Nietzsche einer der Größten seines Jahrhunderts,
noch warum er ein tragischer Mensch ist, noch endlich, warum wir ihn mit¬
samt seinen Widersprüchen. Übertreibungen, Unklarheiten verehren und diese
große Scheu am Rande des Abgrundes so inbrünstig lieben.

Wenn Otto Ernst sich neben dem Hauptthema seines Buches gegen un¬
berufene Anhänger Nietzsches wendet, so würde man ihm gerne beistimmen.
Daß unser literarisches, und nicht nur unser literarisches Leben an Erscheinungen
der Kulturlosigkeit, der Roheit, der Unehrlichkeit, der aufgeblasenen Unwichtig-
keit einen bösen Überfluß hat, wissen wir alle. Ein Strafgericht täte not, und
Zarathustra von der üblen Gefolgschaft der Kaffeehausritter zu befreien, wäre
verdienstlich. Aber diese Tat muß nicht gegen Nietzsche, sondern im Namen
Nietzsches vollbracht werden, von einem, der Ehrfurcht vor dem Meister hat,
und der nicht keifend und scheltend hinter seinem Zuge dreinläuft, sondern ihm
voranschreitet, weil auch er einen Hauch der ungeheuren Stärkung und Be¬
lehrung empfindet, mit der dieser eine, kranke, kurzsichtige, einsame Mann die
ganze europäische Jugend durchdrungen hat.




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[0428] Der bekämpfte Nietzsche Simmel zufrieden ist und deutet: „Der Übermensch ist nichts als die Kristall¬ form des Gedankens, daß der Mensch sich über sein Gegenwartsstadium hinauf¬ entwickeln kann und also soll", da zitiert Otto Ernst hohnlächelnd das Sprich¬ wort von den kreißenden Bergen und fährt mit kostbarer Ahnungslosigkeit fort: „Man kann Simmeln keinen Vorwurf daraus machen; es ist beim besten Willen nicht mehr herauszukriegen. Keiner wird mehr herausbringen" (S. 92). Der gesunde Menschenverstand will klar sehen; er will Bescheid wissen, er will die Nutzanwendung auf sein eigenes praktisches Leben machen. Gebt ihr euch einmal als Propheten, so sagt mir, was ich tun soll, sagt es genau, bestimmt, ein¬ deutig; sagt es mit der Klarheit des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder einer preußischen Dienstvorschrift! Mit dieser Methode kann man von Buddha bis Tolstoi alle Propheten der Menschheit als unklare Köpfe und Scharlatane erweisen. Aber gesetzt selbst, sämtliche Resultate Nietzsches wären unhaltbar; was will das besagen? Nietzsches Bedeutung — wir andern wissen es, aber Otto Ernst muß man es sagen — beruht gar nicht auf seinen Antworten, sondern auf seinen Fragen. Die Pro¬ bleme, die er aufgerissen hat wie blutende Wunden, sind nun einmal unsere Probleme und werden die Probleme der nächsten Jahrhunderte sein. In ihnen allein, und nicht in den Lösungsversuchen, liegt Nietzsches Höhe und Tiefe, in ihnen seine Logik und Konsequenz, in ihnen Klarheit und Bestimmtheit, in ihnen vor allem, trotz der „amoralistischen" Tendenz, das ethisch Aufrüttelnde und stärkende. Aber freilich, wer die Angst dieser Fragen niemals selbst empfunden hat, zu wem diese dröhnenden Rufe nicht gedrungen sind, der hat keine Ahnung, weder warum Nietzsche einer der Größten seines Jahrhunderts, noch warum er ein tragischer Mensch ist, noch endlich, warum wir ihn mit¬ samt seinen Widersprüchen. Übertreibungen, Unklarheiten verehren und diese große Scheu am Rande des Abgrundes so inbrünstig lieben. Wenn Otto Ernst sich neben dem Hauptthema seines Buches gegen un¬ berufene Anhänger Nietzsches wendet, so würde man ihm gerne beistimmen. Daß unser literarisches, und nicht nur unser literarisches Leben an Erscheinungen der Kulturlosigkeit, der Roheit, der Unehrlichkeit, der aufgeblasenen Unwichtig- keit einen bösen Überfluß hat, wissen wir alle. Ein Strafgericht täte not, und Zarathustra von der üblen Gefolgschaft der Kaffeehausritter zu befreien, wäre verdienstlich. Aber diese Tat muß nicht gegen Nietzsche, sondern im Namen Nietzsches vollbracht werden, von einem, der Ehrfurcht vor dem Meister hat, und der nicht keifend und scheltend hinter seinem Zuge dreinläuft, sondern ihm voranschreitet, weil auch er einen Hauch der ungeheuren Stärkung und Be¬ lehrung empfindet, mit der dieser eine, kranke, kurzsichtige, einsame Mann die ganze europäische Jugend durchdrungen hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/428>, abgerufen am 05.07.2024.