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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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ein ganz typischer Vorgang: auf die gänzliche Nichtbeachtung bei seinen Leb¬
zeiten folgte die Epoche der großen Schätzung, vielleicht Überschätzung, und
diese ruft den Widerspruch und die Unterschätzung hervor. Nach einigen
Jahrzehnten des Streites wird sich dann die Gleichgewichtslage wahrscheinlich
herstellen.

Daß die Gegner, die vor den prasselnden Geschossen seiner Paradoxe hatten
zurückweichen müssen, zum Gegenangriff schreiten würden, war vorauszusehen.
Sie werden unterstützt durch manche Zeitströmungen, da ein beschränkter und
lärmender Chauvinismus, ein frömmelnder Obskurantismus, ein nebelhafter
Mystizismus und Symbolismus, kurz alles, wogegen sich Nietzsche sein Lebenlang
mit Zorn und Ekel gewehrt hatte, wieder mächtig anzuwachsen scheint. Es war
zu erwarten, daß ihm gewisse Leute seinen Angriff auf das Christentum, auf
die sogenannte Moral und auf eine bestimmte Kategorie von Deutschen heim¬
zahlen würden. Diese Zeit ist jetzt gekommen, und man darf voraussagen, daß
der Lärm noch lauter werden wird.

Der fröhliche Otto Ernst, der so grob werden kann, gehört nun freilich
weder zu den Chauvinisten noch zu den Obskuranten noch zu den Mystikern.
Er gehört zu einer viel ungefährlicherer Klasse von Nietzsche-Gegnern: zu den
Leuten mit dem gesunden Menschenverstand. Diese Gabe Gottes ist in vielen
Lebenslagen schätzbar; gegenüber dem Außerordentlichen versagt sie. Der gesunde
Menschenverstand ist zunächst einmal alles andere eher als ein philosophisches
Organ, und es gewährt großes Vergnügen zu lesen, wie Otto Ernst, dieser
philosophische Widersacher eines Philosophen, unbefangen und mit gutem Ge¬
wisse" gesteht, daß Leute, die sich um eine so ungewisse Sache wie Kants Ding
an sich bemühen, ihm lächerlich vorkommen (S. 12). Es ist also kein Wunder,
wenn "unser Philosoph" (um in seiner Weise zu reden) in seinen Deduktionen
so fundamentale Fehler begeht, wie die Verwechslung der Kantischen Begriffe
Schein und Erscheinung (S. 10). Auf diesen Unphilosophen haben wir nicht
gewartet, um uns beweisen zu lassen, daß Nietzsche kein Philosoph im strengen
Sinne, d. h. kein Erkenntnistheoretiker, sei. Mit seiner Bedeutung aber haben
solche, längst ausgesprochene Feststellungen gar nichts zu tun.

Der Mann urit dem gesunden Menschenverstand fühlt seinem Opfer gründlich
auf den Zahn. Er tut es so, wie etwa ein Deutschlehrer Aufsätze korrigiert.
An den Stil freilich wagt er sich nicht heran, und das mit Recht; denn wer
so gräßliche Wortbildungen wie Nietzscheaner, Nietzscheanismus, Antinietzscheanisches
zu schreiben vermag, ohne daß sich ihm die Feder staucht, wird sich von Nietzsches
Sprachkunst respektvoll fernhalten. Aber mit der Logik hat er es fortwährend
und bedeckt diese Aufsatzexerzitien, mitsamt dem "Zarathustra", mit dicken roten
Strichen. Denn der Schulmeister mit seinem gesunden Menschenverstand, der
beständig von Nietzsches "Perioden" spricht, will immer genau wissen, wie er
daran ist. Widersprüche ärgern ihn; Undeutlichkeiten regen ihn auf. Der
Begriff des Übermenschen ist ihm zu unklar, und wo ein so kritischer Kopf wie


ein ganz typischer Vorgang: auf die gänzliche Nichtbeachtung bei seinen Leb¬
zeiten folgte die Epoche der großen Schätzung, vielleicht Überschätzung, und
diese ruft den Widerspruch und die Unterschätzung hervor. Nach einigen
Jahrzehnten des Streites wird sich dann die Gleichgewichtslage wahrscheinlich
herstellen.

Daß die Gegner, die vor den prasselnden Geschossen seiner Paradoxe hatten
zurückweichen müssen, zum Gegenangriff schreiten würden, war vorauszusehen.
Sie werden unterstützt durch manche Zeitströmungen, da ein beschränkter und
lärmender Chauvinismus, ein frömmelnder Obskurantismus, ein nebelhafter
Mystizismus und Symbolismus, kurz alles, wogegen sich Nietzsche sein Lebenlang
mit Zorn und Ekel gewehrt hatte, wieder mächtig anzuwachsen scheint. Es war
zu erwarten, daß ihm gewisse Leute seinen Angriff auf das Christentum, auf
die sogenannte Moral und auf eine bestimmte Kategorie von Deutschen heim¬
zahlen würden. Diese Zeit ist jetzt gekommen, und man darf voraussagen, daß
der Lärm noch lauter werden wird.

Der fröhliche Otto Ernst, der so grob werden kann, gehört nun freilich
weder zu den Chauvinisten noch zu den Obskuranten noch zu den Mystikern.
Er gehört zu einer viel ungefährlicherer Klasse von Nietzsche-Gegnern: zu den
Leuten mit dem gesunden Menschenverstand. Diese Gabe Gottes ist in vielen
Lebenslagen schätzbar; gegenüber dem Außerordentlichen versagt sie. Der gesunde
Menschenverstand ist zunächst einmal alles andere eher als ein philosophisches
Organ, und es gewährt großes Vergnügen zu lesen, wie Otto Ernst, dieser
philosophische Widersacher eines Philosophen, unbefangen und mit gutem Ge¬
wisse« gesteht, daß Leute, die sich um eine so ungewisse Sache wie Kants Ding
an sich bemühen, ihm lächerlich vorkommen (S. 12). Es ist also kein Wunder,
wenn „unser Philosoph" (um in seiner Weise zu reden) in seinen Deduktionen
so fundamentale Fehler begeht, wie die Verwechslung der Kantischen Begriffe
Schein und Erscheinung (S. 10). Auf diesen Unphilosophen haben wir nicht
gewartet, um uns beweisen zu lassen, daß Nietzsche kein Philosoph im strengen
Sinne, d. h. kein Erkenntnistheoretiker, sei. Mit seiner Bedeutung aber haben
solche, längst ausgesprochene Feststellungen gar nichts zu tun.

Der Mann urit dem gesunden Menschenverstand fühlt seinem Opfer gründlich
auf den Zahn. Er tut es so, wie etwa ein Deutschlehrer Aufsätze korrigiert.
An den Stil freilich wagt er sich nicht heran, und das mit Recht; denn wer
so gräßliche Wortbildungen wie Nietzscheaner, Nietzscheanismus, Antinietzscheanisches
zu schreiben vermag, ohne daß sich ihm die Feder staucht, wird sich von Nietzsches
Sprachkunst respektvoll fernhalten. Aber mit der Logik hat er es fortwährend
und bedeckt diese Aufsatzexerzitien, mitsamt dem „Zarathustra", mit dicken roten
Strichen. Denn der Schulmeister mit seinem gesunden Menschenverstand, der
beständig von Nietzsches „Perioden" spricht, will immer genau wissen, wie er
daran ist. Widersprüche ärgern ihn; Undeutlichkeiten regen ihn auf. Der
Begriff des Übermenschen ist ihm zu unklar, und wo ein so kritischer Kopf wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/427>, abgerufen am 04.07.2024.